{4.𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙} 𝑊𝑖𝑒𝑑𝑒𝑟 𝑀𝑎𝑙
Dezember 2022
Jan stand an der Domplatte und sah ungeduldig auf sein Handy. Kalter Wind fegte um seine Schultern und überall um ihn herum waren Stimmen zu hören. Er hatte bereits dreimal versucht, Tim anzurufen, aber der ging einfach nicht dran. Seit über vier Stunden hatte er kein Lebenszeichen von ihm bekommen und normalerweise wäre das auch nicht schlimm gewesen, wenn sie sich nicht vor einer halben hätten treffen wollen, um einen Glühwein trinken zu gehen, und über den Weihnachtsmarkt zu bummeln. Heute hatten zwei wichtige Termine angestanden, und weil sich keiner von beiden hatte verschieben lassen, hatte Tim sich mit ihrem Manager und Jan sich mit der Filialleitung eines Klamottengeschäfts getroffen. Sie hatten für Videodrehs bei mehreren angefragt, und dieses hatte sich tatsächlich bereiterklärt, ihn an einem Tag Verkäufer spielen zu lassen. So kurz vor Weihnachten konnte man sich nicht mehr aussuchen, wann man Termine bekam.
Und jetzt war er hier, hatte schon mit mindestens dreißig Zuschauern Fotos gemacht und sich mit ihnen unterhalten, aber von Tim war immer noch weit und breit nichts zu sehen. Auch wenn er versuchte, sich eine vernünftige Erklärung einzureden, hatte er das ungute Gefühl, dass sein Freund nicht mehr kommen würde. Eigentlich hätte er schon vor über einer Stunde fertig sein müssen.
Und so gerne er die Kälte auch mochte, langsam wurde es ungemütlich. In den letzten Tagen war ziemlich plötzlich der Winter eingebrochen, und auch wenn noch kein Schnee lag, spürte er seine Füße inzwischen nicht mehr. Ganz abgesehen davon, dass er die ganze Zeit angestarrt wurde, weil Gisela wegen der vielen Menschen laut fluchte.
Er seufzte matt und hielt Ausschau nach einer freien Bank, aber überall saßen Leute. Eigentlich wollte er inzwischen überhaupt nichts mehr vom Weihnachtsmarkt sehen, so genervt war er. Die Vorweihnachtszeit war auch ohne ihre häufigen Streitereien in der letzten Zeit stressig genug, und er hatte sich schon seit Tagen auf diese kurze Auszeit gefreut, darauf, endlich mal zumindest eine Stunde etwas normales mit Tim unternehmen zu können, was sie früher getan hatten, was nicht mit der Arbeit zusammenhing. Aber das hatte sich jetzt wohl erledigt.
Die riesige Menschenmasse, die sich zwischen den Ständen hindurchschlängelte und sein Ärger machten ihn doppelt unruhig, und von Minute zu Minute machte sich sein Tourette-Syndrom stärker bemerkbar. Nach weiteren zehn Minuten in denen er nochmal von drei Zuschauern angesprochen wurde, ertrug er es nicht mehr und beschloss, nachhause zu gehen. Eigentlich hatte er noch nach Geschenken für seine Eltern schauen wollen, aber ihm war kalt und ohne Tim war es nicht das Selbe.
Die Wohnung war nicht weit entfernt und auf dem Weg merkte er, wie seine Gedanken abschweiften, zurück zu den letzten Wochen. Nach ihrem ersten größeren Streit wegen Tims Arbeitshaltung hatte er es ein Bisschen heruntergefahren, aber inzwischen war es mindestens genauso schlimm - wenn nicht sogar schlimmer. Er schlief viel zu wenig und war mit dem Kopf immer woanders. Zwar war er sich sicher, dass Tim einfach nur zuhause war, und vergessen hatte, dass sie verabredet gewesen waren, aber die Tatsache, dass er auch auf keinen Anruf und keine Nachricht reagiert hatte, machte ihn irgendwie trotzdem nervös, je länger er darüber nachdachte.
Ihm ist nichts passiert, versuchte er sich selbst zu beruhigen, konnte aber nicht verhindern, dass seine Schritte sich beschleunigten, je näher er der Wohnung kam. Nachdem er unten aufgeschlossen hatte, sprintete er die Treppen schon fast hoch. Seine Hände zitterten, als er den Schlüssel im Schloss herumdrehte.
Schlagartig wandelte sich seine Angst in Enttäuschung. Tims Schuhe standen neben der Fußmatte im Flur. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und mit einem Mal war ihm übel. Natürlich war es ihm lieber, dass er es nur vergessen hatte und nichts passiert war, aber trotzdem tat es weh.
„Tim?", rief er, bekam aber keine Antwort, „Wo bist du, du Wichser?"
Mit schwerem Herzen zog er Jacke und Schuhe aus und machte sich auf den Weg ins Büro.
Seine Vermutung war richtig gewesen, Tim saß am Schreibtisch an seinem Laptop und tippte auf ihn ein. Er hatte In-Ears in den Ohren und sah nicht mal auf, als er den Raum betrat.
