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Cressida Benign war so ziemlich der unsympathischste Mensch, dem ich bis jetzt begegnet war. Ich war mir nicht sicher woran das lag, doch ich hatte so eine Ahnung, dass es etwas mit ihren beängstigend dunklen und unlesbaren Augen und ihrem schwarz, weißem Haar, das stark an Cruella De Vils Frisur erinnerte, zu tun hatte. Möglicherweise spielten auch ihre kühle Art und ihre arrogant klingende Stimme eine Rolle bei dem ganzen. Vielleicht konnte ich sie aber auch nur nicht ausstehen, weil sie mir schon bei unserem ersten Treffen klar und deutlich signalisiert hatte, dass ich nicht gerade das war, was sie als geeignet für den Job als persönliche Assistentin befand.
Das könnte wiederum daran liegen, dass wir uns unter nicht gerade idealen Bedingungen (für mich) kennenlernten. Ich meine, ich saß auf Harrys Schultern, hielt Nialls Hand und trug nur einen Bikini – an diesem Satz fielen sogar mir ein paar Details auf, die nicht gerade mit meinem Vorsatz, ein wenig auf Abstand zu den Jungs zu gehen, harmonierten. Und Cressida schien das ebenso zu sehen, weshalb es mich auch nicht gewundert hatte, als sie mich dazu aufgefordert hatte, von Harrys Schultern zu kommen, aus dem Pool zu steigen, mir etwas anzuziehen und sie dann in dem großen Konferenzraum des Hotels zu treffen.
Und genau dort saß ich nun auch und spielte nervös mit dem Saum meines Shirts. Seit einer geschlagenen Viertelstunde starrten Cressida und ich uns schon schweigend an. Obwohl dank des langen Konferenzstiches eine gewisse Distanz zwischen uns herrschte, könnte ich dennoch schwören, dass sie mein Herz rasen hören und die Anspannung zwischen uns fühlen musste. Letzteres konnte ich zumindest so deutlich spüren, dass ich das Gefühl hatte, sie anfassen zu können, was mich gleich noch nervöser machte. Ebenso wie dieses penetrante Schweigen, das von Sekunde zu Sekunde schwerer auf meinen Schultern zu lasten schien.
Ich wusste nicht, ob Cressida das hier tat, weil es ihre Art war oder weil sie bewusst mit meiner Psyche spielen wollte. Was auch immer es war, es brachte mich dazu, am liebsten aufzustehen und aus dem Raum zu stürmen. Doch das tat ich nicht. Zum einen, weil ich wusste, dass ich irgendwann dieses Gespräch mit ihr führen musste und zum anderen, weil das den Eindruck, den sie bisher von mir hatte, wohl kaum verbessern würde. Und wenn es eines gab, das ich in meiner jetzigen Position nicht ausprobieren wollte, dann war es, mich noch unbeliebter bei ihr zu machen. Denn das würde meinem Bestreben, ihr zumindest so neutral gegenüberstehen zu können, dass ich nicht mehr die Befürchtung haben musste, dass mein Job innerhalb von einem Augenblinzeln weg sein könnte, einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen. Und das wäre dann wohl alles andere als vorteilhaft für mich.
Doch auch, wenn meine momentane Situation nicht gerade die beste war, in der ich mich je befand, war ich fest entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich wusste, dass ich meinen Job gut machte, dass das Verhältnis zu den Jungs noch niemals irgendeine berufliche Entscheidung von mir beeinflusst hatte und dass zumindest ein Teil des restlichen Teams hinter mir stand, um mich – wenn nötig – zu unterstützen. Und ich wusste auch, dass Modest mich mit Cressida nur verunsichern wollte. Sie war nur ein weiteres der zahlreichen Mittel, die sie immer dann einsetzten, wenn etwas einmal nicht nach ihren Vorstellungen lief.
Zugegeben, sie war in der Tat ziemlich angsteinflößend und beunruhigend, aber ich würde mich dennoch nicht von ihr beunruhigen lassen. Das war zumindest mein Plan. Allerdings wies der schon eine Sekunde später einen großen Makel auf, als sich Cressida lautstark räusperte und mich damit vor Anspannung zusammenzucken ließ. Noch deutlicher hätte ich ihr wohl kaum zeigen können, dass sie ihre Arbeit bisher bestens ausführte. Doch sie ließ sich ihren ersten Triumph nicht anmerken, als sie sich erneut räusperte, bevor sie endlich das Schweigen zwischen uns brach.
„Nun, Miss Geller." Sie musterte mein Gesicht mit einem unergründlichen Blick. „Sie wissen doch sicher, warum ich hier bin, oder?"
„Nein", erwiderte ich leise und löste mich aus meiner Starre, um meinen Kopf zu schütteln. „Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht."
„Aber Sie haben doch mit Sicherheit eine Vermutung." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dennoch wartete sie darauf, dass ich nickte, bevor sie weitersprach: „Und wie sieht diese aus?"
Zögernd sah ich sie an. „Ich denke, es ist besser, wenn Sie mir einfach verraten, warum Sie hier sind."
„Ich würde aber viel lieber hören, was Sie glauben, warum ich hier bin." Sie warf mir ein falsches Lächeln zu. „Sie können also gewissermaßen behaupten, dass ich sogar auf Ihre Antwort bestehe, Miss Geller."
Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nichts Unüberlegtes zu antworten, weshalb ich zuerst ein paar Mal ein und aus atmete, bevor ich sagte: „Ich glaube, Sie sind hier, weil Sie etwas herausfinden sollen."
„Und was denken Sie, was ich herausfinden soll?"
Ich dachte kurz über meine nächsten Worte nach. „Ich bin mir nicht sicher."
„Aber Sie haben erneut eine Vermutung. Sehe ich das richtig?"
Ich hielt ihrem Blick eisern Stand. „Ja."
„Wären Sie wohl so freundlich und würden mir diese erläutern?"
