Kapitel 1. 4

Statt dem muffigen Geruch des Internatflurs, schlug mir frischer Wind entgegen. Mit den Fingern klammerte ich mich am Fensterrahmen fest und starrte ungefähr zwanzig Meter nach unten in die Tiefe, während der Wind an mir zerrte. Ich bereute es, mir die Haare nicht zusammengebunden zu haben, da mir die langen Strähnen um das Gesicht peitschten. Außerdem blendete mich die fast vollständig aufgegangene Sonne. Normalerweise war es fast noch dunkel, wenn ich mich davonschlich, weshalb ich mich nur auf den schmalen Sims vor mir konzentrierte, ohne viel nachzudenken. Doch heute sah ich zu viel und hatte zum ersten Mal ein flaues Gefühl im Magen. Das konnte aber auch am Abschied von Nyle liegen, oder an der bevorstehenden Prüfung. Ich verscheuchte die aufkommende Nervosität und widmete mich der Aufgabe, die vor mir lag. Mit geübten Schritten tänzelte ich die schmale Dachkante entlang. Rechts neben mir befand sich die Häuserfassade und alle paar Meter folgte ein Fenster, das in die einzelnen Zimmer der Jungs führte und an deren Stelle, der Sims breiter war. Um zum Regenrohr an der Ecke zu gelangen, musste ich zwei Fenster passieren. Anschließend an dem Regenrohr hochklettern und beim Mädchentrakt drei Fenster umgehen, bis ich in mein Zimmer gelangte, um mir dort Mantel und Waffen zu besorgen.

Ich stand gerade vor einem offenen Fenster, als plötzlich der Kopf eines Jungen herausspäte und mich anzüglich von oben bis unten angrinste. „Hallo Schönheit, hast du dich im Zimmer verlaufen? Sag mir nicht, dass du zu einem der anderen Jungs geschlüpft bist, während mein Herz auf dich gewartet hat."

Mein heftiger Herzschlag, der vor Schreck in die Höhe geschossen war, beruhigte sich bei Jeromeis Anblick wieder und ich lächelte schelmisch zurück. „Als ob du mir nachheulen würdest. Du triffst dich doch auch mit anderen, mein Herz."

„Wie könnte ich das, für mich gibt es nur dich", beteuerte er theatralisch, eine Hand an sein Herz gelegt. Dann grinste er jedoch spitzbübisch. „Na schön, hin und wieder gibt es auch andere Frauen, aber dich mag ich am meisten."

Seine bronzefarbenen Haare mit goldenen Spitzen wackelten im Takt, als er mehrmals zur Bekräftigung seiner eigenen Worte nickte. Klar doch, das sagte er wohl jeder zweiten, mit der er sich traf.

„Schon gut, du gehörst auch zu meinen Lieblingen." Eigentlich war er neben Soulin und Nyle einer meiner besten Freunde und das nicht nur, weil wir genauso im Bett harmonierten. Mit ihm konnte man Spaß haben und wenn man zu seinen Freunden zählte, galt einem seine ganze Loyalität. Daher vertraute ich ihm genauso meine nächtlichen Ausflüge an, die mich nicht zu ihm, sondern woanders hinführten. Ich beobachte Jeromei, wie er den mir zugewandten Fensterflügel schloss, damit ich weiter vorrutschten konnte, bis ich direkt vor ihm am Fenster stehen konnte. Vorsichtig beugte ich mich vor und flüsterte ihn sein Ohr. „Ich war bei Nyle. Ich wollte mich bei ihm verabschieden. Wer weiß, was nach den Prüfungen passiert."

Ernsthaftigkeit ließ sein unbekümmertes Lächeln abfallen und er musterte mich. „ES wird schon alles klappen, Fain. Mach dir keine Sorgen. Du bist gut. Außerdem ist Soulin an deiner Seite, um dir den Arsch zu retten."

„Na danke auch, ich kann selbst auf meinen Arsch aufpassen", erwiderte ich, obwohl ich wusste, er hatte nur einen Scherz gemacht. Uns beiden war klar, wie sensibel Soulin gegenüber Gewalt war und wenn es heute zur Sache ging, musste vermutlich ich meine Kampffähigkeit beweisen. Was ich tun würde, ich würde alles tun, um durch diese Prüfung zu kommen und Soulin mitzunehmen.

