One Look.

Müde lehne ich meinen Kopf an die kühle Scheibe des Wagons, der seine besten Tage schon lange hinter sich hat. Die Sitze der Metro, die mich nach Wellington bringen soll, sind abgenutzt und zum Teil zerrissen, die Scheiben gesprungen oder mit irgendwelchen Kritzeleien verunstaltet. Ich bereue die Entscheidung, mir am Flughafen, an dem ich vor knapp zwei Stunden aus Savannah angekommen bin, keinen Mietwagen genommen zu haben. Es ist spät am Abend und wenigstens bleiben mir schreiende Babys oder grölende Partygäste erspart. Bis auf eine ältere Dame, die in ihre Zeitschrift vertieft zu sein scheint, und einen Kerl, der leise schnarchend Station für Station verschläft, ist das Abteil leer. Seufzend umfasse ich meinen Nacken und richte mich auf, als der Wagon hin und her ruckelt und meine Schläfe unsanft gegen die Scheibe knallt. Das nächste Mal nehme ich ein Taxi und dafür auch das kleine Vermögen an zusätzlichen Kosten in Kauf. Dabei ist dieser Trip hier auch so schon teuer genug. Denn meine werte Schwester Lilian hat es zwar für nötig gehalten, mich zu ihrer Hochzeit einzuladen, aber für meine Reisekosten aufzukommen, ist dann doch zu viel des Guten. Und so durfte ich den Flug, das Bahnticket und die Hotelunterbringung allein und im Voraus bezahlen. Dank meiner Boutique in Savannah, die ich seit fast fünf Jahren erfolgreich führe, mangelt es mir nicht an Geld, aber am liebsten hätte ich auf die ganze Veranstaltung verzichtet und mir den Stress erspart. Lilian weiß, dass ich nur komme, weil unsere Eltern mir eine ziemlich lange Standpauke gehalten haben, als ich aus beruflichen Gründen absagen wollte.

Ich greife nach der Wasserflasche in meiner Handtasche und erhasche einen Blick auf die Einladung, die ich vor Monaten per Post erhalten habe. Ich muss lediglich dieses Wochenende überstehen, so schwer kann das ja wohl nicht sein. Die Metro fährt die nächste Station an und die Türen öffnen sich, um neue Fahrgäste einzulassen. Als ich den Kopf hebe, um zu überprüfen, ob mein überdimensional großer Koffer, der neben mir steht, jemandem dem Weg versperrt, schaue ich direkt in das Gesicht einer wahrgewordenen Frauenfantasie. Der Mann, der gerade eingestiegen ist und sich nun auf der anderen Seite auf einen der Sitze am Fenster niederlässt, ist mit ziemlicher Sicherheit das attraktivste Exemplar des anderen Geschlechts, das ich jemals gesehen habe. Glücklicherweise sitzt er weit genug entfernt, um ihn in Ruhe zu betrachten, ohne wie ein Stalker zu wirken. Der Fremde hat Kopfhörer in den Ohren und zieht einen Block aus seinem Rucksack, um ihn auf dem Schoß zu platzieren und zu zeichnen. Es ist seltsam, dass sein Äußeres mich so anspricht, obwohl er optisch eigentlich gar nicht mein Typ ist. Meine letzten zwei Beziehungen hatte ich mit Latinos, die eigentlich auch eher mein Beuteschema sind. Doch dieser Kerl mit den blonden Haaren, die einen dunklen Ansatz haben, dem hellen Teint und tiefblauen Augen hat was. Nur schade, dass er so gar keine Notiz von mir nimmt.

Ich erlaube mir ein paar Träumereien über eine gemeinsame Zukunft, die es niemals geben wird, und stelle mir vor, was sich unter den Stoffschichten seines Pullovers und der Jacke befinden könnte. Plötzlich hebt er seinen Kopf und schaut mir direkt ins Gesicht. Beschämt darüber, dass er mich beim Starren erwischt hat, senke ich den Blick und tippe ohne Sinn auf meinem Handy herum, als hätte ich die ganze Zeit über nichts anderes gemacht. Wie peinlich war das denn bitte?

Der Zug nimmt wackelnd die Fahrt wieder auf und ich vermeide jeden Augenkontakt mit dem hübschen Fremden. Stattdessen lehne ich meinen Kopf wieder gegen die Scheibe und lächle über die schönen Gedanken, die sich einschleichen. Der Ausdruck seiner blauen Augen war so intensiv, dass es einfach ist, sich einzubilden, dass ich ihn auch nicht komplett kalt gelassen habe. Doch ein kurzes Linsen durch meine Wimpern in seine Richtung, lässt diese Hoffnung wieder in sich zusammen fallen. Er konzentriert sich einzig auf seinen Zeichenblock und die präzisen Striche und Kreise seines Bleistiftes. Ich muss mich wohl oder übel damit abfinden, dass es nur bei kribbelnden Gedanken bleibt und dieses hübsche Exemplar Mann nur ein einziges Mal meinen Weg kreuzen wird. Mir bleibt nur eine kurzweilige Schwärmerei.

