{14.𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙} 𝐴𝑢𝑓 𝑎𝑛𝑑𝑒𝑟𝑒𝑛 𝑊𝑒𝑔𝑒𝑛

März 2023

Der zehnte März war eigentlich ein Dienstag wie jeder andere auch in letzter Zeit und als Tim aufwachte, wusste er noch nicht, dass es der Tag war, der sein ganzes Leben verändern sollte. Warmes Licht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen und kündigte einen warmen Frühlingsmorgen an. Gähnend streckte er sich und drehte sich dann auf die andere Seite. Jan lag auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben und atmete gleichmäßig.
Tim musste lächeln, als er ihn so sah. So friedlich und entspannt – wie schon lange nicht mehr. Doch bei diesem Gedanken verging ihm sein Lächeln sofort wieder. Mit einem niedergeschlagenen Seufzer streckte er die Hand aus, so dass er gerade so den Ärmel seines T-Shirts berühren konnte, denn er wollte ihn nicht wecken, aber trotzdem brauchte er jetzt seine Nähe. Denn mit jeder Sekunde, die verging, wuchs auf einmal eine tiefe, unaufhaltsame Trauer in seiner Brust.

Wie immer seit dem Streit war die gute Laune nur kurz geblieben. Seine Erinnerungen schweiften zu dem Moment neulich nachmittags, als sie das Kochvideo gedreht hatten, und er merkte, wie ihm wieder übel wurde. Schnell zog er seine Hand weg, auch wenn er Jan am liebsten angestupst hätte, um ihn zu wecken und sich in seine Arme zu kuscheln. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie er geweint hatte.
Ich kann das nicht, hörte er trotzdem wieder seine hilflose, verzweifelte Stimme und merkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Seitdem hatte er immer wieder versucht, sich selbst zu beruhigen, sich einzureden, dass er nur Zeit brauchte und dann endlich alles wieder bergauf gehen würde.

Aber in Wahrheit wusste er, dass das nicht stimmte. Jan redete ja nicht mal wirklich mit ihm darüber, wie es ihm ging. Er wich ihm immer noch aus. Und er weinte so viel. Drei mal jetzt schon, seit dem Streit. So viele Jahre kannten sie sich jetzt und kein einziges Mal hatte er in Tims Anwesenheit auch nur eine Träne vergossen. Nicht nach einem einzigen seiner epileptischen Anfälle. Nicht, als er das Tourette diagnostiziert bekommen hatte. Und nicht mal, als er die Ausbildung zum Physiotherapeuten hatte abbrechen müssen. Er hatte nie aufgegeben und immer versucht, das Beste aus allem zu machen. Sie waren gemeinsam stark gewesen, hatten gelacht.
Aber jetzt hatte sich alles verändert. Sie hatten sich verändert. Es kam ihm vor als gingen sie aneinander vorbei, wenn sie sich durch die Wohnung bewegten. Als würden sich ihre Wege nur noch zufällig kreuzen, und nicht, weil sie es wollten und brauchten.

Er atmete einmal tief ein und aus, während er Jan weiter ansah. Um alles in der Welt wünschte er sich, alles rückgängig machen zu können. Denn jetzt konnte er es nicht mal wieder gut machen, weil Jan ihn nicht mehr an sich heranließ.
Das Schlimme daran war, dass er es verstehen konnte, weil er wusste, dass er nicht anders reagiert hätte, wenn es andersrum gewesen wäre. Und das machte alles einfach nur noch schlimmer.

Tränen brannten in seinen Augen, als er sich umdrehte und aufstand. Soviel zum schönen Frühlingstag. Wenn er so anfing, konnte ja gar nichts gutes dabei rauskommen.
Aber mittlerweile war er es ja schon gewohnt, traurig aufzuwachen und traurig wieder schlafen zu gehen. Keine Liebe, keine Leidenschaft war mehr zwischen ihnen. Nur noch schmerzhafte Erinnerungen und – zumindest von seiner Seite aus – das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.
Er hasste sich dafür, dass er Jan wehgetan hatte. Und er hasste sich dafür, dass er sich so sehr in die Arbeit gestürzt hatte. Wenn er nicht so blind und unaufmerksam gewesen wäre, dann wären sie jetzt nicht hier – nicht so.
Sondern glücklich.

