[𝟏.𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥] 𝐒𝐞𝐢𝐭 𝐝𝐮 𝐰𝐞𝐠 𝐛𝐢𝐬𝐭, 𝐛𝐢𝐧 𝐢𝐜𝐡 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐒𝐭𝐫𝐨𝐦

Als er aufwachte war das erste, was Jan spürte, ein leichter Schmerz im Hinterkopf. Langsam schlug er die Augen auf und bemerkte, dass helles Licht durch die Jalousien fiel, einzelne Punkte auf die Bettdecke malte. Er hatte sie wohl im Schlaf an sich gerissen, während der Junge neben ihm nur in T-Shirt und Boxershorts schlief. Er lag mit dem Rücken zu ihm gedreht und seine braunen Haare zeichneten sich dunkel auf dem weißen Kissenbezug ab.

Tim, dachte er unwillkürlich und merkte dann, dass ihm schlecht wurde. Natürlich war es nicht Tim. Auch wenn er noch gar nicht richtig wach war, sprang er auf und zog sich ein Shirt über. Die Erinnerungen an die letzte Nacht waren zwar verschwommen, aber er wusste noch genau, dass der Junge, den er nach dem Feiern mit Rewi, Lucas und Quentin mit nachhause genommen hatte, Leon hieß und wirklich nett war. Sie hatten eine schöne Nacht gehabt. Es war absolut ungerecht, dass sein erster Gedanke danach seinem Ex-Freund galt.

So leise wie möglich ging er zur Schlafzimmertür rüber und versuchte seine Tics zu unterdrücken. Als er sie dann aber öffnete und nach draußen trat, setzte Gisela sich doch durch und er knallte sie hinter sich zu. Einen Moment erstarrte er, versuchte zu hören, ob er den anderen aufgeweckt hatte, aber alles schien ruhig. Mit einem tiefen Seufzer ging er rüber ins Badezimmer und ignorierte das Chaos im Flur.
Dort angekommen spritzte er sich erst mal kaltes Wasser ins Gesicht. Dann stützte er sich auf dem Waschbecken ab und musterte sein Gesicht im Spiegel. Seine Augen waren noch rot vom Schlaf und seine Haare standen zu berge. Insgeheim war er erleichtert, dass seine Club-Bekanntschaft ihn nicht so sah. Er mochte es nicht, mit anderen Leuten aufzuwachen.
Dieses Privileg war immer Tim vorbehalten gewesen.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf den Klodeckel fallen und vergrub für einen kurzen Moment das Gesicht in seinen zuckenden Händen. Seit ihrer Trennung war es immer das Gleiche, wenn er jemanden kennenlernte. Am Abend, wenn ein Bisschen Alkohol mit im Spiel war und die Stimmung passte, lief alles gut, sie verstanden sich und kamen sich näher. Aber sobald er am nächsten Morgen aufwachte, musste er sofort an Tim denken. Dabei hatte er dieses schmerzhafte Kapitel eigentlich schon im März abgeschlossen.
Es war frustrierend. Er wollte einfach nur endlich mit jemand anderem weitermachen, einen Haken hinter das Ganze setzen, aber auch wenn er sich Mühe gab, klappte es einfach nicht. So wirklich verstehen, konnte er es nicht, denn eigentlich war er längst über ihn hinweg. Er hatte alle Fotos auf einen USB-Stick gepackt, die ausgedruckten weggeschmissen und seine Wohnung umdekoriert. Trotzdem war es immer noch seltsam in dem Bett, in dem sie gemeinsam gelegen hatten, mit jemand anderem aufzuwachen.

Einen kurzen Augenblick ließ er es zu, dass die Erinnerungen an damals ihn übermannten. Obwohl es schon acht Monate her war, kam es ihm immer noch wie gestern vor, dass Tim ausgezogen war. Dass sie ihr letztes Video gedreht hatten - ein unbeholfenes Statement indem sie erklärt hatten, dass sie aus privaten Gründen den Kanal aufgaben. Von ihrer Beziehung hatte die Öffentlichkeit nie etwas gewusst, und sie hatten es auch im Nachhinein nicht bekanntmachen wollen. Das war vermutlich das Einzige gewesen, indem sie sich seit langer Zeit einig gewesen waren.

Er biss die Zähne zusammen und stand auf, verdrängte die Gedanken an damals und machte sich stattdessen unbeholfen seine Haare. Sein Tourette meinte es heute nicht gut mit ihm und es dauerte fast zehn Minuten, bis er zufrieden war. Danach putzte er sich noch die Zähne und als ihm wirklich absolut nichts mehr einfiel, ging er schließlich zurück ins Schlafzimmer. Er fühlte sich unwohl, als er die Tür öffnete, auch nur in T-Shirt und Boxershorts. Noch bevor er wirklich realisierte, dass Leon doch aufgewacht war, ging er rüber zu seinem Schrank und nahm sich eine schwarze Jogginghose von dem Haufen, der sich seit einiger Zeit auf dem Boden davor auftürmte.