Ich presste meine Lippen aufeinander und wollte gerade meinen Blick von ihr abwenden, als ihr Mundwinkeln plötzlich zuckte. Es war eine schnelle, kaum merkliche Regung gewesen, doch sie genügte aus, um mich endlich begreifen zu lassen, dass Cressida das hier tatsächlich zu genießen schien. Dass es ihr zu gefallen schien, dass sie mich so unter Kontrolle hatte und mich verhören konnte. Und genau das war auch die Erkenntnis, die mich dazu brachte, jegliche Vorsicht, alle Bedenken und vor allem den viel zu großen Respekt, den ich von Anfang an vor ihr hatte, über Bord zu werfen und endlich ein wenig in die Offensive zu gehen.
Mit einem Blick, der ihr nicht deutlicher hätte sagen können, was ich von dem ganzen hier hielt, verschränkte ich die Arme vor der Brust und meinte: „Warum verraten Sie mir nicht einfach, warum Sie hier sind und was genau Sie von mir wollen, Mrs Benign? Dann könnten wie dieses Spielchen hier nämlich sein lassen und endlich zum eigentlichen Grund dieser Unterhaltung kommen."
Sichtlich überrascht zog Cressida ihre Augenbrauen nach oben, ließ ihre Maske jedoch nicht fallen. Nein, sie behielt weiterhin diese übertriebene und vor allem aufgesetzte Freundlichkeit bei, die mich beinahe wahnsinnig machte. „Wie Sie wollen."
Sie erhob sich von ihrem Platz und brach, als sie auf die große Fensterfront hinter ihrem Stuhl trat, zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit den Blickkontakt zu mir ab. Unverzüglich fühlte ich mich ein wenig befreiter, holte tief Luft und erlaubte mir für eine Sekunde sogar, erleichtert meine Augen zu schließen. Als ich sie wieder öffnete, stand Cressida mit dem Rücken zu mir, den Blick in die Ferne gerichtet und die Hände hinter dem Rücken verschränkt am Fenster.
Für einen Moment glaubte ich, dass sie darüber nachdachte, was sie nun sagen oder wie sie sich verhalten sollte. Doch dann wandte sie sich wieder zu mir um und ich wurde augenblicklich eines besseren belehrt, als ich den Ausdruck sah, der nun auf ihrem Gesicht lag. Cressida hatte keines Falls über ihren nächsten Schritt nachgedacht. Das hatte sie nie tun müssen. Sie war sich diesem ebenso sicher, wie ich mir war, dass das ganze hier nur eine gekünstelte Pause war, um ihren nächsten Worten mehr Wirkung zu verleihen. Und das gelang ihr auch. Vor allem, weil ich nicht mit einer solchen Direktheit gerechnet hatte.
„Ich bin Ihretwegen hier, Miss Geller", verkündete sie schließlich. „Wegen Ihnen, Ihrer Arbeit und vor allem wegen dem Verhältnis, das Sie zu One Direction pflegen."
One Direction. Nicht Harry, Liam, Niall, Louis und Zayn. Nein, einfach nur One Direction. So, als wären sie nur die Band. Als wären sie keine eigenständigen Menschen. So, wie Modest sie meiner Meinung nach immer schon gesehen hatte. So, wie sie ihnen auch am meisten einbrachten. Den größten Erfolg. Das meiste Geld. Die beste Publicity.
Ich schaffte es gerade noch die aufkeimende Wut darüber zu unterdrücken, als ich fragte: „Und welches Verhältnis habe ich Ihrer Meinung nach zu den Jungs?"
„Meine Meinung tut hier vorerst nichts zur Sache. Ich bin schlicht und ergreifend aufgrund der Meinung meiner Vorgesetzten hier."
„Wären Sie dann wohl so freundlich und würden mir die Meinung unserer Vorgesetzten erklären?"
Wenn sie glaubte, dass sie mich damit einschüchtern konnte, dass sie mir den Eindruck gab, sie würde über mir stehen, dann hatte sie sich gewaltig geschnitten. Denn wenn ich eines mit absoluter Sicherheit wusste, dann war es die Tatsache, dass sie und ich im selben Boot saßen. Dass wir auf dem selben Level waren und sie mir im Grunde nichts zu sagen hatte. Sie war genauso sehr eine Marionette unserer Vorgesetzten wie ich es war und wie es auch die Jungs in gewisser Weise waren. Sie war nichts Besseres, nichts Höheres als ich. Und ich würde mir von ihr auch nicht mehr länger das Gegenteil vorspielen lassen.
„Natürlich." Sie kam ein paar Schritte auf mich zu und schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln. „Sie glauben, dass Sie des Öfteren ein paar Grenzen überschritten und auf den Inhalt ihres Vertrages vergessen haben."
„Tun sie das?", fragte ich gespielt interessiert nach. „Und wie kommen sie auf diese Idee?"
„Nun, Miss Geller. Dafür gibt es viele Gründe."
„Oh, ich möchte überhaupt nicht alle wissen, Mrs Benign. Wenn Sie mir nur ein paar davon aufzählen könnten, wäre ich schon sehr zufrieden", räumte ich mit einer solch provozierenden Stimme ein, dass ihrer Maske einen ersten Riss zu bekommen schien und sie sich sichtlich zusammenreißen musste, um weiterhin diese verdammt falsche Freundlichkeit aufrecht erhalten zu können.
„Ich denke, wir wissen beide, dass gewisse Fotos, die in letzter Zeit aufgetaucht sind, sowie das eine oder andere Gerücht und vor allem ihr Verhalten gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Band maßgeblich daran beteiligt sind, dass ich nun heute hier vor Ihnen stehe. Oder sehen Sie das etwa anders?"
„Ja, das tue ich", antwortete ich. „Vielleicht könnten Sie mir deswegen netterweise erklären, was genau an all diesen Dingen so verwerflich ist?"
Sie kam noch ein paar Schritte auf mich zu und sah mich mit purer Arroganz und Angriffslust in den Augen an. „Natürlich könnte ich das. Aber ich bin mir sicher, dass Sie sich durchaus darüber im Klaren sind, was damit gemeint ist. Ansonsten würden Sie wohl kaum so reagieren."
Ohne auch nur mehr einen Gedanken an den Vorsatz, mich nicht noch unbeliebter bei ihr machen zu wollen, zu verschwenden, stand ich schwungvoll von meinem Platz auf und stellte mich vor sie. Dank meiner Größe wirkte das Ganze jedoch nur halb stark, wie ich es mir erhofft hatte. Dennoch erwiderte ich bestimmt ihren Blick.