Jan war zu wütend, um etwas sagen zu können. Er konnte nicht fassen, dass Tim das Treffen vergessen hatte, auf das er sich seit Tagen freute, und das nur weil er wieder direkt nachhause an den Rechner musste. So wie immer. Vermutlich schnitt er das Video für morgen, aber eigentlich war es ihm egal. Das hätte doch auch noch eine Stunde warten können.
Obwohl es ihm schwer fiel, zwang er sich, ruhig stehen zu bleiben, wartete. Es dauerte mindestens zwei Minuten, bis Tim bemerkte, dass er da war. Er sah auf und zog sich einen der Kopfhörer aus den Ohren. In seinen Augen spiegelte sich der Bildschirm des Laptops.
„Du bist schon zurück?", fragte er überrascht, „Wie spät ist es?"
„Gleich drei", erwiderte Jan tonlos. Wie immer, wenn er ihn bei seiner Arbeit unterbrach, wirkte Tim noch nicht ganz da. Er warf einen Blick auf den Computer und seine Augen weiteten sich.
„Scheiße, es tut mir leid", sagte er und klappte ihn zu. Auch wenn zumindest das etwas positives war, fiel Jan nichts ein was er hätte erwidern können. Auf einmal war es ihm zu viel, mit Tim in einem Raum zu sein. Er hatte ihn einfach vergessen, seine Anrufe ignoriert, und das wo sie nach zwei Wochen das erste mal wieder hatten rauskommen wollen. Tausend Worte lagen ihm auf der Zunge, die Sätze kreisten in seinem Kopf, aber kein Ton verließ seine Lippen. Zumindest nicht absichtlich.
„Das ist der Tim, und der kann nichts", rief Gisela und er merkte, wie für den Bruchteil einer Sekunde ein verletzter Ausdruck über das Gesicht seines Freundes huschte, „Ja, ja, der ist nämlich zu blöd sich die einfachsten Dinge zu merken."
„Jan, warte", setzte Tim an, aber er konnte nicht warten. Er hatte fast eine dreiviertel Stunde in der Kälte gewartet. Aber wieder mal war die Arbeit wichtiger gewesen. Wieder mal musste er zurückstecken. Ohne etwas zu sagen verließ er das Zimmer. Sein Gesicht zuckte und Gisela ließ ihn mit den Armen fuchteln, während er versuchte die Übelkeit zu verdrängen. Er war nicht mal wirklich wütend, einfach nur unfassbar enttäuscht.
In der Küche schenkte er sich ein Glas Wasser ein und stützte sich mit den Händen an der Spüle ab, atmete durch. Aber danach war ihm immer noch speiübel und inzwischen auch schwindelig.
Er hatte gedacht, Tim hätte sich auch gefreut. Sie hatten Tagelang davon gesprochen, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Endlich wieder etwas schönes, romantisches zu unternehmen. Aber nein - die Arbeit war ja immer wichtiger. Vielleicht war es kindisch, dass es ihn so verletzte, aber er konnte nichts dagegen tun.
Plötzlich hörte er Schritte hinter sich und überwand sich dazu, sich umzudrehen. Sein Herz klopfte wie wild in seiner Brust, als Tim die Hand nach ihm ausstreckte. Er zog die Arme weg.
„War das ein Tic?" Die Stimme des Größeren brach an dem letzten Wort und Jan spürte einen Stich in der Brust. Er wollte ihm nicht wehtun aber er hatte ihn so verletzt.
„Nein, war es nicht. Das war volle Absicht", erwiderte er und seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren, „Du hast mich heute wirklich verletzt, Tim."
„Ich weiß es doch. Und es tut mir auch leid", er wurde mit jedem Wort lauter, verzweifelter, „Das Meeting war früher aus und ich hab gedacht ich kann nochmal kurz heimfahren und schneiden, damit wir heute Abend Zeit für uns haben. Und dann hab ich die Zeit vergessen."
„Du hast nicht nur die Zeit vergessen, du hast mich vergessen", entfuhr es ihm laut und frustriert. Er wich einen Schritt zurück in Richtung Küchenecke, musste plötzlich noch mehr Abstand zwischen sie bringen, „Ich hab dich angerufen, dir Nachrichten geschrieben, aber - anstatt dass du mich fickst - anstatt, dass du dich meldest und kommst durfte ich eine dreiviertel Stunde in der Kälte stehen und vor Zuschauern so tun als wäre alles gut. Du Arschloch."
Tim sah ihn mit geweiteten Augen an, wirkte vollkommen überrascht, dass er plötzlich so laut schrie wie Gisela. Aber er konnte einfach nicht mehr. Eigentlich hätte er noch viel mehr sagen können, aber so schnell wie sie gekommen war, war die Wut auch wieder fort und ließ ihn einfach nur müde und traurig zurück.
„Du könntest auch mal ein Bisschen Verständnis haben", gab Tim mit gefährlich ruhiger Stimme zurück, „Ich reiße mir jeden Tag den Arsch auf für den Kanal. Und du weißt, dass ich dir das nicht übel nehme, aber du hast deutlich weniger zutun als ich."
