{6.𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙} 𝑊𝑖𝑛𝑡𝑒𝑟𝑠𝑐ℎ𝑙𝑎𝑓

Januar 2023

Der Winter hatte seine Schneedecke über der Stadt ausgebreitet und vor den Fenstern wirkte alles grau und einsam. Tim lag im Bett und starrte an die Decke, es war vollkommen still bis auf Jans gleichmäßigen Atem neben ihm. Die letzte Nacht war verschwommen, auch wenn er nicht wirklich viel getrunken hatte. Sie waren erst vor knapp fünf Stunden nachhause gekommen, weil sie die Silvesternacht mit allen anderen Youtubern auf der Party verbracht hatten, die Rezo gemeinsam mit Rewi, Lucas und Jodie organisiert hatte. Alle waren da gewesen – sogar Freddie, der im Herbst aufgehört hatte. Und Simon war extra mit Sabine, Jan, Ana und Chengiz von Madeira gekommen, um mit ihnen ins neue Jahr zu starten und alle mal wieder zu sehen.

Es war ein großartiger Abend gewesen, und für ein paar Stunden war es ihm tatsächlich gelungen, zu verdrängen, wie stressig die Weihnachtsfeiertage gewesen waren. Zwar hatten sie in der Zeit die Uploads pausiert, aber dadurch hatte er nur noch mehr das Gefühl, dass sie den Zuschauern danach etwas umso besseres bieten mussten.
Und dann war da noch das ganze Chaos mit Jan, dass ihn absolut fertig machte. Seit Wochen stritten sie sich immer häufiger und sein Freund zog sich mit jedem Tag mehr zurück. Sogar an Weihnachten hatte es eine kleine Auseinandersetzung gegeben.

Immerhin war Jan zumindest gestern ziemlich losgelöst gewesen. Wenn man von dem absah, was kurz nach Mitternacht passiert war. Die ersten zehn Minuten hatten die meisten drinnen mit ihnen gewartet, aber danach waren von Zeit zu Zeit immer mehr rausgegangen, um auch Raketen und Böller zu schießen. Wenn er an das, was danach passiert war, zurückdachte, war ihm immer noch schwindelig. Jan hatte sich absolut untypisch verhalten, hatte ihn auf einmal angefahren, weil er ihm angeboten hatte, bei ihm zu bleiben, und solange darauf bestanden, bis er es schließlich aufgegeben und ihn allein gelassen hatte.

Das war nicht das erste Mal in der letzten Zeit gewesen, dass Jan ohne Grund wegen irgendwas überreagierte – er war so empfindlich wie noch nie. Einerseits konnte er es ja verstehen – er hatte momentan nicht so viel Zeit für ihn und in den letzten Wochen ein paar Sachen gemacht, die nicht okay gewesen waren. Aber andererseits wünschte er sich oft auch mehr Verständnis von seinem Freund. Irgendwie kam ihm das Problem unlösbar vor, denn jedes Mal, wenn sie versuchten normal darüber zu reden, wurde einer von ihnen laut. Seit er das Treffen auf dem Weihnachtsmarkt vergessen hatte, wurde eigentlich jedes Gespräch über ihre Gefühle zu einem Streit.

Mit einem leisen Seufzer setzte er sich vorsichtig auf, um Jan nicht zu wecken. Der Kleinere lag neben ihm und hatte das Gesicht in seinem Kissen vergraben. Tim musste lächeln. Am liebsten hätte er ihn mit einem Kuss geweckt und ihn an sich gezogen – so wie früher. Aber sie waren sich so lange nicht mehr nah gewesen, dass er sich nicht sicher war, ob das eine gute Idee wäre. Vor allem nach Jans Verhalten gestern.
Während er weiter an die Zimmerdecke starrte, wanderten seine Gedanken zur Tagesplanung. Sie waren um zwei bei Marion und Frank zum Essen eingeladen und Abends mussten sie noch etwas drehen. Und irgendwann musste er den Vlog von gestern Abend noch schneiden. Als er es schließlich nicht mehr aushielt, griff er nach seinem Handy und checkte sein Social Media. Er hatte unfassbar viele DMs auf Instagram, war in mindestens hundert Storys markiert worden, und Rewi hatte ziemlich viele lustige Bilder in die WhatsApp-Gruppe geschickt. Aber so wirklich freuen konnte er sich nicht darüber.

