[𝟏𝟏.𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥] 𝐖𝐢𝐫 𝐰𝐞𝐫𝐟𝐞𝐧 𝐟𝐫𝐞𝐦𝐝𝐞 𝐒𝐜𝐡𝐚𝐭𝐭𝐞𝐧 𝐚𝐧 𝐬𝐨 𝐯𝐞𝐫𝐭𝐫𝐚𝐮𝐭𝐞 𝐖ä𝐧𝐝𝐞
Jan merkte gar nicht so wirklich, dass er etwas getrunken hatte. Und seltsamerweise war er auch noch nicht wirklich müde, und das obwohl es schon fast drei war. Nachdem Tim verschwunden war, war er noch eine Weile geblieben, hatte es aber nicht mehr so wirklich genießen können. Alle Erinnerungen und Gefühle, die er in den letzten Monaten versucht hatte zu verdrängen und zu überwinden, waren auf einmal wieder zu präsent gewesen, um sie zu ertragen. Und jetzt, auch noch Stunden später, fühlte er sich unfassbar verletzlich.
Trotzdem war er froh, dass er auf die Party gegangen war. Es war vor allem wirklich schön gewesen, Simon mal wieder persönlich zu treffen. Aber auch die anderen, zu denen er seit er mit Youtube aufgehört hatte, nicht mehr so regelmäßig Kontakt hatte. Ein paar Leute hatten ihn auf Tim angesprochen, aber er hatte es geschafft zu verbergen, wie es ihm damit ging, dass sie sich getroffen hatten. Und dass er so locker gewirkt hatte. Doch jetzt verriet ihn sein Herz, es raste allein davon, dass er daran zurückdachte. Normalerweise konnte Tim seine Gefühle eigentlich nicht gut verbergen - also war es vielleicht wirklich so, wie es rübergekommen war, und er kam gut damit zurecht.
Mit einem schweren Seufzer ging er zum Fenster, das zur Straße zeigte und begann währenddessen, sein Hemd aufzuknöpfen. Es war zu spät und die Erinnerungen waren zu frisch, als dass er seine Sehnsucht nach ihm hätte verdrängen können. Hier hatten sie gestanden, vor mehr als acht Monaten. Und jetzt hatte er sich abgeschottet, war völlig unnahbar und rauchte.
Aber das tut nichts zur Sache, du wirst ihn sowieso nie wieder sehen.
Er schaffte es nicht den Stich, den er bei dem Gedanken in der Brust spürte, zu ignorieren. Wehmütig zog er den Vorhang zur Seite, er wollte nach draußen in den Regen schauen, so wie damals. Der schwarze Stoff des Hemdes war mit einem Mal unangenehm auf seiner Haut. Morgen würde er es in irgendeine Kiste verbannen und es nie wieder hervorholen.
Als sein Blick dann nach unten auf die Straße fiel, erstarrte er in der Bewegung. Träume ich?
Er blinzelte, versuchte durch die Regentropfen in der Dunkelheit zu erkennen, ob er sich nicht doch irrte. Aber er erkannte ihn sofort. Tim stand auf dem Gehsteig. Er trug noch die selben Klamotten wie vorhin und seine Haare waren klatschnass, hingen ihm in die Stirn.
Was macht er hier?
Sein Gesicht verzerrte sich vor Tics als ihre Blicke sich trafen. Der Moment kam ihm endlos vor, und auch wenn das Glas zwischen ihnen stand, und er ziemlich weit weg war, raste sein Herz. Warum stand er auf einmal mitten in der Nacht vor seiner Wohnung?
Noch bevor er irgendwie weiter darüber nachdenken konnte, drehte er sich plötzlich um und ging. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und alles in ihm wollte ihn davon abhalten. Er sollte nicht gehen. Er sollte hier hoch kommen, mit ihm reden, ihn küssen, ihm nah sein. Egal was - Hauptsache, diese verdammte Distanz, die er vorhin das ganze Gespräch über gespürt hatte, verschwand wieder. Hauptsache sie lebten nicht mehr in verschiedenen Welten, wo sie doch jahrelang alles miteinander geteilt hatten. Auf einmal verstand er nicht mehr, wie er es acht Monate ohne ihn ausgehalten hatte. Und zum ersten Mal seit langem hinterfragte er seine Entscheidung von damals.