„Wie reagiere ich denn Ihrer Meinung nach gerade?"
„Wie jemand, der sich in die Ecke getrieben fühlt."
Bam! Da war sie! Die Wahrheit! Die Wahrheit, die ich jetzt zum ersten Mal richtig wahrzunehmen schien, obwohl ich mir ihr vermutlich schon lange bewusst gewesen war. Die Wahrheit, die erklärte, warum ich mich so dämlich verhielt, alles auf eine Karte setzte und mich ausgerechnet mit der Person anlegte, die mich mit einem Wort feuern lassen könnte. Die Wahrheit, die mich dazu brachte, ein paar Schritte von Cressida wegzutreten, die Maske, die ich die ganze Zeit über aufrecht erhalten hatte, komplett fallen zu lassen und mir verzweifelt durch mein Haar zu fahren.
Das Gefühl, ertappt und aufgedeckt worden zu sein, breitet sich innerhalb von Sekunden in meinem gesamten Körper aus, vertrieb jegliche Wut und hinterließ pure Angst. Angst davor, meinen Job zu verlieren. Angst davor, nicht mehr täglich von den Menschen umgeben zu sein, die für mich zu einer zweiten Familie geworden waren. Angst davor, die Jungs zu verlieren. Und vor allem Angst davor, mich geschlagen geben müssen. Den jahrelangen Kampf gegen meine Vorgesetzte zu verlieren und das Leben, so wie ich es jetzt führte, aufgeben zu müssen. Ja, ich hatte Angst. Etwas, das ich mir so lange nicht eingestanden hatte, dass es mich jetzt vollkommen aus der Bahn warf.
„Wie ich sehe, habe ich einen Nerv getroffen." Zum ersten Mal zierte ein echtes Lächeln ihre Lippen. Ein echtes, absolut spöttisches und siegessicheres Lächeln.
Ich senkte meinen Blick, fuhr mir nervös mit der Zunge über die Lippen und dachte über meine nächsten Worte nach. Doch mir fiel nichts ein, dass das Ganze hier zu meinen Gunsten hätte wenden können, weshalb ich letzten Endes wieder in Cressidas schwarze Augen sah und direkt die Frage stellte, die mir bereits auf der Zunge brannte: „Was wollen Sie von mir?"
„Ach, Schätzchen. Die bessere Frage wäre wohl, was unsere Vorgesetzten wollen."
„Und das wäre?", knurrte ich verärgert.
„Sie wollen, dass alles wieder reibungslos funktioniert."
„Was genau hat das mit mir zu tun?"
Cressida stieß ein höhnisches Lachen aus.„Ich bitte Sie. Natürlich geht es bei dieser ganzen Sache nicht nur um Sie. Nein, es geht um viel mehr. Sie sind nur ein kleines Rädchen in einer Maschine, die das hier am laufen hält. Ein kleines, momentan etwas schlecht geöltes und bockiges Rädchen."
Hatte ich ihre Art zu sprechen zuvor schon als eigenartig und anstrengend empfunden, so war ich jetzt wirklich kurz davor, ihr an die Kehle zu springen und sie solange zu würgen, bis sie endlich wie ein normaler Mensch sprach. Aber da ich vermutete, dass sie das überhaupt nicht konnte, geschweige denn wollte, beließ ich es bei einem genervten Schnauben und dem Versuch, meine Maske wieder ein wenig zu reparieren.
„Lassen Sie mich raten, was mit den Rädchen passiert, die sich nicht wieder in Ordnung bringen lassen..."
„Sie werden ausgetauscht, ja", bestätigte Cressida meine unausgesprochene Vermutung. „Aber wie ich sehe, machen Sie sich diesbezüglich ohnehin keine Sorgen. Ansonsten würden Sie wohl kaum ein solches Verhalten an den Tag legen."
„Sie haben nicht die geringste Ahnung, worüber ich mir Sorgen mache, Mrs Benign", meinte ich mit betont ruhiger Stimme.
„Noch nicht. Aber ich habe die nächsten Wochen Zeit, um es herauszufinden." Und mit diesen Worten wandte sie sich um, verschränkte erneut die Hände hinter dem Rücken und sagte: „Das wäre dann vorerst alles gewesen, Miss Geller. Sie können gehen."
Für ein paar Sekunden war ich versucht, irgendetwas – bevorzugt etwas spitzes – nach ihr zu werfen. Aber ich riss mich zusammen, schenkte ihr einen letzten giftigen Blick und drehte mich dann zur Tür um. Ohne mich noch einmal zu meinem personifizierten Alptraum umzudrehen, drückte ich die Klinge nach unten, öffnete die Tür und beeilte mich, aus diesem Raum zu kommen. Ich entfernte mich ein Stück von dem Konferenzraum, ehe ich ein lautes Seufzen ausstieß und mich gegen die kühle Mauer lehnte.
Mir war bewusst gewesen, dass meine Vorgesetzten bereits seit meiner Einstellung bei Modest darauf gewartet hatten, mich wieder loswerden zu können. Und wer konnte es ihnen verübeln? Ich war damals schließlich nur eine fünfzehnjährige Schulabbrecherin gewesen, deren Eltern über hundert Wege und über siebenundzwanzig Brücken jemanden kannten, der mit Simon Cowell höchstpersönlich verwandt war. Ich war nur durch Vitamin B zu dem Job in Simons Firma gekommen, der mich schließlich zu XFactor und in weiterer Folge zu Modest und der Aufgabe der persönlichen Assistentin der momentan erfolgreichsten Boyband geführt hatte. Meine ganze berufliche Laufbahn war auf eine glückliche Fügung, sehr viel Wohlwollen von Simon Cowell und einer sehr großen Portion Glück und Vitamin B aufgebaut worden. Und das gefiel verständlicherweise nicht jedem. Zumal es mir selbst nicht im geringsten gefiel.
