[𝟓.𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥] 𝐃𝐞𝐢𝐧𝐞 𝐀𝐮𝐠𝐞𝐧 𝐬𝐢𝐧𝐝 𝐢𝐫𝐠𝐞𝐧𝐝𝐰𝐢𝐞 𝐰𝐢𝐞𝐝𝐞𝐫 𝐭𝐨𝐭𝐚𝐥 𝐥𝐞𝐞𝐫

Die Abendluft war kühl und Jan war sich ziemlich sicher, dass es wieder regnen würde, als er aus dem Taxi stieg.
„Vielen Dank. Du Hurensohn", sagte er zum Fahrer und gab ihm Trinkgeld. Er war sehr verständnisvoll und tolerant mit dem Tourettesyndrom umgegangen und außerdem hatte er den Weg hierher ziemlich schnell gefunden, obwohl die Bar von Lucas Bekannten ziemlich versteckt ein gutes Stück weit von Köln lag.
„Immer gern", erwiderte der Mann und steckte das Geld ein, kurbelte das Fenster hoch. Die Reifen knirschten auf dem Asphalt, als er losfuhr und Jan blieb einen Augenblick stehen, sah ihm nach. Sein Herz wurde schwer. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Er fröstelte, und das obwohl er seinen Mantel trug. Es hatte ewig gedauert, bis er ein Outfit gefunden hatte, mit dem er zufrieden gewesen war, und insgesamt hatte er sich dreimal die Haare gemacht, weil Gisela es die ersten beiden Male komplett sabotiert hatte. Noch anstrengender aber war es gewesen, sich einzureden, dass diese Nervosität nicht an Tim lag. Inzwischen hatte er es aufgegeben und akzeptiert. Es war ja auch verständlich - schließlich war zwischen ihnen ziemlich viel passiert und er hatte ihn seit acht Monaten nicht mehr gesehen. Er war einfach nur neugierig, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Und ansonsten hat es nichts zu bedeuten.

In Gedanken versunken ging er den restlichen Weg zur Bar entlang, sein Gesicht zuckte von leichten motorischen Tics. Je näher er kam, desto mehr Autos standen am Straßenrand. Er erkannte Freddies und Robs. Rewi und Lucas waren wahrscheinlich mit dem Taxi da, so wie ein Großteil der Leute.
Das von Tim sah er nicht. Aber vielleicht hatte er inzwischen auch ein neues, das er nicht kannte.
Schnell verdrängte er den Gedanken. Inzwischen war er bei der Bar angekommen. Es war eine seltsame Location, unfassbar abgelegen und je weiter man die Straße entlangging, desto schlechter war sie beleuchtet. Vor der schweren Tür blieb er stehen, starrte auf das dunkle Holz und versuchte, sich Mut zuzusprechen. Es ist nur ein Abend. Du schaffst das.
Dann drückte er die kühle Klinke herunter und trat nach drinnen.

Der süßliche Geruch von Shisha-Rauch und Alkohol schlug ihm gemeinsam mit lauter Musik entgegen. Die Bar war größer, als es von draußen ausgesehen hatte, mindestens doppelt so groß wie der Backstagebereich vom Bootshaus und sehr stilvoll eingerichtet. Dunkle Tische und Stühle säumten den vorderen Bereich und an ihnen saßen ein paar Leute, die er direkt erkannte, unter anderem Rob und Lucas. Im hinteren knickte das Gebäude bei der Bar ein Bisschen ab. Schwarze Lederhocker standen davor und darüber waren so viele Flaschen, wie er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatten bereits im Voraus darüber gesprochen und aus Rücksicht auf ihn hatte Rewi sich gegen eine besondere Beleuchtung entschieden. Stattdessen erhellten ganz normale Lampen den Raum mit gelben Licht.

Sebastian kam von der Tanzfläche herüber und winkte ihm zu. Er schwankte ein Bisschen.
„Alter, da bist du ja endlich", sagte er lachend und zog ihn in eine kurze Umarmung.
„Ich bin doch grade mal zehn Minuten zu spät", erwiderte er belustigt, „Alles Gute. Du kleine Kackamaus."
„Vielen Dank, auch an Gisela", er grinste ihn an, seine blauen Augen waren glasig und euphorisch, „Ist die Location nicht mega? Hab ich zu viel versprochen?"
„Nein, hast du nicht. Doch, verarscht, sie ist noch hässlicher als du."
Rewi nahm wie immer nichts ernst, freute sich über das Geschenk, das Jan ihm mitgebracht hatte und lenkte ihn dann direkt in Richtung der Bar, wo er sich einen Cocktail und Jan eine Rum-Cola bestellte.

Die nächste Zeit verging wie im Flug. Obwohl Nico wirklich richtig gute Cocktails mischte, hielt er sich mit dem Trinken zurück. Sie lachten viel, tanzten und auch wenn Jan Spaß hatte und sich auch mit den Leuten, die er nicht so gut kannte, gut verstand, fühlte er sich doch nicht hundertprozentig wohl. Tim war nicht da und am liebsten hätte er Sebastian gefragt, ob er noch kommen würde, traute sich aber nicht. Er wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass es ihm an diesem Abend um seinen Ex-Freund ging.
Später, als die meisten schon leicht angetrunken waren, stellte Rewi sich vor den Geschenktisch und klatschte laut in die Hände. Die Musik wurde leiser gedreht und es wurde ruhig im Raum. Alle sahen gebannt zu, wie er sich an die Tischkante lehnte, und sie angrinste. Tatsächlich wirkte er ein Bisschen unsicher.

