[𝟏𝟓.𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥] 𝐖𝐨 𝐝𝐢𝐞 𝐋𝐢𝐞𝐛𝐞 𝐡𝐢𝐧𝐟ä𝐥𝐥𝐭, 𝐬𝐭ü𝐫𝐳𝐞𝐧 𝐚𝐮𝐜𝐡 𝐰𝐢𝐫
Auch eine halbe Stunde nach dem Kuss war Tim noch völlig durch den Wind. Sie waren inzwischen wieder reingegangen und hatten den Tisch abgeräumt, aber gesprochen hatten sie kaum.
Als er sich aufs Sofa fallen ließ, pochte sein Herz immer noch viel zu schnell und das nur, weil er an den Ausdruck in Jans dunklen Augen zurückdachte. Er warf ihm einen Blick zu und beobachtete ihn, während er schon zum zweiten Mal den Tisch abwischte. Sein Gesicht und seine Hand zuckten.
Auf den ersten Blick wirkte er, als hätte das Ganze ihn nicht verunsichert, aber Tim kannte ihn gut genug, um die Anspannung in seinen Bewegungen und seinen Tics zu sehen.
Am liebsten wäre er zu ihm gegangen, und hätte ihn wieder geküsst. Aber ihm war bewusst, dass das keines der Probleme lösen würde, die zwischen ihnen standen.
Und sie mussten sie lösen – ansonsten würde all das hier etwas einmaliges bleiben und spätestens heute Abend wäre er wieder alleine und verzweifelt daheim – mit dem einzigen Unterschied, dass er dann auch noch die Erinnerungen an die letzte Nacht und den Kuss auf dem Balkon würde verdrängen müssen. Nur wie sollte er das überleben? Wie sollte er ertragen, ihn jetzt nach all der Zeit, nach all den Monaten, die er versucht hatte, über ihn hinwegzukommen, wieder zu verlieren? Und das so kurz nachdem er ihn wieder zurückbekommen hatte?
Ihm wurde schlecht, weil er die Antwort darauf kannte. Es durfte einfach nicht passieren. Also musste er einfach alles dafür tun, dass sie sich nicht wieder auseinander lebten.
Aber habe ich ihn denn überhaupt wieder zurückbekommen, nur weil wir einmal miteinander geschlafen haben? Hat es ihm überhaupt das Gleiche bedeutet?
Mit einem leisen Seufzer lehnte er sich zurück, strich abwesend mit der linken Hand über den dunklen Stoff des Sofas. Die Deckenlampe erfüllte den Raum mit warmen Licht, der ansonsten nur vom trüben Grau des Wintermorgens erhellt wurde.
Die vertrauten Wände schienen zu ihm zu sprechen und ihm von unzähligen Momenten zu erzählen, die sie hier gemeinsam verbracht hatten. Von Videodrehs, Filmabenden, von Nähe. Einen Augenblick lang gab er sich alldem hin, versank wie sooft in den Momentaufnahmen. Aber als er die Augen schloss, blitzten plötzlich seine Fingerabdrücke auf Jans Armen auf und zerrissen die schönen Erinnerungen. Ihm wurde schlecht – das Bild hatte sich wohl für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.
Eine wehmütige Trauer überkam ihn plötzlich und so unaufhaltsam, dass er aufstand. Er musste hier raus, sie mussten irgendwohin, wo ihn nicht alles an die Vergangenheit erinnerte. Und an seine Hände auf Jans Haut. Oder seine Lippen auf seinen. Sie mussten reden, ohne dass ihn das alles durcheinanderbrachte. Nur dann konnte er ihm vielleicht erklären, wie leid ihm tat, was damals passiert war. Und dass er es um alles in der Welt wieder gut machen wollte.
„Was würdest du davon halten, wenn wir ein Bisschen rausgehen?", fragte er vorsichtig und ging zu Jan rüber. In dem Moment brüllte Gisela „He. Nein, du Wichser, ich geh nirgendwo mit dir hin" und warf ihn mit dem Putzlappen ab.
Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, fing er ihn und holte aus, zielte auf Jans Gesicht. Aber als der sich duckte, warf er den Lappen stattdessen in die Spüle. Ein Lächeln konnte er sich trotzdem nicht verkneifen.
