Kapitel 4. 2

Doch ich würde nicht kleinbeigeben und dem Schicksal lieber selbst auf die Sprünge helfen. Vor Schmerz keuchend, zog ich mit dem verletzten Arm ein Eisensilberstäbchen aus meinem Dutt. Dabei atmete ich den furchtbaren, pochenden Schmerz in meinem Oberarm fort. Aber verdammt, tat das weh. Das Biest musste mir ein gutes Stück aus dem Arm herausgebissen haben. Nachdem ich die Haarnadel fest in meinen feuchten Fingern hielt, pfiff ich einmal laut, um seine Aufmerksamkeit nach unten auf mich zu lenken, damit er mich ansah, bevor ich ihm die Nadel in eines seiner widernatürlich strahlenden Augen rammte. Er winselte vor Schmerz auf und krümmte sich, wobei er gleichzeitig die Wunde am Hals weiter aufriss und somit sein Todesurteil unterschrieb. Einige Sekunden wand er sich, dann wurde sein Körper ruhiger, als akzeptiere er, was mit ihm passierte. Ja, genau, du Mistvieh, stirb endlich.

Erleichterung und zugegeben, auch Stolz rangen in meiner Brust miteinander. Ich hatte einen verdammten Werwolf getötet, unseren Erzfeind. Ganz allein und ohne Magie. Plötzlich schrumpfte der riesige Körper in sich zusammen und wo vorher dichtes Fell gewesen war, befand sich nun menschliche Haut. Über mir lag auf den Baumstämmen ein gebrochener, dem Tode nahe älterer Mann mit graumeliertem Haar und einem dankbaren Gesichtsausdruck. Trotz seiner Schmerzen lächelte er auf mich hinab.

„Danke", hauchte er mit einer melodischen Stimme, die viel zu nett für ein Ungeheuer seiner Art klang. Anschließend glitt sein Blick zu Boden, er zuckte noch einmal, bis er schließlich erleichtert seinen letzten Atemzug tat, bei dem ich mir einbildete ‚endlich frei' gehört zu haben. Zitternd ließ ich meine Waffen los und starrte in dieses menschliche Gesicht. Er sah so normal aus. Als wäre er jemandes Vater oder Großvater, der Süßigkeiten verteilte, Kinder auf die Schulter hob oder Enkeln das Fahrradfahren beibrachte, aber auf keinen Fall Unschuldigen auffraß. Das war kein Monster. Ich hatte einen Menschen getötet. Es im Unterricht immer wieder zu üben, unterschied sich grundlegend zur harten Realität. Außerdem hatten sie uns nicht gesagt, dass sie so menschlich waren, sondern sie als triebgesteuerte Tiere beschrieben, die Menschen nachahmen konnten. Dieses Wesen hier hatte mit mir geredet, mit klarem Verstand, und er hatte mir für seinen Tod gedankt. Nur Merlin selbst weiß, wie lange er hier schon festgehalten worden war. Immer wieder aufs Neue für die Prüfungen herausgeholt. Mit einem Mal schmeckte mein Sieg wie bittere Gale und Scham brannte in meinem Magen. Ich drehte mich auf die Seite und übergab mich in das Unterholz.

„Fain! Fain? Wo bist du, Fain?", hörte ich Soulins panische Rufe. Mit dem Mantelärmel wischte ich meinen Mund ab, bevor ich antworte: „Hier."

Danach zwang ich mich, meine Waffen aus dem schlaffen, toten Körper zu ziehen und versuchte, an einer anderen Stelle zwischen den zwei Baumstämmen hindurch zu klettern. Es war viel schwieriger als ich dachte, denn ich war nach wie vor zittrig und fühlte mich völlig ausgelaugt. Sobald ich es geschafft hatte, stand Soulin bereits bei mir und riss mich in eine stürmische Umarmung, die mich fast von den Socken riss.

„Fain! Bei allen Hexen, ich hatte solche Angst um dich. Es tut mir leid, dass ich abgehauen bin. Geht es dir gut?"

„Ich habe dich weggeschickt, Soulin. Außerdem ist alles gut, nichts passiert."

Meine Worte straften mich Lügen, als ich schmerzhaft zusammenzuckte, nachdem mein Arm bleischwer von Soulins Schulter rutschte.

„Okay, vielleicht bin ich ein wenig angeschlagen. Autsch."

Die Wunde tat übel weh, und das Blut tropfte beständig über meinen Arm, bis zu den Fingerspitzen und zu Boden. Soulin stieß einen herben Fluch aus, den ich ihr nicht zugetraut hätte, als sie die Wunde sah.

„Er hat dich erwischt! Das müssen wir verbinden."

Beide blickten wir zu dem toten Körper.

„Ein echter Werwolf", flüsterte Soulin beinahe ehrfürchtig.

„Ja, ein Werwolf."

Mehr bekam ich nicht heraus. Ich konnte Soulin verstehen. All die Jahre hatten wir gelernt, sie zu töten, hatten die schlimmsten Geschichten von ihnen gehört und plötzlich stand man dem ultimativen Feind gegenüber - das fühlte sich ziemlich surreal, wie in einem Traum, an. Und trotzdem war es echt, wie die Leiche und das viele Blut bewiesen. So viel Blut. Bevor mir erneut so schlecht würde, bis ich mich übergeben musste, wandte ich mich ab und biss die Zähne zusammen. Ich war Soldatin, verdammt. Hart, unnachgiebig und für das hier ausgebildet worden. Bestimmt würde ich mich nicht heulend zusammenrollen und mich selbst bemitleiden. Das konnte warten, bis wir in unseren Betten lagen und Soulin schlief.