„Noch einen letzten Ratschlag?", fragte ich, weil ich losmusste. Die Zeit wurde knapp und meine Beine begannen von der gebeugten Haltung am Dachrand zu zittern.

„Nein. Nur ein kleiner Kuss, um dir Glück zu bringen." Seine Hand umfasste vorsichtig meinen Hinterkopf, bevor er seine Lippen auf meine drückte.

„Bitteschön, viel Glück, Fain", flüsterte er dicht an meinen Lippen, dann löste er sich und ich stand mit einem „Danke, wird schon gutgehen. Wie du gesagt hast", auf. Einmal winkte er mir zum Abschied zu, dann schloss er die andere Hälfte des Flügelfensters, damit ich endgültig an seinem Zimmer vorbeikam. Schnell rutschte ich weiter, die Zeit in meinem Nacken lief unbeirrt weiter.

Zu meinem Pech versperrte das nächste Fenster ebenfalls meinen Weg. Seufzend klopfte ich hart an die offene Fensterscheibe. Ein orange-rotfarbener Jungenschopf erschien. Zuerst starrte der Kerl mich erstaunt an. Schließlich erschien ein Lächeln auf seinen Lippen und er grinste mich lasziv an. „Na, warst du auf ein Stelldichein bei einem der Jungs? Kannst auch gerne bei uns halt machen."

„Als ob du eine Ahnung davon hättest, Bürschchen! Los, mach schon zu, ich muss weiter", fuhr ich ihm über den Mund.

Dieser Kerl war mindestens zwei Jahrgänge unter mir und fing mit seinem fünfzehn oder sechszehn Jahre wohl gerade erst an, die Genüssen zwischen zwei Körpern zu entdecken. Das gab ihm aber noch lange kein Recht, irgendjemand anderen auf diese Weise anzusehen oder zu verurteilen. Eigentlich könnte ich ihn mit diesem Verhalten melden, mir war es jedoch zu dumm, mich darauf zu konzentrieren, ich hatte heute entschieden andere Sorgen. Außerdem waren mir die Gerüchte um mich egal. Es stimmte schon, ich hatte mich bereits mit Jungs getroffen, jedoch hauptsächlich mit einem, und zwar mit Jeromei. Und das auch nicht so oft, wie andere vermuteten, denn meistens war ich einfach bei meinem Bruder gewesen, wenn ich mich frühmorgens wieder in mein Zimmer geschlichen hatte.

Der Junge brauchte einen Moment, bevor er meine Worte verstand, wobei er danach hastig die Halterung entfernte, um das Fenster zu schließen. Trotz des geschlossenen Fensters hörte ich das Johlen der zwei Jungs im Zimmer. Ich konnte mir denken, was für wilde Geschichten sich in ihren Fantasien abspielte, aber es war nicht wichtig. Nur die Prüfung war wichtig. Zu der ich zu spät kommen würde, denn in diesem Moment ertönte der erste Gong für die volle Stunde. Mist!

„Verdammt, Bei Salems Höllenfeuern, los jetzt", schalte ich mich selbst.

Rasch schwang ich mich auf das Regenrohr und kletterte mit geübten Finger- und Beinbewegungen nach oben. Der zweite Gong. Ein wenig außer Atem kam ich oben an. Der dritte Gong.

Hastig stieg ich vom Rohr auf den Sims und schob mich fest an die Außenmauer gepresst an der Fassade entlang. Dabei kratzten meine Finger über den Stein, schärften durch den Schmerz meine Sinne und Adrenalin half mir vollkommen fokussiert zu sein, während ich das erste geschlossene Fenster passierte. Vierter Gong. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und zwischen meinen Brüsten, obwohl der kühle Wind über meine Haut strich. Ich presste meine Lippen zusammen und rutschte weiter.

