{2.𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙} 𝐾𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛ℎ𝑎𝑢𝑠
November 2022
Draußen vor den Fenstern schien die Sonne auf die Häuserdächer. Es war noch sehr warm für Ende November und Jan trug ein T-Shirt, obwohl sie noch nicht heizten. So wie jeden Morgen holte er Tassen aus dem Schrank, während er wartete, dass die Kaffeemaschine durchlief. Tim schlief noch, obwohl es schon zehn Uhr war, aber sie hatten gestern bis um halb zwei gestreamt und er hatte danach noch geschnitten, also ließ Jan ihn. Er war froh, dass er sich mal ein Bisschen ausruhte.
In letzter Zeit war unfassbar viel los. Sie hatten die 4 Millionen Abonnenten geknackt und waren erst vorgestern nach einer Woche aus Hamburg zurückgekommen, wo sie ein paar Interviews fürs Fernsehen aufgenommen hatten. Es war seltsam und Jan konnte sich irgendwie noch immer nicht so richtig daran gewöhnen, was für Wellen das alles seit dem ersten Video geschlagen hatte. Jetzt waren sie sogar bei Markus Lanz aufgetreten.
Manchmal war es ihm zu viel, aber das war kein Vergleich zu dem, was Tim momentan leistete. Er vergrub sich immer mehr in sich selbst und seiner Arbeit und war dadurch oft gestresst oder abwesend.
In Gedanken holte er die Brötchen, die er gerade vom Bäcker geholt hatte, aus der Tüte, bestrich sie für Tim mit Marmelade und belegte seine mit Käse und Salat. Gisela hätte fast eine Kaffeetasse runtergeworfen, aber er schaffte es gerade noch so, den Tic umzulenken und schlug sich stattdessen an der Küchentheke an. „Aua", rief er matt und hörte das leise Tapsen seines Katers. Er sah gerade noch so seinen Schwanz im Türrahmen Richtung Flur verschwinden und seufzte. Er war erst ein paar Wochen bei ihnen und fürchtete sich sehr vor ihm und den Tics. Aber immerhin verstand er sich mit Henry, also war nicht alles schlecht.
Er füllte seinen und Henrys Napf und deckte dann den Frühstückstisch. Während er auf Tim wartete, checkte er zuerst Social Media und dann die Geschäftsmails. Es war nicht wirklich etwas interessantes dabei, außer eine Anfrage, bei der es um ein Product Placement ging. Er ließ den Tab offen, um es Tim nachher zu zeigen, klappte den Laptop aber trotzdem zu und legte ihn vorsichtshalber auf das Sofa. So würde er vielleicht nicht auf die Idee kommen, noch bevor er etwas aß, darauf zu schauen.
Das waren die kleinen Dinge, die er tat um Tim zu entlasten, ohne dass er etwas davon mitbekam.
In dem Moment hörte er Schritte. Tim gähnte, als er in die Küche kam, lächelte aber gleichzeitig. Die Schatten unter seinen Augen waren zumindest nicht mehr so tief wie gestern.
„Zieh doch nicht so ne Fresse, du Hässlicher", rief Gisela ihm zu, aber trotzdem kam er zu ihm und umfasste ihn von hinten, küsste ihn aufs Haar und vergrub dann sein Gesicht ihnen.
„Dir auch einen guten Morgen", sagte er liebevoll und Jan spürte, wie sein Herz schneller schlug. Auch wenn sie jetzt schon seit über einem Jahr zusammen waren, würde er nie genug davon bekommen, bei Tim zu sein, ihm nah zu sein, ihn für sich zu haben, „Danke, dass du Frühstück gemacht hast."
„Ich dachte mir, dass du müde bist", erwiderte er. Der Größere löste sich von ihm und gähnte dabei wie auf Knopfdruck, „Wie lange warst du gestern noch wach?"
„Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, aber bis um drei, glaube ich", er wich seinem Blick aus, als er sich hinsetzte und nach einem Brötchen griff, sofort anfing zu essen, „Gibt es sonst was neues?", wechselte er das Thema, „Bist du Murat schon ein Bisschen näher gekommen?"
„Nein, - Katzenfleisch - ich hab ihn vorhin kurz gesehen, aber er ist erschrocken, als ich nen Tic hatte, und dann abgehauen." Er seufzte auf.
„Mach dir nichts draus, er gewöhnt sich schon noch daran", versuchte Tim, ihn aufzuheitern und schob sich das zweite Brötchen in den Mund. Jan musste lächeln, während er ihm dabei zusah. Seine Haare waren zerzaust und ungemacht, etwas, was nur wenige Menschen zu sehen bekamen. Er trug noch seinen Apfelerlebnis-Hoodie, in dem er in letzter Zeit öfters schlief und seine Augen waren verquollen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendeinen Jungen auf der Welt gab, der schöner war als er.
„Was steht denn heute an? Also abgesehen davon, dass wir später ficken", fragte er und Tim prustete los. Er musste ebenfalls lachen, als sein Freund ihn verführerisch ansah.