„Musstest du die Tür so zuknallen?", fragte der braunhaarige Junge und auch wenn es nur ein Spaß war, fühlte es sich wie keiner an.
„Sorry, das war ein Tic. Du Arschloch", gab er nur zurück und setzte sich dann mit dem Rücken zu ihm aufs Bett. Er hörte Schritte hinter sich und dann stand der Junge vor ihm, sah zu ihm hinab. Sein ganzer Körper kribbelte unangenehm, als er ihm einen kurzen Blick zuwarf. Auf einmal war ihm schlecht beim Gedanken an die letzte Nacht.

Dabei sah er wirklich gut aus: Markante Kieferknochen, ein dunkler Dreitage-Bart, der sie betonte und längere, weiche Haare, die jetzt auf der einen Seite von seinem Kopf abstanden und auf der anderen plattgedrückt waren. Dazu dunkle, blaue Augen und ein warmes Lächeln. Eigentlich war er genau sein Typ. Aber trotzdem merkte er, dass die ganze Magie von gestern Abend verschwunden war. Er war einfach nur ein hübscher Mann - mehr nicht.
„Was ist denn los mit dir? Schlecht geschlafen?", fragte er und griff nach seiner Hand.
Finger weg, sonst schneid ich sie ab", rief Gisela und er riss sich mit einem Tic los. Irritiert zog der Größere die Hand weg und lachte dann peinlich berührt.
„Ich glaub daran muss ich mich echt noch gewöhnen." Er sagte das, als wollte er ihn wiedertreffen. Als hätte er Interesse an etwas längerfristigen, festen.

Und eigentlich hatte er das auch, aber irgendwie ging es nicht, passte es einfach nicht. Was auch immer der Grund war - irgendetwas sorgte dafür, dass er ihn am liebsten sofort zur Tür gebracht hätte.
„Ich will dir nichts vormachen", erwiderte er also und stand auf. Es fiel ihm schwer, ihm in die Augen zu sehen, aber er zwang sich dazu, „Ich finde dich nett. Wirklich. Aber ich glaube ich bin noch nicht bereit für etwas festes. Für mehr als einen One-Night-Stand. Meine letzte Beziehung ist noch nicht so lange her."
Nur acht Monate, dachte er matt, Und eigentlich müsste man meinen, dass das genug Zeit wäre um etwas zu vergessen. Um jemanden zu vergessen. Aber anscheinend war dem nicht so.

Leons Gesichtszüge verhärteten sich und von einer Sekunde auf die andere waren alle Gefühle aus seinen Augen verschwunden. Es war beängstigend.
„Ach ja? Und das fällt dir jetzt auf? Nachdem wir Sex hatten und ich bei dir übernachtet hab?"
Mit einem Seufzer fuhr Jan sich durch die Haare. Er wollte einfach nur, dass das vorbei war.
„Ich habe nie gesagt, dass ich eine Beziehung will. Wenn ich dir falsche Hoffnungen gemacht habe, tut es mir leid. Check doch, dass du scheiße bist."

Bei dem Tic flammte doch kurz Wut über Leons Gesicht, bevor er sich dann wieder unter Kontrolle hatte. Er zuckte mit den Schultern, betont lässig. „Na gut, deine Sache. Dann verpiss ich mich eben."
Ohne ein weiteres Wort warf er sich seine Klamotten über, griff nach seinem Schlüssel und seinem Handy und war noch bevor er ihm in den Flur folgen konnte zur Tür raus. Jan seufzte nochmal, ging rüber in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. Er fühlte sich seltsam leer und ausgelaugt - diese kleine Diskussion hatte ihn bereits all seine Kraft gekostet. Dabei machte er ihm ja gar keinen Vorwurf. Es war nicht schön, nur ein weiterer Junge auf einer Liste zu sein, wenn man sich mehr erhofft hatte.

Die Zeit, die der Kaffee brauchte, um durch die Maschine zu laufen, nutze er, um Murat zu füttern, den kleinen schwarzen Kater, den er vor knapp einem Jahr aus dem Tierheim geholt hatte. Er war noch jung und nur sein Gesicht und seine Pfoten waren weiß-gefleckt. Liebevoll strich er ihm schnurrend um die Beine und Jan beugte sich zu ihm runter, kraulte ihn hinter den Ohren.

„Na, alles gut? Katzenfleisch." Er war wirklich froh, dass er ihn hatte und dass er inzwischen keine Angst mehr vor den Tics hatte. An manchen Tagen am Anfang, war er sein einziger Halt gewesen und auch jetzt tröstete ihn seine Anwesenheit zumindest ein Bisschen.