Der fünfte Gong erklomm beim übernächsten Fenster. Ich musste noch zwei weitere passieren, bis ich zu meinem Zimmer gelangte. Das würde knapp werden. Das nächste Fenster war zwar nicht ganz geöffnet, aber gekippt, weshalb mich die Mädchen darin bemerkten. Mit ihren Blicken folgten mir ebenfalls Beleidigungen und hämische Bemerkungen. Flittchen. Leichtes Mädchen. Die hat bald alle durch, so oft, wie die zu den Jungs schleicht. Lässt echt jeden ran. Wie die Mutter, so die Tochter. Verdammt, ich hatte nicht gewusst, dass meine Ausflüge bemerkt worden waren. Das war aber im Moment mein kleinstes Problem. Während ich weiter gehastet war, immer eine Hand abstützend an der Wand entlang, erklang der nächste Gong und vor mir war erneut ein weit offenstehendes Fenster. Na toll!

Kurz hielt ich inne, dann kam mir eine Idee. Ohne zu klopfen, strich ich mit den Fingern über die Stelle der Verriegelung, die das Fenster bei Wind offenhielt, und sang den entsprechenden Zauberton. Sofort schleuderte es die Entriegelung aus dem Schloss, und ich konnte eine Seite des Doppelfensters schließen, um über den Sims weiter zu rutschen und beim nächsten Gong geübt durch das offene Fenster in den Raum zu gleiten. Ich landete in Clerise' Zimmer auf dem Boden, gerade als sie in schicker Uniform für die Prüfung die Tür nach draußen zum Flur öffnete. Erschrocken wirbelte sie zu mir herum, wobei sich keine Strähne ihres langen blond, rosafarbenen Haares rührte, das sie zu einem strengen, hohen Dutt hochgesteckt hatte.

„Fainerrow Waterrain, was um Merlins Bart...", fluchte sie zuerst, doch dann kroch ein gemeines Lächeln auf ihre Lippen. „Natürlich. Hätte ich mir denken können. Nicht mal eine Nacht vor den Prüfungen, kannst du dich von den Jungs fernhalten. Erbärmlich. Du bist wie deine Mutter, eine Schande für die Hexenschwesternschaft."

Vor zweieinhalb Jahren, als wir nach dem Tod unserer Mum in dieses Internat gekommen waren, hatten mir diese Bemerkungen noch wehgetan. In der Zwischenzeit hatte ich mich daran gewöhnt und war abgestumpft. Besonders gegenüber den Verhöhnungen von Clerise, die sich aufgrund meiner halbmenschlichen Herkunft für etwas Besseres hielt. Nur weil ihre Kräfte stärker und weitreichender waren, bedeutete das nicht, dass sie ein besserer Mensch beziehungsweise Hexe war. In ihrem Fall eher das Gegenteil. In den ersten Wochen und Monaten hatte ich mir ständig Mums Worte in Erinnerung gerufen, um die beschissenen Tage voller Spott und Hohn zu überstehen. Ich war freundlich, mutig und wichtig. Nun ja, freundlich war ich nicht immer und bestimmt nicht zu jedem. Besonders Clerise hatte die Wirkung auf mich, meine Freundlichkeit fahren zu lassen. Daher konnte ich nicht anders als flapsig zu kontern: „Du klingst wie eine kaputte Schallplatte. Das war bereits vor zwei Jahren nicht mehr originell. Lass dir Mal was Neues einfallen, sei kreativ. Überrasch mich."

Diese letzten Worte hatte erst vor zwei Wochen unsere Lehrhexe Beana in Kräuterkunde zu ihr gesagt. Damals war Clerise knallrot im Gesicht angelaufen, was mich köstlich amüsiert hatte. Schnell hatte meine beste Freundin Soulin mir sicherheitshalber unter dem Tisch einen kleinen Tritt gegen das Schienbein verpasst, bevor ich laut los prusten konnte. Aber Clerise jetziger Gesichtsausdruck bei der Erinnerung daran, war fast noch besser. Dann kriegte sie sich wieder ein und holte tief Luft. Vermutlich, um eine weitere Schimpftirade oder einen gehässigen Kommentar vom Stapel zu lassen, doch da schob ich mich bereits grinsend an ihr vorbei und hinaus aus ihrem verdammten Zimmer.

„Danke für die Abkürzung. Und Clerise?"

„Was?", knurrte sie beinahe.

„Beeil dich, sonst kommst du noch zu spät zu deiner eigenen Prüfung. Was für ein Skandal."