„Darüber können wir ja vielleicht später nochmal reden", gab er zurück und Jan spürte, wie ihm heiß wurde. Der Gedanke daran, ließ etwas in ihm hervorkommen, was er in letzter Zeit verdrängte. Irgendwie war dafür momentan einfach keine Zeit.
„Wir müssen eigentlich was drehen. Und ich muss den Vlog noch fertig schneiden. Ich habs gestern nicht mehr ganz geschafft."
Sein Herz zog sich zusammen. Der ausgelassene Moment war schon wieder vorbei. An sich mochte er die Drehs ja, aber sie hatten schon in Hamburg kaum Zeit für sich gehabt und auch die zwei Wochen davor nicht. Dauernd streamten sie oder drehten, kümmerten sich um Youtube, und wenn alles fertig war, war Tim meist zu müde um noch großartig etwas zu machen oder schnitt. Er seufzte auf und überlegte einen Moment, ob er das Thema einfach fallen lassen und hoffen sollte, dass es morgen anders war. Aber andererseits sehnte er sich selbst auch nach einer Pause. Nicht um seiner selbst Willen, sondern einfach nur, um mal wieder etwas schönes mit Tim zu unternehmen, was nichts mit der Arbeit zutun hatte.
Und außerdem wusste er, dass es morgen nicht anders sein würde.
Er stand auf und räumte den Tisch ab, fragte sich, wie er es ansprechen sollte. Tim half ihm und hätte fast die restliche Butter ins Gesicht bekommen, sein Tourette wurde wie immer aktiver weil er nervös war. Seine Hände zitterten, als er die Spülmaschine anschaltete und sich dann zu ihm umdrehte. Der Größere hatte den Laptop auf dem Sofa entdeckt und ihn aufgeklappt. Er seufzte genervt. Es war wirklich immer das Gleiche.
„Hör mal", begann er und zwang sich, ruhig zu bleiben, „Ich würde gerne mit dir über was reden."
Tim sah nur kurz zu ihm auf. „Mmh", murmelte er und senkte den Blick wieder, „Hast du die Anfrage von Racer gesehen?"
Jan spürte einen Stich im Herzen und unmittelbar danach platzte sein Frust aus ihm heraus. Es konnte doch nicht sein, dass er einfach komplett ignorierte, dass er gerade etwas zu ihm gesagt hatte.
„Kannst du vielleicht - das Scheißteil - das Ding mal kurz wegtun und mir zuhören?", fragte er schroffer, als er eigentlich wollte und jetzt sah Tim richtig auf. Seine blauen Augen wirkten verwirrt.
„Was ist denn jetzt los?"
Jan seufzte und versuchte die Tics zu unterdrücken, konnte aber nicht verhindern, dass er wild mit den Armen fuchtelte. Sein Herz raste, so genervt war er von Tims Verhalten.
„Ich will mit dir - He - reden, aber du - du Arschloch - bist ja gerade damit beschäftigt, irgendwelche blöden Werbeanfragen zu lesen. Und ja - Fick dich - ich hab sie gelesen, aber dir nichts gesagt weil - He. Du bist doch eh zu blöd zum Lesen - ich ausnahmsweise mal in Ruhe mit dir frühstücken wollte."
Er musste daran denken, wie sie vorgestern nachhause gefahren waren. Tim hatte die halbe Zugfahrt lang geschnitten und die andere Hälfte hatte er geschlafen. Sie hatten kaum miteinander gesprochen. Jan wusste, dass es ihm nicht gut ging, und dass er sich zu sehr auf die Arbeit konzentrierte. Und er war gerne bereit zurückzustecken, aber jetzt war es einfach zu viel.
Tim klappte den Laptop zu und legte ihn zur Seite. Er sah immer noch verwirrt aus, aber jetzt vor allem unsicher. Gefühle flackerten über sein Gesicht, die Jan nicht wirklich deuten konnte, dann nickte er.
„Okay, ich höre dir jetzt zu. Also sprich auch mit mir."
Jan atmete einmal tief ein und wieder aus, schloss kurz die Augen. Er versuchte ruhig zu bleiben, aber es fiel ihm schwer. Gisela griff nach einem Messer aus dem Messerblock und fuchtelte damit herum, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und legte es weg.
„Ich möchte heute nicht drehen. Hast du das verstanden, du Wichser? Ich würde gerne einfach etwas schönes unternehmen. Irgendwas machen, was nichts mit Youtube zutun hat. Und nicht, weil ich keine Lust habe, - Doch eigentlich hab ich gar kein Bock auf dich - sondern, weil ich einfach mal möchte, dass wir ein Bisschen entspannen können. Wir sind die ganzen letzten Wochen nur am arbeiten. Vor allem du, Tim."
Tim seufzte und fuhr sich durch die Haare, stand vom Sofa auf und kam in seine Richtung. Er wusste, dass das genau das war, was Tim nicht wollte und hatte Angst vor seiner Antwort. In seinen Augen mischte sich Verletzlichkeit mit Wut.
