Kapitel 5. 1 - Pure Macht, Magie und Hexenkunst
In der neuen Welt war eine mächtige Hexe die Anführerin von New America. Dementsprechend hatte die alte Einrichtung weichen müssen. Beinahe der gesamte Birken- und Eichenboden im Wagenradmuster war einem weißen Marmor mit goldenen Sprenkeln gewichen. Darüber lagen blaue Teppiche mit silbernen Linien, die wilden Blitzen ähnelten. Die Wände waren cremeweiß mit goldenen Zierleisten herum und die üppigen Vorgänge vor den drei hohen Fenstern hinter dem Schreibtisch schillerten in einem kräftigen Nachtblau. Wenn ich mich richtig aus dem Geschichtsunterricht erinnerte, war der Schreibtisch, der Resolute Desk das einzige Möbelstück, das an seinem Platz geblieben war. Genau hinter diesem alten, dunklen Holztisch stand nun unsere Anführerin mit dem Rücken zu mir, die Hände nach hinten verschränkt und grüblerisch nach draußen blickend. Das verschaffte mit Zeit, sie kurz unbeobachtet aus der Nähe zu mustern. Ihr einst dunkelblau, violett gesträhntes Haar, das silberne Blitzartige Strähnen aufwies, als sie damals unser Land mit anderen gerettet hatte, war nun ihrem Alter entsprechend mit grau durchzogen. Es war oben um die Stirn wie ein Haarreif geflochten, die restlichen Strähnen trug sie offen. Sie reichten ihr über den Rücken hinunter beinahe bis zu den Kniekehlen. Wir Hexen würden es zwar nicht laut zugeben, aber was unsere von Natur aus bunten Haare anging waren wir furchtbar eitel. Wir trugen sie in der Freizeit oder zu offiziellen Anlässen meist offen und ließen sie so lange wachsen, dass es gerade noch praktikabel war. Ich kannte bloß eine Oberhexe, eine Heilerin, die ihre gelb orangen Haare kinnlang trug.
Wie erwartet, war Oberhexe General Lilianna Obera eine Erscheinung, aber vor allem die knisternde Energie, die von ihr ausging, war atemberaubend. Ihre Macht und Magie summten beinahe um sie herum, strahlte dabei wie ein schimmernder Halo, den man greifen konnte und in dessen Sonne man sich stellen wollte. Sie war pure Macht, Magie und Hexenkunst, als gehörte ihr der Raum, dieses Haus, die ganze Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Frau und meine unscheinbare, jedoch lustige Mum befreundet gewesen sein konnten. Sie waren vollkommen unterschiedlich, nicht nur von außen, sondern auch im Inneren. Meine Mum war das Herz unserer dreiköpfigen Familie gewesen, hatte uns abgöttisch geliebt und Hohn und Spott über sich ergehen lassen, um mit uns zusammen zu leben. Mit ihrem Sohn, mit ihrer magisch minderbegabten Tochter. Im Gegensatz dazu wirkte General Lilianna Obera eine Spur eisig, als würde ihre Macht sie auf eine Stufe Stellen, die niemand sonst erreichen konnte. Verstand über Herz. Das musste ein einsames Leben sein. Solche Macht, diese Verantwortung. Ich würde nicht mit ihr tauschen wollen.
In diesem Moment drehte sie sich schwungvoll um, so rasch, dass ich vor Schreck beinahe einen Satz nach hinten machte. Ich überspielte es, indem ich mich schnell verbeugte. Das hatte früher bei Monarchen und hohen Politikern doch auch funktioniert, warum also nicht hier?
„Guten Tag, Oberhexe General Lilianna Obera Stormbreaker. Es ist mir eine Ehre, sie kennenzulernen. Sie wollten mit mir sprechen, General?"
Sie lächelt übertrieben breit, als würde sie sich über mich, mein Zucken oder Verbeugung amüsieren, als hätte sie ein kleines Tier verschreckt, das sie hatte streicheln wollen. Aber das war Blödsinn, sie kannte mich nicht einmal. Sie breitete einladend die Arme aus und nachdem ich geblinzelt hatte, wirkte ihr Lächeln einladend, tröstend und überraschend mütterlich.
„Oh, Fainerrow. Wie schön dich zu sehen. Bitte nicht so formell. Nenn mich Obera. Komm näher, Kind. Wie groß du geworden bist. Es verblüfft mich immer wieder, wie schnell die Zeit dort draußen vergeht, wenn man hier drinnen regieren muss."
Sie klang müde und sofort musste ich an meine Gedanken von vorhin denken. An die Einsamkeit in diesen ehrwürdigen Räumen. Das ‚Kind' konnte sie zwar stecken lassen, dennoch ging ich nervös, jedoch auch eine Spur aufgeregt in Richtung Fenster, blieb dann aber dabei einige Schritte von ihr entfernt stehen. Die Arme hatte ich hinter dem durchgestreckten Rücken verschränkt.
„Gerne,... Obera. Woher kennen Sie mich, ich meine, wissen Sie, wie schnell ich gewachsen bin?"
Die Frage kam mir in dem Moment idiotisch vor, als ich sie stellte. Dennoch war ich neugierig. Nicht nur auf sie, sondern auf die Freundschaft zwischen ihr und meiner Mum.
„Wusstest du, dass deine Mutter Aera und ich befreundet waren?", fragte sie mit einem Anflug von Reue.
„Ja, das war mir bewusst."
„Tatsächlich?", antwortete sie überrascht und strich über ihren schwarzen magischen Mantel - kurz MagMan genannt. „Hat sie von mir gesprochen?"
„Tut mir leid, nein. Nur, dass sie früher Freundinnen waren, aber euch mit der Zeit auseinandergelebt habt."
Obera stieß ein Seufzen aus, das tonnenschwer klang. „Tja, das trifft es nicht annähernd. Aera und ich waren sehr eng miteinander befreundet. Eine Zeit lang teilten wir uns sogar ein Zimmer, obwohl sie einige Jahre jünger als ich gewesen war. Wir verstanden uns auf einer Ebene, als wären wir Schwestern gewesen, weißt du."
Sie lächelte leicht und ihre tiefblauen Augen funkelten, als wäre das eine schöne Erinnerung, die sie sich nicht oft gestattete.
„Aber dann hat sie sich in einen menschlichen Mann verliebt, er starb kurz nach deiner Geburt und dennoch wollte sie im Cottage, anstelle bei uns Hexen leben. Damals haben wir uns zerstritten und danach kein Wort mehr miteinander gewechselt. Eine Hexe und ein Mensch, das funktionier nicht, aber sie wollte nicht auf mich hören und ich genauso wenig. Ich war eitel, ich war engstirnig und dumm. Und nun ist sie fort und ich kann mich nicht mehr für alles, das ich gesagt habe, entschuldigen."
Ihr Lächeln war einer traurigen Miene gewichen, bei der sie fest die Lippen aufeinanderpresste. Beinahe glaubte ich, ein verräterisches Glänzen in ihren blauen Augenwinkeln zu erkennen, die sie vehement zurückzuhalten versuchte. Es war ungewöhnlich, das alles zu hören, unsere Anführerin so menschlich und emotional zu sehen, wenn man sie ansonsten nur von Bildern und Videos kannte. Einerseits war ich froh, etwas Neues über meine Mum oder von meinem Vater zu erfahren, anderseits war das ein Thema, das mir Unbehagen bereitete. Besonders da ich es von Obera hörte, von der ich nicht einmal angenommen hatte, dass sie mich kannte. Die ganze Situation fühlte sich absurd an, als würde ich es träumen, anstatt es zu erleben.
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