Wie versteinert stand er da, während Tim schon am Nachbarhaus vorbeiging. Was dachte er da nur auf einmal? Aber dann, plötzlich, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Dass er hierher gekommen war zeigte doch, dass ihn das alles doch nicht so kalt ließ, wie es vorhin gewirkt hatte.
Vermutlich war es nicht die beste Idee und würde alles im Nachhinein noch schlimmer machen, aber es war ihm egal. Er musste ihn fragen, warum er hier war.
Ohne noch weiter darüber nachzudenken, drehte er sich um und rannte zur Wohnungstür. Er konnte gar nicht anders. Wie sollte er jemals wieder ruhig schlafen, wenn er ihn jetzt nicht zur Rede stellte?
Er zog sich nicht mal eine Jacke über, schlüpfte nur schnell in seine Schuhe und sprintete dann nach unten. Der Weg aus dem vierten Stock kam ihm endlos vor, und als er die Eingangstür aufstieß und plötzlich die Geräusche des Gewitters auf ihn einstürzten, war Tim schon zwei Häuser weiter.
Er rief ihm nicht hinterher - zumindest nicht absichtlich. Aber als sein Tourette-Syndrom laut „Bleib stehen, du Vollidiot" durch die ganze Straße brüllte, erstarrte der Größere plötzlich in der Bewegung.
Bis er sich umgedreht hatte, war Jan bei ihm. Ein Stück entfernt blieb er stehen, der eiskalte Regen prasselte auf seine Haut und er zitterte am ganzen Körper, aber gleichzeitig war ihm warm, weil er bei Tim war. Und weil auf einmal alles ganz anders wirkte, als vorhin auf der Party. Als ihre Blicke sich trafen waren die blauen Augen nicht abweisend und unergründlich. Er sah Schmerz in ihnen und Sehnsucht. Die gleiche Sehnsucht, die er jeden Tag versuchte zu verdrängen. Und die ihn jetzt, wo er in seiner Nähe war, fast umbrachte.
„Was machst du hier?", stieß er zwischen zwei Atemzügen hervor. Die kalte Nachtluft brannte in seiner Lunge als er Luft holte und den Rauchgeruch einatmete, der auch vorhin schon die ganze Zeit an ihm gehaftet hatte. Er musste daran denken, wie er die Zigarette geraucht hatte, und wie viel Beherrschung es ihn gekostet hatte, nicht deswegen wütend zu werden. Tim verabscheute Rauchen eigentlich genauso wie er. Das ist nicht er. Das kann nicht wirklich er sein.
Tim lachte verlegen auf und fuhr sich durch die Haare, dann schüttelte er den Kopf und seufzte. Dieses Verhalten kannte er nur zu gut von ihm - er hatte ihn bei etwas ertappt, wobei er nicht hatte ertappt werden wollen. Sein Herz machte einen erleichterten Satz, weil er etwas an ihm wiedererkannt hatte.
„Ich bin nur zufällig vorbeigekommen", sagte er nüchtern, aber Jan hörte sofort, dass es eine Lüge war. Und auch wenn er nicht wusste, warum, klammerte er sich an die Hoffnung, dass da mehr hinter der Fassade steckte. Dabei war es eigentlich so absurd - schließlich hatte er damals mit ihm Schluss gemacht, und nicht umgekehrt.
„Mitten in der Nacht, obwohl du schon vor über zwei Stunden nachhause gegangen bist?", fragte er, „Lüg doch nicht."
Seine und Giselas Direktheit schien Tim noch mehr aus der Bahn zu werfen. Er sah zu ihm herunter und für den Bruchteil einer Sekunde flackerte ein Ausdruck über sein Gesicht, der Jan nochmal zusätzlich eine Gänsehaut bereitete. Er antwortete nichts, sie standen einfach nur im Regen und sahen sich an. Die Luft war elektrisiert vom Gewitter und der Spannung, die zwischen ihnen stand. Jan merkte, wie Wehmut ihn erfasste, als er ihn ansah und sein Blick über sein Gesicht glitt. Dieses Gesicht, das er sooft berührt hatte, diese Lippen, die er sooft geküsst hatte.
Ihm wurde schwindelig.