Denn auch, wenn ich hart dafür arbeiten musste, um dort zu sein wo ich jetzt war, meinen Schulabschluss auf Anordnung von „Uncle Si" neben meinem Job nachholen und so mach andere Herausforderung meistern musste, hatte ich letzten Ende doch alles nur aufgrund von anderen Personen erreicht. Denn welche Firma nahm schon jemanden auf, der mit fünfzehn plötzlich beschloss, die Schule abzubrechen? Niemand. Und wenn sich meine Eltern nicht so bemüht hätten, um mir diesen Job bei Simon zu besorgen, wäre ich heute wohl arbeits- und perspektivlos.
Natürlich war mir bewusst, dass meine Eltern mir damals nur geholfen hatten, weil sie mir die Tücken und Härten der Arbeitswelt aufzeigen und mich somit dazu überreden wollten, weiterhin zur Schule zu gehen. Bekanntermaßen war diese Aktion nach hinten losgegangen, doch da ich dennoch meinen Abschluss gemacht hatte, hatten sie sich mittlerweile einigermaßen damit abgefunden. Weil sie wussten, dass ich meine Arbeit liebte, dass ich von tollen Menschen umgeben war und dass ich vorerst den richtigen Weg für mich gefunden hatte. Und das hatte ich wirklich. All das entsprach der Wahrheit und ich würde es niemals wagen, das Glück und die Hilfsbereitschaft, die mir in den letzten Jahren widerfahren waren, in irgendeiner Weise schlecht zu machen oder herab zu würdigen.
Doch manchmal... Manchmal fragte ich mich trotzdem, was wohl passiert wäre, wenn ich damals die Schule nicht abgebrochen hätte. Wäre ich dann jetzt glücklicher? Oder würde es mir dann wesentlich schlechter gehen? Würde ich studieren? Oder vielleicht auch arbeiten? Ich wusste auf all diese Fragen keine Antwort. Aber um ehrlich zu sein, brauchte ich diese auch nicht. Wenn man so viel Hilfe, Entgegenkommen und Unterstützung bekam, dann hinterfragte man das nicht. Man war einfach nur dankbar. Das klang jetzt vielleicht ziemlich bescheuert, aber ich war der festen Überzeugung, dass ich damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn ansonsten wäre ich heute nicht hier und hätte so viele Dinge nicht erlebt. Doch vor allem hätte ich meine Lemminge niemals kennengelernt. Und das wäre wohl die schlimmste Strafe von allen gewesen.
Eine Hand, die sich plötzlich auf meine Schulter legte, ließ mich erschrocken zusammenzucken und meinen Blick nach oben schnellen. Paul sah mich für ein paar Sekunden schweigend an, dann fragte er: „So schlimm?"
Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. „Nein... Sie ist zwar ein absolutes Miststück... aber nichts, womit ich nicht umgehen könnte."
Ich konnte ihm deutlich ansehen, dass ihm meine zugegebenermaßen schlecht getarnten Lüge nicht überzeugt hatte, weshalb ich es mit einem Lächeln versuchte. Zu meiner eigenen Überraschung, schien mir das schon mehr zu gelingen, denn seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, als er sagte: „Gut. Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen, dass sie mir gleich an die Gurgel springen wird, wenn ich da jetzt reingehe, oder?"
Lachend legte ich eine Hand auf Pauls Schulter. „Sag bloß, der große, starke Bodyguard hat Angst vor einer kleinen, schwachen Klugscheißerin?!"
Er brummte irgendetwas, das sich stark nach „beängstigende Aura" anhörte, bevor er seine Hand von meiner Schulter nahm und auf die Tür zuging, aus der ich wenige Augenblicke zuvor hinausgestürmt war. Sobald er darin verschwunden war, seufzte ich lautlos und machte mich auf den Weg in mein Hotelzimmer, das zu meiner Überraschung leer war. Ich wusste nicht, was oder wen ich erwartet hatte, doch aus irgendeinem Grund konnte ich nicht verhindern, dass ich plötzlich furchtbar enttäuscht war. Vielleicht, weil ich nicht alleine sein wollte. Oder vielleicht, weil ich gehofft hatte, dass der Mensch, der in den letzten Tagen in jeglicher Lebenslage für mich da gewesen war, auch jetzt da sein, mich umarmen und vielleicht sogar trösten würde.
Doch er war nicht da und möglicherweise wäre das auch gut so gewesen, wenn ich es mir in diesem Moment nicht so sehr gewünscht hätte. Irgendetwas in mir – ich wusste auch nicht genau was es war – wollte unbedingt das tun, was ich nach einem solchen Gespräch nicht tun hätte sollen. Irgendetwas in mir brachte mich dazu, die Tür zu meinem Hotelzimmer zu schließen, dem leeren Gang bis zu einem der Aufzüge zu folgen und damit zwei Stockwerke nach oben zu fahren. Und was es auch immer war, es brachte mich schließlich dazu an eine der zahlreichen Türen zu klopfen und zu warten, bis diese von einem überrascht aussehenden Niall geöffnet wurde.
Er musterte mich für eine Weile, trat dann zur Seite und ließ mich wortlos in sein Zimmer. Den Rest dieses furchtbaren Tages verbrachten wir damit, Schokolade futternd auf seinem Bett zu liegen, irgendwelche uralten Filme zu schauen und über alles mögliche zu sprechen, nur nicht über Cressida. Niall erwähnte sie die ganze Zeit über mit keinem Wort, wofür ich ihm äußerst dankbar war. Ebenso wie ich es dafür war, dass er nicht die geringste Anstalt machte, mich auszufragen oder auch nur einmal dieses Thema anzusprechen. Ich vermutete, dass er darauf wartete, dass ich darüber sprechen wollte und zu erzählen beginnen würde, doch das hatte ich nicht vor. Ich wollte nicht darüber reden, was ihn jedoch auch nicht zu stören schien. Im Gegenteil, er schien ebenso froh darüber zu sein, ein bisschen Pause von dem ganzen beruflichen Kram zu haben, wie ich.
Und genau aus diesem Grund war er auch mein bester Freund. Weil ich mit ihm zusammen in einem Raum sein konnte, stundenlang schweigen und einfach nur ungesundes Zeug in mich hineinstopfen konnte, ohne das es seltsam oder unangenehm war. Weil er es mit seiner sorglosen und lustigen Art, seinen schlechten Witzen und seinem wundervollen Lachen immer schaffte, mich aufzuheitern und mich zum Grinsen zu bringen. Und eines konnte ich euch versichern: Trotz Cressida und dem Gespräch, das wir geführt hatten, verbrachte ich den restlichen Tag beinahe mit einem Dauergrinsen im Gesicht.