Er warf nochmal einen kurzen Blick zu Jan und stand dann auf. Es war inzwischen fast zehn und nachdem er sowieso nicht mehr schlafen konnte, konnte er auch genauso gut Frühstück machen.
An der Tür drehte er sich dann doch zu ihm um und und sah, dass er sich auf die Seite gedreht hatte. Hoffentlich hab ich ihn nicht geweckt.
In Gedanken verloren ging er in die Küche und warf dort einen genaueren Blick aus dem Fenster. Es lag so viel Schnee, dass man leicht einen ordentlichen Schneemann bauen könnte. Eigentlich wäre das eine schöne Videoidee.

Während er den Kaffee kochte und Semmeln aufbackte, sah er am Laptop die Geschäftsmails durch, aber etwas interessantes war nicht dabei. Er wartete schon seit über zwei Wochen auf eine Rückmeldung vom Berliner Epilepsiezentrum, das sie zu einem Dreh eingeladen, aber sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte. Genervt fuhr er sich durch die Haare und klappte den Bildschirm dann runter. Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, schon mal mit dem Schneiden anzufangen, aber dann fiel ihm auf, dass die Kamera im Schlafzimmer lag.
Also stellte er die Maschine so ein, dass sie den Kaffee warmhielt und verbrachte die nächste Stunde auf dem Sofa. Er schaute etwas Youtube, war aber irgendwie die ganze Zeit unruhig. Es war seltsam, nichts tun zu können, obwohl sie heute noch so viel vorhatten. Er freute sich zwar auf den Besuch bei Jans Eltern und vor allem auf das Essen, aber trotzdem hatte er Angst, dass er deswegen nicht mehr alles schaffte. Hoffentlich wachte Jan bald auf.

Irgendwann war dann das leise Quietschen der Schlafzimmertür zu hören. Mit klopfendem Herzen hielt er das Video an und ging in den Flur. Als er Jan sah, musste er trotz allem lächeln. Seine braunen Haare waren zerzaust und sein T-Shirt zerknittert. Er sah unfassbar süß aus.
Er wusste, dass Jan es nicht sonderlich mochte, wenn er ihn so verschlafen sah, aber trotzdem zog er ihn an sich und küsste ihn aufs Haar. Sie waren feucht und auch auf seiner Stirn stand Schweiß.
„Alles okay?", fragte er ihn sanft und Jan legte seinen Kopf kurz auf seine Schulter. Aber Tim merkte, dass er angespannt war.
„Ja, ich habe nur nicht so gut geschlafen", erwiderte er und als Tim sich von ihm löste und sich zu ihm herunterbeugte, um ihn zu küssen, schlug sein Herz erleichtert schneller. Er schloss die Augen und ließ sich fallen, zumindest für einen kurzen Moment. Egal wie gestresst er war, wann immer er Jan nah sein konnte, war es wie eine Erlösung und er konnte endlich mal kurz abschalten. Viel zu schnell war der Kuss wieder vorbei. Sein Freund lächelte.
„Ich muss jetzt echt duschen. Sonst stink ich am Ende so wie du."