„Hast du die Tür aufbekommen?", fragte ich, um mich abzulenken.

„Ja, aber die Zeitmessung läuft trotzdem weiter. Ich denke, wir müssen beide durchgehen, um sie zu stoppen."

„Dann lass uns gehen."

Vorsichtig kletterte ich den Baumfriedhof hinunter und schlug den Weg ein, von den ich den Werwolf zuvor weggelockt hatte.

„Warte!" Hastig beeilte sich Soulin mit mir Schritt zu halten. Trotz der Schmerzen und dem Schweißfilm auf meiner Stirn, war ich schneller. Ich wollte diesen beschissenen Wald und alles darin abhaken, einfach hinter mir lassen.

„Fain, ich muss dich verbinden, du blutest stark. Das sieht nicht gut aus."

„Halb so schlimm. Das kann warten, bis wir draußen sind."

Ungeduldig sah ich mich um. Dabei bemerkte ich, wie der Wald dünner wurde, als ich plötzlich die Tür entdeckte.

„Gleich sind wir beim Ziel. Danach kannst du mit meinem Arm anstellen, was du willst."

Die Tür stand bereits offen und wirkte auf mich so anziehend wie ein aufgeschlagenes Zauberbuch. Nur noch hindurchlaufen und der Spuk hätte ein Ende. Abhaken und weitermachen. Meine Schritte wurden immer hastiger. Ich hatte nicht bemerkt wie schnell ich gegen Ende gelaufen war, erst als ich schnaubend nach der Tür im dunkeln Gang gebückt stehen geblieben war, und mich keuchend auf meine Knie stützte. Wenige Sekunden später stoppte Soulin nehmen mir, ebenfalls nach Luft schnappen. „Geschafft."

Ja, wir hatten es geschafft, jedoch hatte ich mit weniger Verstümmelungen gerechnet. Sei es nun körperlicher oder seelischer Natur, tief in mir drinnen, die ich nicht rauszulassen wagte.

„Das haben wir", flüsterte ich kraftlos, da ich ein wenig schummrig im Kopf war. Zu viel Adrenalin? Zu viel Blut verloren? Dabei versuchte ich die Zeit über der Tür zu lesen, die nun, nachdem wir beide durchgegangen waren, gestoppt hatte. Plötzlich stand Oberhexe Xana gelangweilt neben uns, gerade als Soulin mit einem abgerissenen Stofffetzen auf meinen Arm zuging, um mich zu verbinden. Wir erschraken beide, da wir noch immer unter Strom standen. Der Test war ganz anders abgelaufen als erwartet, und Xanas desinteressierter Blick auf uns, ließ mich frösteln. Besonders als sich Xana erneut ihr IPad vor die Nase hielt. „Rekruten, ihr habt die Prüfung bestanden. Damit seid ihr nun Teil der New America Hexenarmee. Euren Rang werden wir noch im Vergleich zu den anderen Prüflingen erheben."

Kurz tippte sie auf das Ding in ihrer Hand herum, ohne uns eines genaueren Blickes gewürdigt zu haben. Ich stand steif da, obwohl die Übelkeit und der Schwindel mit jeder Sekunde schlimmer wurden. Die ganze Zeit über tropfte mein Blut auf den Betonboden unter uns, wie ein lecker Wasserhahn.

„Eure Zeiten sind ganz passabel. Im oberen Mittelfeld. Gut. Was ist mit dem Wolf passiert. Seid ihr ihm begegnet?"

„Ja", murmelten wir beide.

„Gut. Habt ihr ihn gefangen oder getötet?"

Da ich nicht antwortete, übernahm es Soulin. Kurz und bündig.

„Tot."

„Gut. Wie genau es passiert ist, werden wir später in der Videoanalyse besprechen. Ist jemand verletzt?"

Erneut musste Soulin an meiner statt antworten, denn ich zitterte nun. Wegen der Verletzung und vor Wut. Sie hatten uns mit einem Werwolf eingesperrt, völlig unvorbereitet und nun hakte sie einfach Punkte auf einer Liste ab, als wäre es da drinnen nicht um unser Leben gegangen? Als hätte ich nicht ein anderes Individuum umgebracht? Für einen Moment wankte mein heldenhaftes Bild von unserem Hexenheer. Doch dann riss ich mich wieder am Riemen. Die Ausbildung und die Prüfung waren schwer, mussten sie sein, um uns abzuhärten, damit wir den Krieg bestreiten konnten. Es hatte alles seinen Sinn und Zwecke. Wer war ich, das zu hinterfragen?

„Fain, Fain wurde am Arm verletzt", hörte ich Soulin antworten.

Xana schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Das gibt Punkteabzug. Aber gut, trotzdem seid ihr ab sofort Teil unserer Armee und eure Ausbildungen ist abgeschlossen. Gratulation, ihr könnt wegtreten."

„Danke", antworte Soulin stotternd, wohingegen ich den Mund hielt, um nicht zu fluchen oder sonst irgendwie ausfällig zu werden. Ich fühlte mich nicht, wie ich selbst. Schweiß bedeckte mein Gesicht und mein Gesichtsfeld trübte sich an den Rändern ein. Gerade wollte ich wie geheißen den Gang verlassen, kam dabei jedoch nicht weit. Denn im nächsten Moment schwankte ich, dann fiel ich zu Boden und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

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