„Ja, können wir gern machen", erwiderte der Kleinere, als wäre nie etwas passiert, und grinste zurück.
„Wohin willst du denn?"
„Ich weiß nicht. In mein Arschloch rein.", er sah ihn unsicher an, aber als Tim loslachte, stimmte er mit ein, „Wie wärs mit dem Zoo?"
Sein Herz zog sich zusammen und das Lachen erstarb. Der Zoo. Da, wo alles angefangen hatte. Er nickte und wandte den Blick ab, wischte sich schnell und unauffällig über die Augen. Einen passenderen Ort hätte er nicht aussuchen können.
Zwanzig Minuten später saßen sie im Auto. Es war zwar ein kalter, aber wunderschöner Morgen. Die Sonne war inzwischen über der Stadt aufgegangen und die Autos der Menschen, die wohl in die Arbeit mussten, schlängelten sich vor ihnen durch die Straßen. Eigentlich sollte er heute einer von ihnen sein, aber alles war anders gekommen. Er hielt das Lenkrad fest umklammert und merkte, wie angespannt er war, weil Jan neben ihm saß. Nicht nur, weil er nicht einschätzen konnte, wie stark seine Tics im Auto mittlerweile waren, sondern auch weil es ungewohnt war, ausnahmsweise nicht alleine hier zu sitzen. Und dann ausgerechnet mit ihm.
Er hätte unfassbar gerne die rechte Hand auf sein Bein gelegt, aber er hielt sich zurück.
Der Parkplatz des Zoos war fast leer, als sie ankamen, was an einem ganz normalen Arbeitstag auch kein Wunder war. Tim hatte ein schlechtes Gewissen, als sie die Eintrittskarten kauften, und sah sich ein paar Mal unruhig um. Er wusste, dass er sich eigentlich nur verrückt machte, und dass niemand wusste, dass er blaumachte. Aber trotzdem verunsicherte es ihn ein Wenig, an einem öffentlichen Ort zu sein.
Jan gegenüber versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Er wollte nicht, dass er merkte, dass er gar nicht wirklich frei hatte. Schließlich war das Gespräch, das sie vor sich hatten, auch so schon schwer genug.
Nach einer Weile entspannte er sich dann, obwohl er sich ein paar Mal dabei erwischte, wie er nach seiner Hand greifen wollte. Aber dann wurde ihm jedes Mal wieder auf schmerzhafte Weise bewusst, dass auch wenn alles vertraut und wie früher wirkte, Jan es nur auf den ersten Blick war. Auf den zweiten, hatte er sich genauso verändert wie er selbst. Und nur weil sie miteinander geschlafen hatten, hieß das gar nichts.
„Was hast du eigentlich in den letzten Monaten gemacht?", riss Jan ihn aus seinen Gedanken, als sie gerade vor dem Elefantengehege standen, „Also, außer deine Ausbildung fertig. Immerhin musst du nicht bald hartzen – so wie ich."
Tim sah auf und runzelte die Stirn, musterte kurz Jans Gesicht. Aber der wirkte bis auf die Tics vollkommen entspannt. Trotzdem konnte er nicht anders, als sich wieder zu fragen, ob nicht vielleicht etwas dran war an dem, was Gisela andeutete. Vielleicht ging es ihm tatsächlich finanziell nicht so gut.
„Ich hab eigentlich nur gearbeitet. Ich wohn immer noch bei meinen Eltern", erwiderte er ehrlich. Er wollte ihm nichts vormachen – was würde es bringen, ihn anzulügen?
Trotzdem war er erleichtert, dass er nicht weiter nachfragte. Denn irgendwie wollte er ihm nicht erzählen, wie schlecht es ihm in der ganzen letzten Zeit gegangen war. Was die Monate mit ihm gemacht hatten. Was, wenn trotz der letzten Nacht und der Tatsache, dass er genau gewusst hatte, wie er seinen Kaffee mochte, all das hier für Jan nichts ernstes war? Wenn er ihn nicht auch so vermisst hatte wie er ihn?
Eigentlich traute er ihm das nicht zu. Jan hatte noch nie mit Gefühlen gespielt, und auch wenn Tim versuchte es zu verbergen, war er sich ziemlich sicher, dass es offensichtlich war, wie sehr er ihn zurückwollte.