Er lachte und nickte, sah ihm nochmal kurz in die Augen. Trotz des schönen Momentes gerade hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte – und es lag nicht nur daran, dass er unausgeschlafen und verkatert war. In den nächsten zwei Stunden ergab sich aber keine Gelegenheit, es anzusprechen, weder beim Frühstücken, noch als sie sich fertigmachten. Und auch nicht in der Zeit dazwischen, weil er da das Video schneiden musste. Im Auto unterhielten sie sich über den Abend gestern, aber Jan wich immer wieder aus, als er versuchte ihn auf seine plötzliche Wut anzusprechen. Irgendetwas beschäftigte ihn, aber Tim war bewusst, dass es nichts bringen würde, ihn zu drängen. Jan war schon immer jemand gewesen, der von sich aus zu einem kam, wenn er über etwas reden wollte.
Sogar Gisela war heute den ganzen Tag ziemlich ruhig, was wohl mit Jans Müdigkeit zusammenhing, und tatsächlich schlief sein Freund auf der Fahrt nach Bonn wieder ein. Auch wenn Tim gerne Auto fuhr, bedrückte ihn die Stille ein Bisschen. Als er dann eine knappe Stunde später auf den Hof von Jans Elternhaus fuhr und anhielt, wachte Jan auf.

„Wir sind da", sagte Tim sanft und sein Freund sah verschlafen zu ihm auf. Seine dunkelgrünen Augen waren verschleiert vor Müdigkeit. Einen kurzen Augenblick sahen sie sich einfach nur an, aber als Tim sich gerade zu ihm runterbeugen wollte, um ihn zu küssen, wandte er sich ab und stand auf.
„Komm, lass uns reingehen. Fotze"
Mit aller Kraft hielt er seinen Frust zurück. Er wollte vor Jans Familie keine Diskussion anfangen, aber es tat ihm gleichzeitig unfassbar weh, dass er ihn so abblockte. Hatte er irgendwas falsch gemacht? Er dachte an gestern zurück, aber ihm fiel absolut nichts ein.

Marion empfing sie herzlich und es folgte eine halbe Stunde aus Begrüßungen und Umarmungen. Fast Jans ganze Familie war gekommen – so wie jedes Jahr – und obwohl er sie eigentlich alle gern mochte, fiel es ihm schwer, sich auf die Gespräche zu konzentrieren. Es wurde gefragt, wie es mit dem Kanal lief und noch vor dem Essen war er mit Jans Vater und seinem Onkel in ein Gespräch über Steuern und Einnahmen vertieft, dass ihn ziemlich fiel Kraft kostete. Vor allem weil Jan neben ihm saß und kaum ein Wort sagte.
Als dann schließlich Marion und Gabi das typische Neujahrs-Gulasch hereintrugen, wurde endlich das Thema gewechselt. Jeder erzählte von seinem Silvesterabend und Gisela rief jedes Mal, wenn jemand das Wort „Feuerwerk" oder „Böller" erwähnte „Feuer, Feuer", „Alarm", oder „Bombe". Sie lachten viel und Jan schien endlich Spaß zu haben, aber Tim behielt die ganze Zeit die Uhr im Blick. Als sie gerade das Geschirr vom Nachtisch abräumten, zog er seinen Freund in der Küche zur Seite.

„Jan, wir sollten so langsam los", sagte er leise und warf immer wieder einen Blick zu Tür. So fröhlich er gerade noch gewirkt hatte, so enttäuscht sah sein Freund jetzt aus.
„Wieso? Wir können doch auch noch ein Bisschen bleiben."
Tim seufzte auf und fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare. Seine andere lag auf Jans Arm.
„Du weißt, dass wir noch drehen müssen, und dafür wäre ein Bisschen Tageslicht gut", sie hatten eigentlich geplant, das neuste FAQ draußen zu drehen, „Und es ist schon halb fünf."
Jan erwiderte nichts, nur sein Kopf zuckte durch ein paar motorische Tics. Er wollte nicht mit ihm streiten, und er wäre ja auch gerne noch länger geblieben, aber sie mussten sich nun mal um den Dreh kümmern. Und er verstand einfach nicht, warum das in letzter Zeit so ein großes Problem für Jan war. Schließlich hatten sie schon immer viel für den Kanal gemacht.