Damit schlug ich die Tür hinter mir ins Schloss und lief grinsend den Flur entlang. Zur Unterstreichung meiner Worte, ertönte der letzte Gong zur vollen Stunde. Mist, nun war ich tatsächlich zu spät. Um Punkt sieben Uhr hatten sich alle Hexen, die in den Monaten Januar bis April Achtzehn wurde, vor dem Wohnhaus zu versammeln. Zwei Mal im Jahr fanden Prüfungen statt, die den jeweiligen Hexenteams ihre Ränge und in Folge ihre Mission zuordnete. Natürlich diente die Prüfung nur für eine erste Einstufung für den aktiven Dienst. Später verdiente man sich Ehrenabzeichen und stieg in der militärischen Hierarchie auf, je nach Leistung im Einsatz. Hastig sprang ich auf das Treppengeländer und ließ mich daran hinunterrutschen. Beim unteren Stockwerk hüpfte ich von dem Geländer nach zwei Schritten direkt auf das nächste. Im zweiten Stock rutschte ich zu glockenhellen Gesang und Gelächter hinunter. Mitten in der kleinen Aula, die sich in jedem Stockwerk vor den Treppen befand, saßen eine Gruppe zehnjähriger Mädchen mit drei Lehrhexen zusammen, die Lieder sangen und Bilder malten. Einige Mädchen flochten sich gegenseitig Zöpfe oder bemalten nebenbei ihre Fingernägel. Zwei Mädchen drapierten sogar mehrere Zöpfe um den Kopf einer Lehrhexe, die in der Mitte am Boden saß, zu einer kunstvollen Haarpracht, die jeden Berufsfrisör vor Neid erblassen ließe. Es war die Lehrhexe Luna, die mir seit ich hier war schon mehrmals aus der Patsche geholfen hatte und einer Ersatzmutter am nächsten kam. Ihr Haar war weiß, hell- und dunkelblau, was unglaublich majestätisch zu ihrer haselnussbraunen Haut aussah. Zwinkernd winkte ich ihr und den Kindern zu, worauf ich einen tadelnden Zeigefinger von Luna bekam. Ihr Kopf schüttelndes Lächeln milderte jedoch die Ermahnung, weil ich zu spät dran war. Sie konnte mir nie wirklich böse sein, egal was ich auch anstellte.

Erneut schwang ich mich auf Geländer und setzte meinen rutschenden Weg fort, bis ich ins Erdgeschoss gelangte. Als ich mit meinen Springerstiefeln auf dem dunkelrot, grau in Schachbrett gemusterten Marmorboden aufkam, schreckte ein Mann auf, der in einer Ecke gerade den Boden wischte.

„Tschuldigung. Und guten Morgen", rief ich ihm zu. „Lassen Sie sich von mir nicht stören, bin schon wieder weg."

Als die Putzkraft mich als Hexe erkannte, wandte er rasch das Gesicht ab und neigte respektvoll den Kopf nach unten. „Keine Ursache. Ebenfalls einen guten Morgen, Ma'am."

Bei dem ‚Ma'am' verzog ich das Gesicht. Normale Menschen behandelten uns immer mit übertriebenem Respekt, was sich manchmal komisch anfühlte. Wie in diesem Fall, wenn sich ein älterer Mann vor mir, einer achtzehnjährigen Göre halb verbeugte. Sicher, wir retteten tagtäglich Menschen bei anbahnenden Katastrophen das Leben oder schützen sie, indem wir versuchten den Krieg zu gewinnen. Aber dennoch. Für diese Überlegungen hatte ich im Moment jedoch keine Zeit, daher lief ich rasch durch die Eingangshalle, rutschte die letzten Meter geübt über den feuchten Boden und drehte mich an der Tür angekommen kurz zu den Stiegen um. Keine Spur von Clerise. Kannte sie eine Abkürzung oder war es ihr schlichtweg egal, zu spät zu kommen? Mit gerunzelter Stirn trat ich hinaus ins Freie, nur um dort zusammenzuzucken. Die anderen Prüflinge waren in Zweierreihe formiert und marschierten an dem Wohnhaus entlang nach Westen. Ich war tatsächlich zu spät.

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