Aber andererseits konnte es ja auch sein, dass er bald merkte, dass auch eine schöne Nacht und angenehme Gespräche nicht wieder gutmachen konnten, was damals passiert war. Schließlich war alles seine Schuld gewesen.
Um sich von diesen schmerzhaften Gedanken abzulenken, sah er den beiden Elefanten, die gerade draußen im Gehege standen, beim Fressen zu. Ihre langsamen, gleichmäßigen Bewegungen hatten irgendwie etwas beruhigendes an sich. Gisela war zwar damit beschäftigt, ihnen Beleidigungen wie „Langnasen" oder „Faltige Oma-Ärsche" zu zu rufen, und zog damit einige Blicke auf sie, aber es störte Tim nicht – im Gegenteil: Es munterte ihn auf, und als Jan dann plötzlich „Mein Rüssel ist länger als der" rief, konnte er kaum noch vor Lachen. Er hatte in den letzten Monaten vergessen, wie schön sich das anfühlte.
„Und was hast du gemacht?", fragte er dann, als sie weitergingen und sah Jan unauffällig von der Seite an.
„Ich habs ja eigentlich auch schon erzählt", er trug ausnahmsweise mal kein T-Shirt, sondern immer noch den grauen Pullover, den er vorhin schon auf der Terrasse angehabt hatte, als sie sich geküsst hatten. Und darüber den Mantel, der neu sein musste. Eine blasse Wolke bildete sich vor seinem Mund, während er sprach – auf eine bizarre Weise ähnelte sie dem Zigarettenrauch, den er sooft in die Luft blies. Tim fand ihn so schön, wie nie zuvor, „Ich suche nach einer Ausbildung, aber bisher will mich wegen dem Tourette niemand einstellen. Es ist echt nicht leicht – du glaubst nicht, wie viele Absagen ich bekommen habe – He. Die sind halt alle Arschlöcher –, auch wenn ich schon beim Vorstellungsgespräch war."
„Doch, das glaub ich dir sofort", gab er zurück und spürte ein Ziehen in der Brust. Es war so ungerecht, dass Jan keinen Job fand, nur weil er Tourette hatte. Schließlich konnte er absolut nichts dafür, und wollte wahrscheinlich mehr arbeiten als viele Leute, „Und das ist echt verdammt Scheiße. Ich hoffe, du findest bald was. Ein 450-Euro-Job bringt einen auf Dauer ja auch nicht weiter."
„Wem sagst du das", erwiderte der Kleinere und seufzte schwer, während sein Gesicht sich vor Tics verzerrte. In diesem Moment sah Tim für den Bruchteil einer Sekunde einen verletzlichen Ausdruck in seinen Augen. Sein Herz zog sich zusammen. Er wollte nicht, dass es Jan schlecht ging. Wie schwer musste es nur für ihn gewesen sein?
Ja, er hatte vielleicht Liebeskummer gehabt, aber immerhin hatte er sofort etwas arbeiten können, sobald das mit Youtube Vergangenheit gewesen war. Er hatte sich ablenken können, keine Angst um seine Existenz haben müssen. Aber Jan hatte es nicht so leicht gehabt. War das der Grund, warum es in seiner Wohnung so unordentlich war?
Er hätte es ihn unfassbar gerne gefragt, ihn unfassbar gerne in den Arm genommen, um ihn zu trösten, aber etwas in ihm lähmte ihn, genauso wie am Küchentisch auch schon. Und so ging er stumm weiter, ohne es überhaupt zu wollen. Während Gisela den Vögeln in der Voliere, an der sie vorbeigingen, zukrähte, zog er die kleine Schachtel aus seiner Jackentasche und holte eine der giftigen Zigaretten heraus. Was hielt ihn nur bei diesem Zeug? Er verstand es einfach nicht. Früher hatte er das Rauchen und Leute, die es taten, verabscheut.