„Jan, ich lade den Vlog heute Abend hoch. Er ist noch nicht fertig. Und Dienstag laden wir wieder hoch. Willst du dann morgen drehen und ich schneide das Video noch fertig? Wie stellst du dir das bitte vor, ohne dass ich die Nacht durchmache?
„Selbst wenn wir Dienstag nicht hochladen, würde niemand dran sterben", erwiderte er müde und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, „Im Ernst, Tim. Kannst du endlich mal einsehen - Du kleines Wichskind -, dass du eine Pause brauchst? Dass wir eine Pause brauchen?"
Tim war jetzt fast bei ihm, sah zu ihm runter. Sein Gesicht war angespannt, er sog die Luft ein.
„Okay", gab er dann zurück und wirkte dabei zwar nicht wütend, aber auch nicht so, als wäre es das. Eher, als hätte er gar keine Energie mehr, „Okay, wir drehen morgen. Und ich schneide morgen. Und heute machen wir etwas anderes, sobald ich den Vlog fertig hab. Worauf hast du denn Lust?"
Jan spürte einen Stich im Herzen. Das hatte er auch nicht gewollt. Der Sinn dahinter war ja nicht gewesen, dass er sich jetzt noch mehr Gedanken machte. Vorsichtig stand er auf, nahm seine Hände und drückte sie.
„Nur, wenn es dich nicht noch zusätzlich stresst", sagte er sanft, „Ich will, dass es dir besser geht. Und ich dachte, dass es dir vielleicht auch hilft, nach dem ganzen Stress in Hamburg eine Pause zu machen."
„Du hast ja auch recht", gab er leise zu und zu Boden. Seine blauen Augen waren glasig, „Ich weiß, dass ich zu viel mache. Und dass wir auch mal Zeit für uns brauchen. Es tut mir leid."
„Schon okay."
Es war wirklich okay, und als Tim ihn in seine Arme zog und küsste, fühlte er sich besser. Er war erleichtert, dass er ihn hatte überreden können und ließ sich fallen, versuchte, den Streit zu vergessen.
„Ich will nicht, dass wir streiten", murmelte Tim leise an seinem Ohr und er zog ihn fester an sich, „Und erst recht will ich nicht, dass du wegen Youtube unglücklich bist."
„Ich auch nicht." Er sah zu ihm hoch und in seine Augen. Tim lächelte als ihre Blicke sich trafen, aber es wirkte nicht hundertprozentig echt. Eher ein Bisschen erzwungen.
„Tim, ist alles okay?", fragte er ihn und sein Freund nickte, küsste ihn wie zur Bestätigung nochmal sanft auf den Mund.
„Ja, alles gut, bei dir?" Er nickte ebenfalls, aber er merkte, dass es nicht wirklich geklärt war. Dass es noch zwischen ihnen stand. Als Tim vorschlug, dass sie Henry mitnehmen konnten, um einen längeren Ausflug zu machen, freute er sich zwar, aber nicht wirklich. Denn er konnte nicht entspannen, solange Tim nicht auch entspannt war.
In letzter Zeit kam ihm ihre Beziehung so instabil vor. Als würde eine der beiden Säulen, die das Fundament trug, bröckeln. Hamburg wirkte weit weg und die Zeit davor, kam ihm ewig her vor, obwohl gerade mal zwei Wochen vergangen waren. Aber am weitesten entfernt wirkte Tim. Er schottete sich immer mehr ab, und merkte es noch nicht mal.
In dem Moment zog sein Freund ihn nochmal zu sich und küsste ihn. Jans Herz klopfte schneller, und als sie sich voneinander lösten, lächelte er ihm zu, wandte dann aber den Blick ab und merkte, wie es aus seinem Gesicht verschwand. Wie lange würde es noch dauern, bis die Säule brach? Bis ihr Kartenhaus zusammenfiel? Seit Wochen versuchte er herauszufinden, was er tun konnte, um es aufzuhalten, aber Tim verstand es einfach nicht. Er verstand nicht, wie sehr sein Stress ihn und das, was zwischen ihnen war, belastete.
Bedrückt ging er zur Theke und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Als er sich umwandte sah er, dass Tim den Laptop wieder aufgeklappt hatte und konzentriert hinein starrte. Er merkte nicht, dass Jan ihn ansah. Und er bekam auch nicht mit, wie er matt aufseufzte und den Raum verließ.
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Das Kapitel ist zwar fast 100 Wörter zu lang, aber naja :D Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen. ^^
Ich hatte ein Bisschen Angst davor, die Einblicke in die Vergangenheit zu schreiben, aber ich glaube es ist doch ganz gut geworden.
Lasst mir gerne euer Feedback da, ich freue mich über jeden Vote und Kommentar und dass ihr alle mitlest. Vielen Dank für schon über 100 Aufrufe. ^^
Das Kapitel ist nach dem Lied "Kartenhaus" von Kayef benannt.
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