Er kam nicht dazu, es anzusprechen, weil in dem Moment Marion in die Küche kam. Sie sah sie verwundert an.
„Ist alles okay bei euch?" Sie hatte ein ziemlich gutes Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmte. Tim merkte, wie er rot wurde und nickte dann.
„Ja, alles gut."
Nein, der Tim macht wie immer nur Probleme. Nur Probleme", schrie Gisela und Tim wandte sich ab. Jan zuckte nur mit den Schultern. „Alles gut, Mama."
Als Marion wieder gegangen war, sah Jan ihn an und in seinem Blick lag so viel Wut, dass Tim übel wurde. „Lass uns wenigstens noch eine halbe Stunde bleiben. Wir können das Video zur Not auch drinnen drehen."
Tim seufzte matt, gab sich aber geschlagen. „Okay", erwiderte er einfach nur, „Aber nur wenn du mir dann endlich sagst, was heute mit dir los ist."
Obwohl er es eigentlich nicht wirklich ernst gemeint hatte, war er überrascht, als Jan seinem Blick auswich und sich abwandte.
„Was soll denn los sein?", fragte er leise und möglichst locker, aber für Tim war allein das schon Beweis genug.

Im Endeffekt saßen sie erst eine Stunde später wieder im Auto, weil die Verabschiedungen wie immer länger gedauert hatten. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und eine unangenehme Stille herrschte zwischen ihnen. Tim war sauer auf Jan, weil er darauf bestanden hatte, länger zu bleiben. Und sauer auf sich selbst, weil er den Tag kein Bisschen hatte genießen können. Stur starrte er gerade aus und bis auf Gisela sagte niemand ein Wort.

„Es ist Neujahr", sagte sein Freund dann irgendwann leise in die Dunkelheit, „Ein neues Jahr. Und ich habe das Gefühl, wir streiten uns nur noch. Das Einzige, was bei uns noch leidenschaftlich ist, ist wenn wir uns anschreien. Der Rest befindet sich im Winterschlaf."
Tim war trotz des Tages erleichtert, dass Jan sich endlich öffnete. Vor ihm auf der Straße rasten die Autos vorbei, und er warf seinem Freund einen kurzen Seitenblick zu. Dann löste er die rechte Hand vom Lenkrad und legte sie auf Jans Oberschenkel. Es dauerte einen endlosen, schmerzhaften Moment, bis Jan sie griff.

„Ich dachte du hältst nichts von dieser Neujahrs-Nachdenklichkeit", sagte er leise, und war selbst überrascht, wie traurig seine Stimme auf einmal klang, „Aber du hast recht. Lass uns einfach weniger streiten. Wir kriegen das hin."
Die Worte kamen ihm selbst leer vor, aber er wusste einfach nicht, was er sonst sagen sollte. Es stand so viel zwischen ihnen, dass er keine Ahnung hatte, wo er anfangen sollte. Eine ganze Weile antwortete Jan nichts, und Tim dachte schon fast, er wäre wieder eingeschlafen, dann hörte er irgendwann leise seine Stimme in der Dunkelheit.
„Wahrscheinlich hast du recht."

Tim spürte einen Stich im Herzen, als Jan die Hand wegzog. Er hatte die Chance verpasst, an ihn heranzukommen.

Und wenn er darüber nachdachte, war das nicht das erste Mal.

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Ach Leute, diese Geschichte macht mich fertig. :D
Die Vergangenheitskapitel sind immer so eine Herausforderung, weil ich versuche alles nachvollziehbar darzustellen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das immer klappt. Auf jeden Fall ist das hier das erste Kapitel aus Tims Sicht. ^^ Ich hoffe, es hat euch gefallen.

Vielen, vielen Dank für eure ganzen lieben Kommentare unter dem letzen Kapitel. Ihr habt mir ein Stück weit die Unsicherheit genommen. ^^ Und danke für 60 Votes und fast 500 Aufrufe. Das ist echt unglaublich.
Lasst mir gerne wieder Feedback da. ^^

Das Kapitel ist nach dem Lied "Winterschlaf" von Donato benannt.

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