Der Zug fährt Station für Station ab und die Müdigkeit wird immer intensiver, als endlich die Haltestelle Belmont kommt. Beim nächsten Stopp muss ich aussteigen.

»Entschuldigung? Ich glaube, das gehört Ihnen, Miss.«

Ich zucke zusammen und reiße die Augen auf, als hätte man mich gerade aus einem Traum geweckt. Doch die Realität ist noch um einiges besser, denn vor mir steht der hübsche Fremde und sein Lächeln erhellt die dustere, stickige Atmosphäre des Wagons. In seiner Hand, die er mir entgegenstreckt, befindet sich ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich sollte etwas Cooles, Schlagfertiges antworten, doch stattdessen starre ich ihn einfach nur an wie eine Idiotin und greife wie in Zeitlupe danach. Er schenkt mir ein weiteres atemberaubendes Lächeln, richtet den Sitz seines Rucksacks und schlüpft durch die sich schließenden Türen auf den Bahnsteig.

Neugierig klappe ich das Blatt auf und blinzele mehrmals, als ich begreife, was ich hier sehe. Die Zeichnung, an der er gearbeitet hat, ist ein Porträt von mir. Ich kenne mich zwar nicht besonders gut mit Malerei oder Kunst aus, aber dieser Kerl hat eindeutig Talent. Es ist, als würde ich eine Fotografie ansehen. Die Details sind wirklich gut getroffen, sogar der Schönheitsfleck an meiner Wange ist ihm aufgefallen. Und was noch viel interessanter ist: Hat er, entgegen meiner Annahme, dass ich ihm gar nicht aufgefallen bin, eine Stunde damit verbracht mich zu zeichnen?

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Die Nacht im Hotel ist kurz. Mein Zimmer ist zwar nett eingerichtet, das Bett relativ bequem und der Lärm der Straße durch die gut gedämmten Fenster kaum zu hören, aber es fällt mir schwer, in den Tiefschlaf zu kommen. Wie jedes Mal, wenn ich meine eigenen vier Wände verlasse. Das zeigt sich auch am Morgen in meinem Spiegelbild, denn die dunkelen Ringe unter den Augen werden einiges an Concealer brauchen.

Seufzend beschließe ich, mir einen Kaffee an der kleinen Maschine zu machen, die glücklicherweise Teil der Ausstattung ist. Das Hotelzimmer, das ich online reserviert habe, verfügt nämlich auch über eine kleine Küchenzeile, die es mir immerhin ermöglicht, ein Heißgetränk zuzubereiten, um irgendwie funktionsfähig zu werden. Mein Blick fällt auf die Zeichnung, die mir am gestrigen Abend geschenkt wurde. Ich habe gestern noch ganz schön lange darüber geschmollt, dass darauf leider keine Telefonnummer zu finden ist. Lediglich die Signatur des überaus attraktiven Künstlers: WY. Sein Interesse war wohl wirklich nur künstlerischen Natur, sonst hätte er ja irgendwelche Kontaktdaten hinterlassen. Ich bin glücklich über das Bild und traurig, weil ich die Chance, einen netten Kerl kennenzulernen, habe verstreichen lassen. Seine Zeichnung bekommt einen Ehrenplatz in meinem Büro in Savannah.

Es klopft an der Zimmertür, während ich gerade über mögliche Interpretationen der Signatur grüble. William York, Warner Yarnell, Wade Young – es gibt eindeutig zu viele Möglichkeiten, um es irgendwie eingrenzen zu können. Ich öffne die Tür, in Erwartung, dass es der Zimmerservice ist, der mich fragen will, ob ich neue Handtücher oder Ähnliches brauche, doch es kommt anders.

»Hat hier jemand Chicagos schärfste Hochzeitsplanerin bestellt?«

Ich traue meinen Augen kaum, als ich die brünette Frau mit den unzähligen Sommersprossen im Gesicht wiedererkenne.

»Asana!«, rufe ich überrascht und stelle eilig meine Tasse ab, um sie in den Arm zu nehmen. »Was machst du denn hier?«, murmle ich in ihre Lockenpracht und sie lacht leise.

»Die Götter wollten es wohl so, liebe Cozi, denn ich bin zufälligerweise die Hochzeitsplanerin deiner Schwester«, erklärt sie und nimmt eine Armlänge Abstand, um mich von oben bis unten zu betrachten. In dem Sweatshirt mit dem Motiv meiner Lieblingsbaseballmannschaft, den Savannah Bananas, wirke ich neben ihrer wie aus dem Ei gepellten Erscheinung ganz schön underdressed.

»Nicht dein Ernst«, erwidere ich und lasse sie eintreten.

Asana hat sich seit unserer Highschool-Zeit kaum verändert, außer der paar kleinen Fältchen, die ihrem schlanken Gesicht allerdings nur noch mehr Ausdruck verleihen. Wir waren damals wirklich gute Freunde, Sitznachbarinnen und sogar in einer Tanzgruppe. Doch wie das Leben nun mal spielt, haben wir nach der gemeinsamen Schulzeit auf zwei verschiedenen Universitäten studiert und uns schlichtweg aus den Augen verloren.