Und das hatte ich mit Sicherheit nicht nur der Schokolade, den Filmen und Louis, Josh und Dan zu verdanken, die uns nach einer Weile Gesellschaft leisteten und eine der lustigsten Diskussionen über Fußball auslösten, die es wohl jemals gegeben hatte.
Nein, ich hatte es vor allem Niall zu verdanken.
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Am nächsten Tag standen weitere Interviewtermine, ein Besuch bei einer Radiostation und Proben für das Konzert an, das noch am selben Abend stattfinden sollte. Cressida wich beinahe nie von meiner Seite, beäugte meine Arbeit, die Art wie ich mit den Jungs umging und jede andere meiner Regungen mit einer solchen Genauigkeit, dass es mich nicht einmal überrascht hätte, wenn sie auch noch Buch darüber geführt hätte.
Doch so penibel sie mich auch beobachtete, ich ließ mich von ihr nicht unterkriegen, sondern konzentrierte mich stattdessen auf die Einhaltung des Entschlusses, den ich heute Morgen gefasst hatte, als ich unter der Dusche stand und über meine aktuelle Situation nachdachte. Ich wusste nicht warum, doch scheinbar war die Dusche ein sehr guter Ort, um sich selbst Mut, Entschlossenheit, Selbstsicherheit und Kampfgeist einzureden, denn genau das war bei mir heute der Fall gewesen.
Ich hatte beschlossen, dass ich meinen Job genauso weitermachen würde wie bisher und dass ich mich von Cruella De Vil nicht nervös machen lassen würden. Zumal ich mich heute auch noch einem ganz anderen Problem stellen musste, das man theoretisch auch als den Grund für meine leichten Stimmungsschwankungen in den letzten Tagen sehen könnte: Ich hatte meine Tage bekommen. Und wie verhält sich eine Frau nun mal, wenn das nicht nur zu einem ziemlich ungünstigen Moment passiert, sondern vor allem auch noch schmerzhafte Krämpfe mit sich bringt? Richtig, sie ist mies gelaunt. Oh ja, sie ist äußerst mies gelaunt.
Wie ihr euch also sicher vorstellen könnt, waren Cressida und Regelschmerzen nicht gerade die beste Kombination, weshalb meine Laune bereits zu Mittag einen solchen Tiefpunkt erreicht hatte, dass sich außer der scheinbar lebensmüden Nervensäge von Modest niemand wirklich in meine Nähe traute. Ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln, denn um ehrlich zu sein, hatte ich sogar selbst ein wenig Angst vor mir, obwohl ich mich natürlich darum bemühte, nicht allzu auffällig zickig zu sein, da Cressida mir noch immer nicht von der Seite wich. Erstaunlicherweise schien mir das auch einigermaßen zu gelingen.
Am Anbend war ich dann sogar schon soweit, dass ich die furchtbaren Krämpfe in meinem Bauch als kleinen Segen empfand. Denn dank ihnen und die dadurch hervorgerufene schlechte Laune, hielten die Jungs und ich vermutlich genau den Abstand zueinander, den Modest von uns erwartete, was Cressida jedoch alles andere als zu gefallen schien. Zumindest vermutete ich das aufgrund des noch tödlicheren Blickes, den sie mir während des gesamten Konzerts zuwarf. Oder vielleicht lag auch einfach nur Misstrauen in ihren Augen. Was auch immer es war, es war mir im Moment so was von gleichgültig. Denn alles, was ich nach einem solchen Tag noch wollte, war endlich in mein Bett zu kriechen und mich selbst wegen der Tatsache zu bemitleiden, dass ich offensichtlich eine Frau war – mit all den schrecklichen Dingen, die zu diesem Dasein dazugehörten.
Als ich mich am Endes des Tages endlich in mein Bett kuscheln konnte, erwartete mich jedoch eine beinahe schlaflose Nacht, die mich am nächsten Morgen dazu brachte, mich ungeschminkt und ungestylt, aber seltsamerweise etwas besser gelaunt neben Lou in einen der Vans zu quetschen, der uns und den Rest des Teams zum Flughafen bringen sollte. Ich wusste, dass ich vermutlich wie eine Vogelscheuche aussah, doch es war mir absolut egal. Die einzigen männlichen Wesen, die mich so zu Gesicht bekommen würden, waren sowieso nur die Jungs, die ich mit Sicherheit schon in wesentlich schlimmeren Lebenslagen erlebt und überlebt hatte. Und außerdem: die Jungs, Lou, ein paar weitere Auserwählte aus dem Team und ich würden sowieso mit einem Privatjet fliegen. Für wen sollte ich mich da bitteschön zurechtmachen? Aber das Beste an diesem Privatjetflug war – neben der Tatsache, dass ich ungestylt sein konnte - dass Cressida (zu unserer aller Freude) nicht mit uns im Privatjet reisen würde, was uns nicht nur eine kurze Verschnaufpause von ihr und ihrer Art bescherte, sondern mir auch die Möglichkeit gab, endlich einmal wieder richtig durchzuatmen und mich zumindest für ein paar Stunden zu entspannen.
Zu meinem Glück funktionierte das auch bestens, was nicht zuletzt daran lag, dass Niall, Liam, Louis, Harry und Zayn so erschöpft von den letzten Tagen waren, dass sie kurz nach dem Start, entweder einschliefen oder sich die Ohren zu stöpselten und Musik hörten. Zayn, der sich trotz meiner Stimmungsschwankungen neben mich gesetzt hatte und üblicherweise der erste war, der einschlief, entschied sich vorerst gegen ein Nickerchen und für ein bisschen Musik, weshalb er die ersten Minuten des Fluges damit verbrachte, die ineinander verhedderten Kopfhörer zu trennen. Als ihm das gelungen war, stupste er mich vorsichtig an und hielt mir einen davon entgegen. Da mir eigentlich auch nicht wirklich nach Schlafen zu Mute war, nahm ich den Ohrstöpsel dankbar an, legte meinen Kopf auf seine Schulter und schloss die Augen.