Und dann auf einmal riss etwas in ihm. Vielleicht die Geduld - vielleicht seine Zurückhaltung, so genau konnte er das in diesem Moment nicht sagen. Wieder überkam ihn plötzlich ein unbezwingbares Verlangen.
Und er erlag ihm. Er konnte es einfach nicht mehr länger ertragen. Es war einfach falsch, dass sie sich gegenüberstanden und doch so weit voneinander entfernt waren. Auch wenn er es versucht hatte zu verdrängen, vermisste er ihn so sehr. Und jetzt überwältigte es ihn so stark, dass er nichts dagegen tun konnte. Ohne darüber nachzudenken, ging er die paar Schritte in Tims Richtung und legte die zuckenden Hände auf seine Schultern. Als er den rauen Stoff der schwarzen Jeansjacke unter den Fingerkuppen spürte, erschauderte er.
Tim reagierte wie von selbst, so als hätte sie nie etwas getrennt. Es war wie früher, er schloss im Bruchteil eines Augenblicks den Abstand zwischen ihnen. Ein Blitz spiegelte sich in der Oberfläche des tiefblauen Ozeans, als er den Kopf senkte und seine Hand in die Wölbung von Jans Rücken legte.
Wie konnte sich etwas, das so lange her war, so vertraut anfühlen?
Er wollte etwas sagen, irgendwas. Etwas vernünftiges, das verhindern würde, was gerade dabei war zu passieren. Aber sein Mund war zu trocken. Er war erstarrt - vollkommen in seinem Bann. Und als ihre Lippen sich trafen, war er sich nicht sicher, wer von ihnen sich auf den anderen zubewegt hatte.
Das Gefühl, das plötzlich seinen ganzen Körper durchströmte, war intensiver als alles, was er in den letzten acht Monaten gefühlt hatte. Intensiver als jeder Kuss, jeder Sex, jedes Lachen und jedes Weinen. Er schmeckte nach Rauch, aber darunter kam trotz allem der vertraute Geschmack durch, den er so fest mit ihm verband. Wie konnte ich jemals glauben, dass es richtig war, sich von ihm zu trennen?
Als sie sich wieder voneinander lösten, schwirrte ihm der Kopf. Seine Hände waren in Tims Nacken gewandert, ohne dass er es gemerkt hatte, und jetzt strich er geistesabwesend über die ausrasierten Strähnen. In seinem Blick lag so viel Leidenschaft, dass ihm wieder schwindelig wurde. Seine Augen ließen Dinge ihre Farbe verlieren.
Er hat sich genauso danach gesehnt, wie ich.
„Jan, was...", sagte er mit rauer Stimme, die eine Gänsehaut über seinen Körper jagte, aber Jan schüttelte nur den Kopf und zog ihn wieder an sich.
„Nein, sag nichts", hauchte er bittend an seine Lippen, „Ich will nicht darüber nachdenken. Über nichts. Ich will einfach nur diesen Moment haben, egal was morgen ist."
Einen Augenblick erwiderte Tim nichts und Jan hörte nur sein wild schlagendes Herz und das Grollen des Donners. Dann legte der Größere seine Stirn an seine und nickte fast unmerklich.
„Okay."
Wieder küsste er ihn, zwar etwas sanfter, aber trotzdem nicht weniger leidenschaftlich. Jan ließ sich fallen, verdrängte jeden Gedanken, jeden Zweifel aus seinem Kopf und konzentrierte sich ganz allein auf das, was sein Körper und sein Herz ihm sagten. Er wollte Tim, mehr als alles andere. Er wollte ihm nah sein, er wollte mit ihm in ihre Wohnung gehen. In ihr Bett. Und dass er es nie wieder verließ.
„Komm mit", seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, als er den Kuss unterbrach, „Es ist kalt."
„Ach, ja? Mir ist ganz schön heiß", Tim grinste ihn an, und er konnte gar nicht anders - er musste lachen. Aber die Leichtigkeit hielt nur so lange an, bis er wieder in seine Augen sah. Die Sehnsucht, die sie ausstrahlten, versetzte ihm einen Stich.
„Mir egal, komm mit hoch", sagte er ernst. Als Tims Blick für den Bruchteil einer Sekunde unergründlich wurde, spürte er, wie sich sein Herz zusammenzog. Er wird nein sagen.