Seine Worte trafen ihn trotzdem. Ein seltsames Gefühl überkam ihn - so als würde er ersticken und seine Augen brannten, während Tims so dunkel waren wie der Nachthimmel. Er konnte nicht lesen, was in ihnen stand - aber das war inzwischen nichts mehr neues. Die Zeiten, als er zu ihm hatte durchdringen können, waren längst vorbei.
„Du verstehst einfach nicht, dass sich nicht alles nur um - um dich - um Youtube dreht", erwiderte er und erschrak darüber, wie verletzlich seine Stimme auf einmal klang. Ihm war immer noch schwindelig und sein Kopf schmerzte. Tims Gesicht war verschwommen und unscharf, „Wir sind nicht nur Kollegen, wir sind auch zusammen, Tim. Und auch wenn ich Verständnis dafür zeige - du kleine Kackamaus - kann ich langsam nicht mehr."
„Jan", rief sein Freund plötzlich, aber er begriff nicht warum. Ein scharfer, stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf und auf einmal spürte er etwas hartes im Rücken. Tim kniete vor ihm, er hatte eine Hand um ihn gelegt, stützte seinen Hinterkopf. Die blauen Augen waren immer noch dunkel, aber jetzt konnte er die Sorge in ihnen genau erkennen. Es dauerte einen kurzen Moment bis er begriff, dass er auf dem Boden saß. Seine Schulter tat weh.
„W...was ist los?", fragte er verwirrt, aber eigentlich kannte er die Antwort darauf. Er hatte einen Anfall gehabt. Seltsamerweise spürte er keine Angst, irgendwie war es ihm vollkommen egal.
„Du warst kurz weg", erwiderte Tim sanft und strich durch sein Haar. Seine Kopfhaut kribbelte angenehm, aber trotzdem fühlte sich sein Herz immer noch wie ein schwerer, schmerzhafter Klumpen an, „Aber alles ist gut. Ich hab dich aufgefangen."
„Ich glaub ich hab mir die Schulter angestoßen", gab er zurück. Tim half ihm hoch und einen kurzen Moment standen sie sich gegenüber, sahen sich an. Jan war wütend auf sich und seinen Körper, weil er den Streit unterbrochen hatte. Er konnte sich nicht mal mehr so wirklich dran erinnern, was er als letztes gesagt hatte.
„Es tut mir leid, Jan", sagte Tim sanft, seine Augen wirkten plötzlich wieder hell und glasig, „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich hätte es nicht vergessen dürfen. Verzeih mir bitte."
Er wollte ihm verzeihen, aber sein Herz tat immer noch zu sehr weh. Die Enttäuschung war immer noch zu groß. Er musste an die letzten Wochen denken, an den Streit wegen der Anfrage von Racer irgendwann Anfang Dezember. Alles war nur noch stressig. Er wollte das nicht mehr, wollte nicht weiter streiten, nicht weiter diskutieren. Alles, was er sich wünschte, war dass es wieder wie früher war. Dass sie wieder gemeinsam kuschelten und lachten. Wieder Sex hatten. Und nicht nur noch gereizt und distanziert waren.
„Schon okay", erwiderte er und seufzte. Jetzt weiter darüber zu reden, würde es auch nicht besser machen. Und außerdem war er dafür einfach zu müde.
Tim legte eine Hand an seine Wange und sah ihn an. Sein Blick war eindringlich, voller Reue und Schmerz. „Sag das nicht, wenn es nicht stimmt", hauchte er matt.
Jan seufzte und ging einen Schritt auf ihn zu, umarmte ihn. Als sich Tims starke Arme um seine Schultern schlangen, fühlte er sich zumindest ein Bisschen besser. Trotzdem brannten seine Augen noch immer.
„Wir machen uns jetzt einen schönen, ruhigen Abend. Hast du Lust einen Film zu schauen?" Bei seinen Worten flackerte Hoffnung in seinem Herzen auf. Der Gedanke an Zweisamkeit mit ihm, an warme Blicke und Lachen über Giselas Kommentare zu einem Film war zu schön. Er vergrub sein Gesicht an seiner Schulter und wartete darauf, dass das dumpfe, traurige Gefühl verschwand, aber es ging einfach nicht weg.
„Ich mach es wieder gut, versprochen", fügte Tim noch hinzu und Jan seufzte leise.
„Mach es nicht wieder gut, mach es anders", murmelte er an seine Schulter.
Tims Körper versteifte sich einen Augenblick lang, dann senkte er den Kopf, umarmte ihn noch fester. Jan konnte spüren, dass er nickte.
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Heute melde ich mich auch mal wieder. Momentan geht es mir nicht so gut und ich bin mit dem Kapitel eigentlich auch nicht wirklich zufrieden, aber ich wollte es euch nicht länger vorenthalten.
Außerdem verschwimmen die Sätze irgendwann alle, wenn ich zu oft drüberlese :D
Ihr könnt mir gerne eure Meinung/Kritik in die Kommentare schreiben, ich freue mich über jegliche Form von Feedback. Danke auch an schon fast 250 Aufrufe und fast 40 Votes. ^^
Das Kapitel ist nach dem Lied "Wieder Mal" von Kayef benannt.
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