Wieder zurück in London wollte ich eigentlich nichts sehnlicher, als unter die Dusche zu springen, einen Happen zu essen und dann endlich wieder in meinem eigenen Bett einzuschlafen. Doch ich kam gerade einmal dazu, die ersten beiden Punkt abzuhaken, als es plötzlich an meiner Haustür klopfte. Ich schlang den Bademantel, den ich mir schnell übergezogen hatte, ein wenig enger um meinen Körper und warf dann einen Blick durch den Türspäher. Wie ich es bereits vermutet hatte, handelte es sich bei meinem Besuch um Tessa.
„Hallo", begrüßte ich sie lächelnd, als ich die Tür öffnete.
„Hi, Emma." Sie fuhr sich ein wenig verlegen durchs Haar. „Ich hoffe, ich störe dich nicht."
„Nein, nein." Ich schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Seite. „Willst du reinkommen?"
„Ja, gerne." Sie betrat meine Wohnung, wartete dann darauf, dass ich die Tür schloss und mich zu ihr umdrehte, bevor sie fragte: „Wie war's in New York und L.A.?"
„Gut", log ich, da ich sie nicht mit dem Thema Cressida belasten wollte. „Und wie ist es bei dir so gelaufen? Hast du alle Prüfungen überstanden?"
„Ich denke schon", erwiderte sie. „Es hätte zwar ein wenig besser laufen können, aber das ist okay. Hauptsache ich bin positiv und kann das Semester endlich abschließen."
Ich nickte, verschwand kurz in der Küche, um etwas zu trinken zu holen, und ging dann gefolgt von Tessa zu meinem Sofa. Nachdem wir es uns bequem gemacht und an unseren Gläsern genippt hatten, fragte ich: „Und? Hast du schon Pläne für die Ferien?"
„Naja, eigentlich wollte ich nach meinem letzten Tag an der Uni nach Hause fahren und erst einmal ein paar Wochen bei meiner Familie bleiben..."
„Aber?" Fragend sah ich sie an, während ich einen weiteren Schluck trank.
„Aber dann hat Niall mich zu der Grillparty eingeladen, was meine Pläne ein wenig durcheinander gebracht hat."
Von diesen Worten überrascht, verschluckte ich mich augenblicklich an meinem Wasser, was zu einem heftigen Hustenanfall führte. Als ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, stellte ich das Glas zur Seite und versuchte meine Überraschung mit einem Lächeln zu überspielen. „Niall hat dich zu der Grillparty-Schrägstrich-Bandgeburtstagsfeier eingeladen?"
„Ja", antwortete sie etwas zögerlich. „Warum schockiert dich das so? Ich meine, ich war auch ziemlich schockiert, aber-"
„Ich bin nicht schockiert", unterbrach ich sie schnell. „Es hat mich nur ein wenig überrascht, das ist alles, Tessa."
„Oh... Okay."
Sie senkte ihren Blick auf das Glas in ihren Händen und sah dabei so verunsichert aus, dass ich mich augenblicklich wegen meiner Reaktion und der Lüge schlecht fühlte. Denn es war eine Lüge, als ich sagte, dass ich nicht schockiert war. Ich meine, ich wusste, dass die Jungs für Anfang Juli eine Grillparty geplant hatten, um ihr dreijähriges Bandbestehen vorzufeiern. Und ich wusste auch, dass sie dazu ihre Familien, Freundinnen und Freunde einladen wollten. Doch das Niall Tessa mitnehmen und sozusagen allen vorstellen wollte, war neu für mich. Neu und auch ein wenig überraschend. Schließlich hatte er mir erst vor ein paar Tagen gestanden, dass er sich bei der Sache mit Tessa nicht sicher war.
Und ein Mädchen zu einer Party wie dieser einzuladen, war alles andere als ein Zeichen für Unsicherheit. Im Gegenteil, auf dieser Party würden nicht nur Nialls Freunde, sondern vor allem auch seine Eltern, sein Bruder und dessen Frau anwesend sein. Ich meine, ich kannte mich bei diesem ganzen Beziehungsding nicht wirklich aus, aber war es nicht ein wenig... nun ja,... seltsam jemanden, mit dem man eigentlich noch nicht zusammen war, zu einer Feier mitzunehmen, die so persönlich war, wie sonst kaum eine in diesem Business?
Oder war ich einfach nur seltsam und es war in Wahrheit einfach nur eine nette Geste? Eine nette Geste, in die ich aus unerfindlichen Gründen zu viel hineininterpretierte? Immerhin würden die anderen Jungs mit Sicherheit auch ein paar Leute einladen, mit denen ich nicht rechnete und die ihnen auch nicht so besonders nah standen, mit denen sie sich aber dennoch gut verstanden. Und möglicherweise wollte Niall einfach nur einen Schritt auf Tessa zugehen und ihr ein wenig von seiner Welt (oder zumindest von einer abgeschwächten Version davon) zeigen. Möglicherweise wollte er damit auch die Zweifel, die er mir vor ein paar Tagen offenbart hatte, aus seinem Kopf verbannen.
„Wann hat er dich denn eingeladen?", fragte ich nach kurzem Schweigen.
Überrascht hob Tessa ihren Blick. „Kurz bevor ihr nach New York geflogen seid. Warum?"
„Nur so", log ich, während ich versuchte meine Gedanken, die wild durcheinander schwirrten, zu ordnen.
Das ergab einfach keinen Sinn! Sein Verhalten in jener Nacht, das Gespräch, das wir über ihn und Tessa geführt hatten – das alles ergab plötzlich überhaupt keinen Sinn mehr. Ich dachte, dass er sich nicht sicher war, dass er noch einen kleinen Schubser in die richtige Richtung brauchte, um endlich zu verstehen, welch toller Mensch Tessa doch war und wie gut sie zusammenpassen würden. Doch scheinbar war das alles nur Einbildung gewesen. Scheinbar war er sich schon vor der Reise nach New York sicher gewesen, dass er sich und ihr eine Chance geben wollte.