„Warum rauchst du eigentlich? Du stinkst", fragte Jan ihn plötzlich, als er sie gerade anzünden wollte. Tim verharrte in der Bewegung und sah zu ihm, verlor sich augenblicklich in dem warmen, dunklen Grün seiner Augen. Er liebte sie so sehr. Er liebte diesen Jungen so sehr. Seine Hände begannen zu zittern, weil er am liebsten sowohl Zigarette als auch Feuerzeug fallen gelassen hätte, einfach nur, um stattdessen die Hände an seine Wangen zu legen.
„Ich weiß auch nicht", gab er traurig zu und fühlte sich auf einmal unfassbar zerbrechlich. Zwar sträubte sich immer noch alles in ihm dagegen, seine Gefühle zuzulassen, aber er wollte Jan auch nicht schon wieder abblocken. Vorhin am Küchentisch war durch seine abweisenden Antworten schon wieder ein Missverständnis entstanden, und wenn er an Jans traurigen Blick und seine noch traurigere Stimme dachte, wurde ihm schlecht.
Wie meinst du das?
Einen Atemzug lang herrschte Stille, eine schwere Stille in der nur die Geräusche ihrer Schritte auf dem Weg zu hören waren. Als er dann weitersprach, fühlte er sich elend. „Vielleicht habe ich einfach einen Ausgleich gebraucht. Ich habe erst nach ein paar Wochen angefangen – nachdem Patrick mir auf ner Party eine gegeben hat. An dem Abend ging es mir richtig schlecht. Und irgendwie hatte es etwas beruhigendes an sich – hat es auch immer noch. Ich weiß auch nicht."
Plötzlich blieb Jan stehen und sah ihn an. Seine Augen glänzten, als er nickte. „Irgendwie kann ich das verstehen, mir ging es auch nicht anders. He. Doch. Mir war es nämlich egal, ob du weg bist. Nein, war es nicht", er unterbrach sich und lachte unsicher auf, „Ich hatte auch das Gefühl, die Leere irgendwie füllen zu müssen, die du hinterlassen hast."
Tims Herz schlug schneller, und er ließ die Hände sinken, steckte sowohl Zigarette als auch Feuerzeug wieder ein. Er hat mich auch vermisst, schoss es aufgeregt durch seinen Kopf, aber es dauerte nicht lange, und die Freude wurde durch Angst ersetzt. Denn er wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, ihn zu fragen. Und dass er ihn nicht verpassen durfte.
„Und was war dein Ausgleich?" Seine Stimme war rau.
Jan zögerte, und eigentlich wusste er es in dem Moment schon. Eigentlich hatte er es die ganze Zeit gewusst – er kannte ihn einfach zu gut. Trotzdem traf es ihn wie ein Schlag, als er es aussprach. „Ich war viel unterwegs. Viel feiern. Und ich hab viele Jungs gefickt, die nicht so scheiße aussahen wie du."
An der Art und Weise, wie er seinem Blick auswich, konnte Tim sehen, dass es stimmte. Und ich hab nur an ihn gedacht, niemanden angefasst. Plötzlich hatte er das Gefühl wieder in das tiefe, wohlbekannte Loch zu fallen.
Während er schweigend neben Jan stand, vor irgendeinem Gehege, fühlte er auf einmal nur noch Leere. Wie hatte er auch nur einen Moment glauben können, dass Jan ihn aus der Dunkelheit ziehen würde?
Denn im Endeffekt war es doch seine Liebe zu ihm, die ihn seit Monaten immer wieder in sie hinabstürzte.
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So, da wären wir wieder, mit einem Kapitel, mit dem ich absolut nicht zufrieden bin. :D
Ich hoffe trotzdem, dass es euch gefallen hat. ^^ Nachdem ein paar von euch mir geschrieben haben, habe ich mich jetzt entschieden, dass keine Vergangenheitskapitel mehr kommen. Das ist mir persönlich auch lieber. ^^
Vielen Dank für fast 3000 Aufrufe und über 200 Votes. ^^ Es ist unglaublich, wie schnell diese Geschichte mit jedem Tag wächst. Vielen Dank für alles. Ihr motiviert mich, mich auch an stressigen Tagen wieder dranzusetzen. ^^
Lasst mir auch gerne jetzt wieder euer Feedback in den Kommentaren da.
Die Zeile aus dem Titel ist aus "Ende Blut, alles Blut" von Prinz Pi.
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