Während er seinen Kaffee trank, durchsuchte er wie immer am Laptop die Stellenangebote für Ausbildungsplätze. Er hatte im letzten halben Jahr wieder so viele Bewerbungen geschrieben, dass er aufgehört hatte zu zählen, aber trotzdem war niemand bereit, ihn mit seinem Tourette einzustellen. Dabei war es die traurige Realität, dass er trotz dem Nebenjob in der Buchhaltung einer Kanzlei, den sein Vater ihm vermittelt hatte, bald nicht mehr genug Geld hatte, um sich die Wohnung weiter zu finanzieren. So viel hatte Youtube schließlich auch nicht abgeworfen und sie hatten es ja auch noch durch zwei geteilt. Außerdem nervte es ihn, dass er mit fünfundzwanzig immer noch nur jobbte. Alle seine Freunde waren inzwischen ausgelernt. Er wollte wieder etwas richtiges machen.

Sobald die Tasse leer war, ging er wieder ins Schlafzimmer und machte sich fertig. Es zog ihn nach draußen in die Winterkälte. Obwohl es erst Ende November war, schien endlich mal wieder ein richtig kalter Winter übers Land zu ziehen. Er streifte sich einen schwarzen Mantel über, den er noch nicht lange hatte, und der gut zu seiner karierten Hose passte, und griff sich den Schlüsselbund von der Ablage neben der Tür.

„Bis später, Murat", rief er seinem Kater zu, der von seinem Platz auf dem Sofa aufschaute, als er zur Tür ging.

Unten schlug ihm die eiskalte Winterluft entgegen. Es hatte zwar noch nicht geschneit, aber trotzdem bedeckte Reif den Hof und die Pflanzen und alles wirkte weißgrau. Seine Schritte hallten leise auf dem Asphalt wider, als er nach rechts und die Straße runter ging. In den letzten Monaten hatte er sich angewöhnt, durch schmale Seitengassen zu laufen, wenn er spazieren ging, denn auf den Hauptstraßen, auf Plätzen und in Parks wurde er immer noch häufig erkannt und die Leute fragten nach, was passiert war. Es war unangenehm sie abspeisen zu müssen.

Normalerweise hätte er sich auf die Weihnachtsmärkte gefreut, auf Glühwein und Lichter. Das Fest der Liebe. Aber nach allem, was passiert war und weil es mit nichts voranging, fühlte er sich nicht mehr danach. Stattdessen wollte er einfach nur, dass der letzte Monat des Jahres möglichst schnell vorbeiging. Vielleicht hielt das Neue ja etwas besseres für ihn bereit.

In den schmalen Straßen kamen ihm kaum Leute entgegen und es war angenehm, ausnahmsweise mal nicht angestarrt zu werden. Er musste wieder daran denken, wie Leon auf seine Tics reagiert hatte. Als er an den aggressiven Ausdruck in seinen Augen zurückdachte, bekam er eine Gänsehaut.

Mit einem Seufzer blieb er in einer verlassenen Straße stehen und ließ sich auf eine kleine Mauer gegenüber von einem Häuserblock fallen. Das belebende Gefühl, dass er sich von dem Spaziergang erhofft hatte, wollte einfach nicht eintreten. Stattdessen musste er daran denken, dass es nur einen einzigen Menschen gab, der jemals ihn und Gisela geliebt hatte und sein Tourette nicht einfach nur akzeptiert hatte, um ihn zu lieben. Zwar versuchte er jeden Tag nach vorne zu schauen, aber trotzdem konnte er manchmal nicht anders, als sich zu fragen, was er inzwischen machte. Wie sein Leben aussah. Er hatte Quentin und Patrick vor ein paar Monaten mal nach ihm gefragt, aber sie hatten ihm erzählt, dass auch sie keinen Kontakt mehr zu ihm hatten. Er war nicht nur aus seinem Leben verschwunden, es war als hätte es ihn nie gegeben.

Und gleichzeitig war es kein Bisschen so. Denn da waren die ganzen Erinnerungen, die er Tag für Tag verdrängte. Seine Entscheidung war die richtige gewesen, da war er sich sicher. Aber obwohl er das wusste und er eigentlich optimistisch war, war es so unfassbar schwer, nach vorne zu schauen. Ihn zu vergessen.

Er vergrub das Gesicht wieder in den Händen. Heute war eindeutig kein guter Tag. Am besten war es wohl, wenn er wieder zurückging, und die restliche Zeit Serien schaute. Vielleicht sollte er einfach gar nicht mehr versuchen, jemanden kennenzulernen. Und gleichzeitig hatte er nicht das Gefühl, dass irgendetwas anderes ihm jemals helfen konnte. Es war zum verrückt werden.

Wie konnte es sich nach acht Monaten immer noch so anfühlen, als wäre es erst ein paar Tage her? Wie konnte der Schmerz immer noch so präsent sein?

Insgeheim kannte er die Antwort. Tim war sein Antrieb gewesen. Und seit er weg war, war er ohne Strom.

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So, das wars mit dem ersten Kapitel und diesem kleinen Einblick in Jans Alltag. Ich hoffe es hat euch gefallen und ich konnte die deprimierte Stimmung gut vermitteln. Mich hat es zumindest beim Schreiben deprimiert :D

Die Zeile aus dem Titel ist übrigens aus "Laura" von Prinz Pi.

Lasst mir gerne euer Feedback oder Anrengungen da. ^^

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