Aber dann nickte er. Langsam, aber entschlossen. „Bist du dir sicher?"
„Ich war mir noch nie mit irgendwas sicherer."
Auf dem Weg nach oben schwiegen sie sich an. Es war eine seltsame Stille, die nicht mal von Gisela durchbrochen wurde - so als wüsste sie, wie zerbrechlich das Eis war, auf dem sie sich bewegten. Vor der vertrauten Tür blieben sie stehen. Mit zitternden Fingern schloss Jan auf und ging rein.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich je wieder hierherkommen würde", flüsterte Tim und blieb unsicher im Treppenhaus stehen. Jans Herz zog sich zusammen, er wirkte so traurig.
„Ich auch nicht", erwiderte er dann wahrheitsgemäß und trat auf ihn zu, fixierte seinen Blick, „Du musst nicht, wenn du nicht willst."
Aber er lachte nur trocken und schüttelte den Kopf.
„Du weißt genau, dass ich es will."
Der Ausdruck in seinen Augen, als er sich zu ihm herunterbeugte, wühlte Jans Herz auf. Und einen Augenblick später lagen seine Lippen wieder auf seinen. Er erstarrte - alles in ihm brannte und wollte mehr, ihm noch näher sein. Aber er überließ ihm auf vertraute Weise die Führung. Tim zog die Haustür hinter sich zu, ohne sich von ihm zu lösen und lenkte ihn in Richtung Schlafzimmer.
Die Welt schien sich zuerst viel schneller und dann unendlich langsam zu bewegen. Nur Bruchstücke wurden ihm wirklich bewusst. Tims schockierter Blick, als er die Unordnung bemerkte und sein Lächeln, als er ihm das schwarze Hemd über den Kopf zog und seine Finger über seine Brust gleiten ließ.
Seine keuchenden und dann schweren Atemzüge.
Und die Sicherheit, endlich wieder mit jemandem vereint zu sein, dem auch sein Herz gehörte.
Alles andere verschwamm zu dem Gefühl von Haut auf Haut, Wärme, fahrigen, sehnsüchtigen Bewegungen und verlangenden Küssen. Die Schatten, die sie im gedämpften Licht der Nachttischlampen an die vertrauten Wände warfen, waren fremd, aber trotzdem hatte er sich nie irgendjemandem näher gefühlt, als die Welt sich auflöste, nur um sich dann in Tims Augen wieder zusammenzusetzen. Nicht, seitdem sie sich getrennt hatten.
Tim beugte sich zu ihm herunter, während ihre Atemzüge synchron langsamer wurden, küsste ihn zuerst sanft und zog ihn dann in seine Arme. Es war lange her, dass Jan sich so geborgen gefühlt hatte. Er wollte nicht, dass es schon vorbei war - dass er aufstand und ging und vielleicht nie wiederkam.
„Bleib. Nur heute Nacht", hauchte er in seinen Nacken, noch immer außer Atem und erschlagen von den Gefühlen, die seinen übernächtigen Körper erschütterten, „Bitte."
„Ich bleib so lange du willst", erwiderte Tim leise, und Jan konnte an seiner Stimme hören, dass er weinte. Und weil er wusste, dass es nichts zu sagen gab, schloss er einfach nur ebenfalls die Arme um ihn und zog ihn fester an sich.
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Achja, was soll ich großartig sagen? Ich denke, ihr habt genauso darauf gewartet wie ich. ^^
Kam es für euch unerwartet? Findet ihr, dass das der richtige Weg ist?
Ich persönlich bin mir da ja nicht so sicher. Ich bin so gespannt auf eure Meinungen. :D
Vielen Dank für über 1300 Aufrufe ^^ Fast jedes der Kapitel hat inzwischen über 100, was immer noch echt krass zu sehen ist. Und außerdem haben wir jetzt auch die 100 Votes geknackt. Freut mich sehr, dass ihr alle dabeibleibt. Lasst mir gerne wieder euer Feedback da. ^^
Die Zeile aus dem Titel ist aus "Sag meinen Namen" von Lupid.
Und es versteckt sich noch eine Zeile aus Prinz Pis "Du bist".
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