„Also Leute, ich weiß, ihr könnt es vermutlich nicht mehr hören, weil ich schon seit über nem Jahr davon rede, aber ich hab jetzt endlich meinen Entschluss gefasst", er sah abwartend in die Runde, „Ihr wisst, dass ich schon seit fast eineinhalb Jahren darüber nachdenke, und ich hab jetzt endgültig beschlossen, dass dieser Dezember mein letzter als Youtuber und Streamer sein wird. Es wird wohl Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Nicht jeder ist wie Simon und Gronkh für immer für das Internet geschaffen."

Auch wenn es ein ernstes Thema war, brach Gelächter aus. „Dich wird eh keiner vermissen", rief Gisela und Lucas und Rezo drehten sich zu ihm um. Jegliche Unsicherheit schien von Rewi abgefallen zu sein als er mit den Schultern zuckte und ebenfalls lachte.
„Ja, ich glaub da hat Gisela Recht."

Danach gingen alle zu Sebastian, um mit ihm zu reden. Und weil er schon am Freitag mit ihm darüber gesprochen hatte, nutzte Jan die Zeit, um aufs Klo zu gehen. Er war dankbar, einen kurzen Moment von allem weg zu sein, als er die Treppen nach unten ging. Ein seltsamer Knoten hatte sich in seinem Magen gebildet und ihm war leicht übel, auch wenn er sich gleichzeitig vom Alkohol beschwingt fühlte. Eigentlich sollte ich froh sein, dass er nicht hier ist, dachte er, wütend auf sich selbst.

Bevor er wieder nach oben ging, betrachtete er sich im Spiegel. Seine Haare lagen perfekt, genauso wie das schwarze Hemd und die lange, dunkelblaue Jeans. Irgendwie war es ironisch, dass er so lange dafür gebraucht hatte, sich so ein einfaches Outfit rauszusuchen.
Als er den Kragen richtete, erstarrte er, weil plötzlich Bilder in seinem Kopf auftauchten, wie Tim ihn einmal heruntergeschlagen hatte, um ihn auf der Tanzfläche am Hals zu küssen. Er spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Es musste eine Ewigkeit her sein, und bisher hatte er sich gar nicht daran erinnert. Sie waren feiern gegangen an dem Tag. „Ich hab den schönsten Freund im ganzen Club - so wie immer. Du siehst toll aus."

Schnell wandte er sich vom Spiegel ab, weil sein Herz pochte. Am liebsten hätte er sich das Hemd sofort vom Leib gerissen, aber das ging nicht. Die Erinnerungen, die in seinem Stoff hingen, verblassten auch nicht, als er wieder oben war, wo inzwischen wieder laute Musik spielte. Die meisten hatten sich auf der Tanzfläche versammelt. Unsicher blieb er abseits stehen, weil er gerade mit niemandem reden wollte. Dafür war ihm zu übel.

Lucas stand an der Bar und winkte ihn zu sich, aber in dem Moment sah er eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Vielleicht hatte er ihn warnen wollen, aber dafür war es zu spät. Er war vollkommen unvorbereitet, als er sich umdrehte. Es kam ihm vor wie im Film, als würde die Zeit plötzlich stehen bleiben und nicht mal Gisela hatte etwas zu sagen. Stattdessen erstarrte er einfach nur, während die Tür der Bar zufiel und Tim durch den Gang auf ihn zusteuerte.

Alles an ihm war Jan sofort vertraut.

Seine Gangart.
Die Art und Weise, wie er die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeansjacke gesteckt hatte.
Dass er seinen Kopf beim schnellen Gehen leicht neigte.
Ein paar Strähnen seiner nassen Haare, die genauso lang und dunkel waren, wie er sie in Erinnerung hatte, hingen ihm in die Stirn.
Als er näherkam, trafen sich ihre Blicke und sofort fühlte er sich von seinen blauen Augen in den Bann gezogen. Einen Augenblick sahen sie sich einfach nur an und er konnte nicht verhindern, dass er in den Tiefen des tückischen Ozeans versank.
Aber es war nicht wie früher - und als er erkannte, wie beängstigend leer sein Blick war, riss er sich los, musterte ihn. Jetzt bemerkte er auch die anderen Dinge, die nicht in das alte Bild passten. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Die Akne, die noch schlimmer war als damals. Die tiefen, dunklen Augenringe. Und den ernsten Zug um seinen Mund.