Aber warum... Warum hatte er dann scheinbar seine Meinung nur kurz darauf geändert? Warum hatte er mir gesagt, dass er glaubte, dass das alles ein Fehler sei, wenn er doch nur kurz davor einen Schritt auf sie zugemacht hatte? Warum hatte er mir das Gefühl gegeben, ihn von Tessa und von der ganzen Sache mit ihr überzeugen zu müssen, wenn er es doch scheinbar bereits war?
„Kann es sein, dass du vielleicht doch ein wenig schockiert bist?", riss mich Tessas Stimme aus meinen Gedanken.
Verlegen lächelnd zuckte ich mit den Schultern. „Ein bisschen vielleicht."
„Und warum?"
„Erstens, weil Niall in manchen Sachen nicht unbedingt sehr vorausschauend ist und zweitens, weil weder du noch er mir davon erzählt habt. Zumindest bis jetzt."
Und drittens, weil ich diese Einladung doch für einen ziemlich großen Schritt hielt. Tessa hatte bis jetzt kaum etwas von seiner berühmten Seite mitbekommen und ihn einfach als Niall kennengelernt. Doch diese Party... Ich konnte einfach nicht verhindern, dass ich beim Gedanken daran ein ungutes Gefühl bekam. Aber das würde ich Tessa nicht sagen. Zum einen, weil es mich nichts anging, wen Niall zu der Party einlud und zum anderen, weil ich die Enttäuschung in ihrem Gesicht nicht ertragen könnte. Sie sah mich als ihre Freundin, vertraute mir immer wieder Dinge an, über die sie ansonsten scheinbar mit niemanden sprach, und was tat ich? Gott, ich war eine furchtbare Freundin und ein noch viel furchtbarerer Mensch. Und eigentlich sollte ich mich zum Schämen in eine Ecke stellen. Vor allem, weil ich plötzlich damit anzufangen schien, gegen den Plan zu arbeiten, den ich mit den Jungs zusammen ausgearbeitet hatte.
„Nun, ich dachte, dass es nicht so wichtig ist", erklärte Tessa.
„Du hast recht", stimmte ich ihr zu, obwohl ich das anders sah. „Und außerdem bist du ja nicht dazu verpflichtet, mir alles zu erzählen."
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich bin wieder einmal davon ausgegangen, dass du es schon von Niall erfahren wirst."
„Tessa-", begann ich, wurde jedoch sofort von ihr unterbrochen
„Ja, ich weiß. Männer definieren beste Freunde und Freundinnen ein wenig anders als Frauen." Sie lächelte mich amüsiert an. „Irgendwie sind Männer wirklich eigenartige Wesen."
„Wem sagst du das?" Erleichtert lächelnd klopfte ich ihr auf die Schulter. „Männer sind so ziemlich das Eigenartigste überhaupt."
Sie stimmte in mein Lachen ein und nachdem wir uns die schönsten, schlimmsten, peinlichsten, perversesten und denkwürdigsten Anekdoten aus unseren Erfahrungen mit Männer geschildert hatten, beschlossen wir, den Rest des Tages vor dem Fernseher zu verbringen und uns (klischeehaft wie wir nun mal waren) ein paar typische Frauenfilme anzuschauen. Während Tessa die dafür vorgesehenen DVDs aus ihrer Wohnung holte, stopfte ich eine Tüte Popcorn in die Mikrowelle und bereitete mein Wohnzimmer auf das bevorstehende Ereignis vor.
Etwa zwei Stunden und einen Film später, saß Tessa schniefen neben mir und sah mir aus verheulten Augen dabei zu, wie ich meine zweite Schüssel Popcorn verputzte. Wir hatten uns soeben „Wie ein einziger Tag" angeschaut und obwohl ich den Film auch ziemlich traurig und berührend gefunden hatte, hatte er auf mich scheinbar nicht einmal annähernd die Wirkung, die er auf Tessa zu haben schien. Ein wenig überfordert mit so vielen Gefühlen, stopfte ich mir noch den letzten Rest des Popcorns in den Mund, bevor ich meinen Arm unbeholfen um ihre Schultern legte und hoffte, dass sie sich dadurch ein wenig beruhigen würde.
„Das ist... s-so traurig, f-findest du ni-icht?", schniefte sie und sah mich aus wässrigen Augen an.
„Ähm... Ja, sehr traurig."
Sie wischte sich übers Gesicht und sah mich fragend an. „Wa-warum musst du dann nicht heulen?"
„Keine Ahnung." Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bin ich einfach unromantisch."
„Ne-ein. Das k-kann nicht se-ein." Sie holte ein paar Mal tief Luft, um ein wenig ruhiger zu werden, bevor sie weitersprach: „Ich meine, Noah ist einfach p-perfekt und Allie... Ihre ganze Geschichte ist einfach so... so..."
„Romantisch?", half ich ihr den Satz zu beenden. Sie nickte und schniefte erneut. „Ja, vielleicht ist es das, aber wenn man weiß, dass es so etwas im echten Leben nicht gibt, geht irgendwie der Zauber daran verloren."
„Wer sa-agt, dass es so etwas nicht g-gibt?"
Ich runzelte meine Stirn. „Naja, so etwas weiß man doch, oder? Ich meine, glaubst du wirklich, dass es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der so perfekt zu dir passt, dass ihr alle Hürden überstehen und dann für immer und ewig glücklich sein werdet?"
„Ja, Emma. G-genau das glaube ich", erwiderte sie nun schon ziemlich ruhig.
„Wirklich?", fragte ich mehr als überrascht.
„Natürlich." Sie sah mich aus geröteten Augen an. „Ich glaube, dass jeder Mensch einen Seelenverwandten hat. Dass es für jeden von uns einen Menschen gibt, der einen perfekt ergänzt. Und dass jeder von uns eine Liebesgeschichte wie die von Noah und Allie haben könnte. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht naiv aber ich glaube, dass es die große Liebe wirklich gibt. Und ich hoffe, dass ich sie eines Tages finden werde."
„Wow", brachte ich nach kurzem Schweigen erstaunt hervor. „Das ist..."