»Da soll einer sagen, das Schicksal hätte keinen Humor, nicht wahr?«, erwidert sie breit grinsend und läuft in Richtung Schrank, an dessen Front mein Kleid für die Hochzeitsfeier hängt. Ich habe es gestern Abend extra noch an der Rezeption abgegeben, um es bügeln zu lassen.

»Oh mein Gott, ist das ein schönes Kleid«, sagt sie begeistert und fährt mit den Fingern vorsichtig, fast ehrfürchtig über den rosafarbenen Stoff. »Hast du das designt, Cozi?«

Ich nicke stolz, denn dieses Kleidungsstück hat mich ganz schön viele Nerven und abgebrochene Nadeln gekostet. Dafür ist das Endergebnis durchaus sehenswert und der Schnitt mit dem Träger, der nur über eine Schulter geht, ein Highlight.

»Aber lenk nicht ab.« Ich setze mich auf das Bett und schaue ihr dabei zu, wie sie durch das Zimmer tigert. »Woher wusstest du, in welchem Hotel ich bin?«

»Was glaubst du denn, wer zusammen mit dem Brautpaar die Gästeliste geschrieben hat, und protokollieren durfte, wer wo untergebracht ist? Als ich deinen Namen gesehen habe, bin ich vor Freude in die Luft gesprungen und wollte dich unbedingt kurz sehen, bevor die Vorbereitungen für die Trauung mich wieder fest im Griff haben.« Sie hebt den Briefbeschwerer, der auf dem Tisch steht, hoch und betrachtet ihn.

»So habe ich wenigstens eine Person, mit der ich mich unbeschwert unterhalten kann. Das ist beruhigend«, sage ich erleichtert.

»Und wir zwei Hübschen sitzen an einem Tisch, das habe ich bereits so arrangiert«, erwidert sie zwinkernd und betrachtet die Zeichnung, die ich liegengelassen habe.

Ich überlege, ob ich ihr von meiner kurzen und doch prägenden Begegnung mit dem hübschen Unbekannten erzählen soll, und entscheide mich schließlich dafür. Asana hatte schon immer das Talent, mit einem lockeren Spruch von trüben Gedanken abzulenken.

»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, ihn aufzuhalten, nach seiner Nummer zu fragen oder dich sonst irgendwie zu melden?«, fragt sie, nachdem ich ihr meinen Monolog vorgetragen habe. So viel zum Thema Aufmunterung.

»Ich war überrumpelt«, rufe ich aus. »Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass der potenzielle Vater deiner zukünftigen Kinder vor dir steht.«

»Stimmt, zu schade, dass er keine Nummer hinterlassen hat.« Asana scheint genauso traurig darüber zu sein wie ich und diese Solidarität ist irgendwie rührend.

»Ja, nur seine Signatur und die kann alles bedeuten. Es ist quasi unmöglich, ihn zu finden«, erwidere ich und lasse mich resigniert nach hinten auf das Bett fallen, um an die Decke zu starren.

»Hmh«, summt Asana, und als ich den Kopf hebe, begutachtet sie das Bild immer noch, als würde sie den Da-Vinci-Code entschlüsseln.

»Ist was?«, frage ich und sie zuckt leicht zusammen.

»Nein, nein. Es ist nur ...«, sie zieht die Schultern nach oben, »... wirklich gut gezeichnet.«

Das Blatt landet wieder auf dem Tisch und sie streicht sich mit den Händen über ihren hellbraunen Mantel. Ihre nachdenkliche Miene weicht dem lebensfrohen Lächeln, das absolut ansteckend ist.

»Ich muss leider los. Der DJ kann jeden Moment an der Location ankommen, um sein ganzes Equipment aufzubauen. Wir sehen uns später beim Empfang im Country Club?«

Ich nicke und wir verabschieden uns mit einer kurzen Umarmung, bevor sie mein Zimmer verlässt. Nachdem ich meinen abgekühlten Kaffee leer getrunken habe, beschließe ich, unter die Dusche zu steigen, um später keinen Stress zu haben. Vielleicht kann ich mich von meinem Traummann verabschieden, aber immerhin muss ich diese Feier nicht in peinlichen Smalltalk vertieft verbringen. Oder meiner Mutter erklären, warum ich so selten anrufe. Dass ich ursprünglich nicht einmal die Einladung annehmen wollte, hat durchaus seinen Grund. Ich fühle mich weder mit meinen Eltern noch mit meiner Schwester sonderlich verbunden. Bei meinem Glück falle ich unter den knapp dreihundert Gästen gar nicht auf und kann mich unmittelbar nach dem Anschneiden der Hochzeitstorte verdrücken. Es sollte mich mehr interessieren, doch ich weiß nicht einmal den Namen des Verlobten meiner Schwester und es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Alles, was zählt, ist, diese Hochzeitsfeier irgendwie zu überstehen, dabei nicht einzuschlafen und nicht allzu traurig zu sein, weil ich den hübschen Kerl aus der Metro wohl niemals wieder sehen werde.

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