„Hallo, Jan", sagte er mit rauer Stimme und einen Moment stand er immer noch erstarrt da, bevor er reagieren konnte. Er hatte diese Stimme so oft gehört, und trotzdem wirkte sie fremd. Sein Gehirn versuchte zu begreifen, dass der Mann, der gerade vor ihm stand, Tim war. Sein Ex-Freund. Sein ehemaliger bester Freund und Kollege. Aber er erkannte ihn in den glanzlosen Augen, in der tonlosen Stimme, einfach nicht wieder.
„Hallo", gab er trotzdem zurück und zwang sich dann, sich abzuwenden. Sein Herz raste und ihm war schwindelig. Das ist nicht Tim, schrie etwas in ihm, aber er erstickte die Stimme sofort. Er hatte sich verändert. Das war doch vollkommen normal. Und es konnte ihm egal sein.

Er ging zur Seite, in Lucas Richtung und bemerkte, dass er angestarrt wurde. Aber noch mehr wurde Tim angestarrt - kein Wunder, schließlich war der Einzige, der in der letzten Zeit etwas von ihm gehört hatte, Rewi gewesen.
Mit zitternden Händen bestellte er sich einen Drink und zwang sich, sich nicht umzudrehen, drängte die Erinnerungen, die Tims Anblick ausgelöst hatte, so gut es ging weg. Lucas kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich wollte dich gerade warnen. Er hat Sebastian vor ein paar Minuten geschrieben, dass er spontan doch noch kommt."

Also wollte er nicht kommen.

„Schon gut. Nein, eigentlich heule ich gleich." Peinlich berührt winkte er ab und lehrte den Drink in einem Zug, weil das Verlangen sehr stark war, das Glas zu werfen. Sein Herz raste immer noch viel zu schnell und er zitterte am ganzen Körper.
„Hey, man, alles okay?", fragte Lucas sanft und zog ihn zur Seite in eine Ecke, raus aus der Menge und weg von den anderen. Jans Blick fiel auf Sebastian, der in seine Richtung sah und besorgt die Stirn runzelte während Tim ihm ein kleines Geschenk überreichte. Tim. Seit er den Raum betreten hatte fühlte sich die Luft fiel schwerer an.
„Ja, alles gut", erwiderte er stur nochmal, aber sein Kopf schwirrte. Es schockierte und überforderte ihn, was die Begegnung mit Tim in ihm auslöste. Am liebsten wäre er nach draußen gegangen, in ein Taxi gestiegen und nachhause gefahren. In unsere Wohnung.

Aber es war nicht mehr ihre Wohnung. Und das war nicht mehr der Tim, den er gekannt und geliebt hatte. Es war ein Fremder.

„Jan, du siehst echt nicht gut aus", beharrte Lucas und sah ihn eindringlich an. Er wirkte noch vollkommen klar, klarer als Jan sich fühlte, „Sollen wir kurz mal ein Bisschen rausgehen?"
„Nein. Fick dich. He. Dieses Arschloch. Ich komm schon klar Lucas, nein komm ich nicht, Tim bedeutet mir nichts mehr."
Er sprach die Worte so scharf aus, wie er nur konnte. Lucas sah ihn an und nickte.
„Okay. Aber du kannst bei mir und Alina bleiben wenn du willst."
Er nickte abwesend und bestellte sich noch einen Drink. Alina sah ihn ebenfalls voller Mitleid an, aber er schüttelte nur den Kopf. Er würde sich nicht diese Party verderben lassen. Er würde sich nicht von Tim vertreiben lassen. Er würde einfach weiter Spaß haben und ihm beweisen, dass er auch ohne ihn glücklich war. Er hatte sich damals entschieden und ein Zurück war noch nie eine Option gewesen, also konnte er auch genauso gut den Abend genießen.

Trotzdem fühlte er sich die restliche Zeit wie gebrandmarkt. Alle, mit denen er sich unterhielt, behandelten ihn auf einmal seltsam, sahen ihn mit beunruhigten Blicken an, wenn sie glaubten, dass er es nicht bemerkte. Irgendwann, als er die Hitze nicht mehr ertrug, ging er nach draußen. Der kalte Nachtwind peitschte ihm den Regen ins Gesicht und endlich konnte er aufatmen. Trotz des Nieselns ließ er sich auf den Bordstein fallen, fuhr sich durch die schweißnassen Haare. Er hatte so viele Fragen, war sich aber sicher, dass ein Gespräch mit Tim seinen Schutzwall endgültig zum Einsturz bringen würde. Er musste sich von ihm fernhalten.

In dem Moment hörte er, wie jemand die Tür der Bar hinter ihm aufstieß und als er sich umdrehte, setzte sein Herz einen Schlag aus.

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So, das wars mal wieder. Ich war heute trotz Stress total motiviert und deswegen gibt's noch ein Kapitel. Ich bin echt gespannt, was ihr zu Tims Auftritt sagt und würde mich auch wirklich freuen, wenn vielleicht mal ein paar mehr Leute mir ihre Meinung schreiben würden, einfach damit ich besser einschätzen kann, ob euch die Geschichte gefällt. ^^

Danke trotzdem an alle, dass ihr mitlest und für eure Votes und Kommentare. ^^

Die Zeile aus dem Titel ist aus "Kein Lied" von Wincent Weiss. Das habe ich übrigens auch beim Schreiben gehört.

Und sorry für den gemeinen Cliffhanger :D

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