„Lächerlich? Gutgläubig? Naiv?" Trotzig verzog Tessa ihr Gesicht. „Du kannst es ruhig sagen, Emma. Ich habe alles schon einmal gehört."
„Eigentlich wollte ich bewundernswert sagen."
Überrascht sah sie mich aus großen Augen an. „Warum bewundernswert?"
„Weil du daran glauben kannst, Tessa."
Sie presste ihre Lippen aufeinander und lächelte dankbar. Dann fragte sie: „Und warum glaubst du nicht daran, Emma?"
„Weil ich Realist bin."
„Oder Pessimist, wie man es sehen will", warf sie augenzwinkernd ein.
„Ich bevorzuge den Begriff Realist, okay?", meinte ich schmunzelnd.
„Natürlich."
„Du hältst mich jetzt für absolut verbittert, oder?"
„Nein." Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich glaube nur, dass du das ganze falsch siehst."
„Ach ja?"
„Ja." Tessa nickte heftig. „Aber wenn du mich nicht dafür verurteilst, dass ich absolut romantisch bin, werde ich dich nicht dafür verurteilen, dass du das komplette Gegenteil bist. Auch, wenn ich mir dabei eine ganz bestimmte Frage stelle..."
„Und die lautet wie?"
„Glaubst du nicht daran, weil du schlechte Erfahrungen in Sachen Liebe gemacht hast oder weil du wirklich davon überzeugt bist, dass das alles nicht existieren kann?"
Irgendwie wurde mir das Gespräch ein bisschen zu kitschig und mädchenhaft. Doch während ein Teil von mir es so schnell wie nur möglich beenden wollte, trieb mich der andere Teil dazu an, ernsthaft über ihre Frage nachzudenken. Schließlich sagte ich ehrlich: „Ich glaube nicht daran, weil ich die Vorstellung, dass man bei über sieben Milliarden Menschen ausgerechnet auf die eine Person treffen soll, die für einen 'bestimmt' ist, ziemlich unrealistisch finde. Immerhin könnte mein 'Seelenverwandter' in Kanada oder Brasilien leben und wir würden uns vielleicht niemals im Leben treffen. Und was passiert dann? Muss ich dann für immer alleine bleiben, weil meine 'große Liebe' auf einem anderen Kontinent lebt und ich ihr einfach nicht begegne?"
„Nein, das musst du nicht. Nicht jeder hat so viel Glück im Leben und trifft diesen einen Menschen. Aber was lässt dich glauben, dass dein Seelenverwandter nicht schon längst in deinem Leben ist? Was lässt dich glauben, dass es nicht vielleicht dein Nachbar oder ein alter Freund von dir ist? Warum denkst du so negativ und gehst einfach davon aus, dass du die Liebe erst suchen musst?"
„Okay, okay." Ich hob abwehrend meine Hände. „Das wird mir jetzt doch ein wenig zu philosophisch. Können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass ich unromantisch bin und du hoffnungslos romantisch bist?"
„Von mir aus", stimmte Tessa lachend zu. „Aber ich sag dir eines, Emma: Ich habe dich durchschaut."
„Was meinst du?"
„Ich weiß, dass du nur so tust, als wärst du so abgebrüht und würdest nicht einen Gedanken an einen Freund oder eine Beziehung verschwenden. Vielleicht ist es dir auch nicht bewusst, aber ich bin überzeugt davon, dass du ebenso genau Vorstellungen davon hast, wie dein Traummann aussehen soll, wie ich. Dass du genau weißt, wie er sein und welche Eigenschaften er haben sollte. Habe ich recht?"
Für einen Moment sah ich sie bloß schweigend an, dann schüttelte ich meinen Kopf und sagte: „Keine Ahnung."
Das war eine Lüge und das wussten wir beide. Ich konnte es an ihrem Blick und sie in meinen Augen sehen. Doch sie sagte nichts mehr darauf, schenkte mir bloß ein wissendes Lächeln und widmete sich dann den übrigen DVDs, um den nächsten Film auszusuchen.
Am liebsten hätte ich ihr bei dieser Wahl geholfen und das Gespräch, das wir soeben geführt hatten, einfach wieder vergessen. Doch das konnte ich nicht. Irgendetwas in mir wollte das Thema nicht einfach abhaken und es wieder vergessen. Irgendetwas in mir wollte, dass ich mir selbst eingestand, dass Tessa recht hatte. Dass ich tatsächlich ziemlich genaue Vorstellungen davon hatte, wie mein Traummann zu sein hatte.
Doch sie waren so naiv, so unrealistisch, dass ich es niemals wagen würde, sie mit jemandem zu teilen. Dass ich niemandem gestehen würde, dass ich einen Menschen wollte, der mich verstand, der ohne Worte wusste, was ich brauchte, wann ich glücklich und wann ich traurig war. Dass ich jemanden wollte, der mich trösten, mich zum Lachen bringen und einfach Unsinn mit mir machen konnte. Jemanden, der sich mit mir alle Harry Potter Filme anschaute, ohne einmal darüber zu meckern. Jemanden, der mit mir Spazieren ging, wenn es zum ersten Mal schneite und der Schneeengel mit mir machte. Jemanden, mit dem ich stundenlang in einem Raum sein konnte, ohne ein Wort wechseln zu müssen.
Jemanden, mit dem das Schweigen ebenso schön war, wie das Reden. Jemanden, der mit mir den ganzen Tag im Bett blieb, mich die ganze Nacht im Arm hielt und der mich auch noch schön fand, wenn ich wie eine Vogelscheuche aussah. Ich würde niemandem verraten,dass ich jemanden wollte, der mich immer wieder überraschte, der mich nicht verändern wollte und dem ich vertrauen konnte. Jemanden, der mein bester und fester Freund in einem sein konnte. Jemanden, der mir die Welt und immer wieder neue Sachen zeigte. Jemanden, der seine Gedanken, seine Gefühle mit mir teilte und mich an seinem Leben teilhaben ließ. Jemanden, mit dem ich ein Wettessen veranstalten, eine Kissenschlacht austragen und ein Wettrennen machen konnte.
Doch vor allem würde ich niemandem sagen, dass ich jemanden wollte, der mich so nahm wie ich war. Denn so jemanden gab es nur in Filmen.
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