Frustriert wie er war machte er sich nicht mal einen Kaffee, als er in der Küche angekommen war, sondern setzte sich gleich an den Laptop. Lustlos schnitt er das Video für den Abend, seine einzige Motivation die Tatsache, dass er es fertig haben wollte, bevor Jan aufwachte. Denn dann konnten sie heute vielleicht noch einen Ausflug machen. Vielleicht würde sie das wieder ein Bisschen näher zusammenbringen.

Es dauerte nicht mehr allzu lange, weil er den Rohschnitt gestern schon gemacht hatte. Und er war dankbar dafür, denn wenige Minuten, nachdem er den Laptop zugeklappt hatte, trat Jan ins Wohnzimmer. Tim lächelte ihm zu, sein Anblick ließ trotz allem sein Herz höher schlagen, auch wenn ihm gleichzeitig mulmig zu mute war.
Wie war wohl seine Laune heute? In letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass sie mit jedem Tag schlechter wurde.

„Guten Morgen", begrüßte sein Freund ihn und rang sich ein abgespanntes Lächeln ab. Tim spürte, wie sein Herz sich zusammenzog, und zu einem festen Klumpen in seiner Brust erstarrte.
„Guten Morgen", erwiderte er und wollte zu ihm gehen, merkte aber, dass er nicht die Kraft aufbringen konnte, aufzustehen. Er war auf einmal unfassbar müde. Müde vom Schneiden, müde vom Nachdenken, und müde von Jans schlechter Stimmung. Dabei ist das überhaupt nicht fair, ihm gegenüber, schließlich bist du schuld.
Aber wie sollte er sich bessern, wenn Jan ihm gar keine wirkliche Chance gab?

„Willst du nen Kaffee?", fragte er ihn, in der Hoffnung, dass die kleine Geste seine Laune bessern würde, aber der Kleinere schüttelte nur den Kopf, während sich sein Gesicht von Tics verzerrte.
„Nein, danke. Du hässliches Arschloch. Als ob ich noch Appetit habe nachdem ich dein Gesicht gesehen hab."
„Vielen Dank, Gisela", er war nicht in der Stimmung, über ihre Sprüche zu lachen, stattdessen holte er sein Handy heraus. Es war erst kurz nach elf – sie hatten noch den ganzen Tag vor sich. Und auch wenn ihm nicht danach war, würde er versuchen, das Beste daraus zu machen. Für sich und für Jan,
„Du, ich hab nachgedacht. Hast du Lust, heute vielleicht einen kleinen Ausflug zu machen? Ich hab das Video schon fertig, also hätten wir den ganzen Tag Zeit."

Bitte sag ja, dachte er stumm, und als Jan sich zu ihm an den Tisch setzte und nickte, merkte er, wie ihm zumindest eine kleine Last von den Schultern fiel.

Eine Stunde später hatten sie ein paar Sachen zusammengepackt, und Henry lief im Flur auf und ab, weil Tim ihm bereits sein Halsband fürs Gassigehen umgelegt hatte. Er kraulte ihn zwischen den Ohren und seufzte.
„Bist du fertig?", fragte er an Jan gewandt und sein Freund nickte wieder. Sie hatten sich dafür entschieden, in den Stadtwald zu fahren, um dort ein Bisschen spazieren zu gehen.
Die Autofahrt verlief ruhig – abgesehen von den Tics. Sie redeten kaum, was auf seltsame Weise auch bereits normal geworden war. Tim versuchte, nicht darüber nachzudenken, aber tat sich schwer damit. Die Gedanken vom Morgen verfolgten ihn noch immer, drehten sich in seinem Kopf und sammelten sich schließlich als schwerer, unangenehmer Klumpen in seinem Magen. Auch wenn er schon gewohnt war, dass Jan still war und nicht viel sagte, hatte er heute doch ein komisches Gefühl. So als läge etwas in der Luft, was er noch nicht klar erkennen konnte.

Am Stadtwald angekommen parkte er und sie stiegen aus. Henry konnte es kaum erwarten, aus dem Kofferraum zu kommen und Tim leinte ihn an, während er brav neben ihm sitzen blieb. Jan schaute ihm dabei zu, und wie sooft wurden die Tics in der Nähe des Hundes stärker – es waren aber immer noch erstaunlich wenige.
Danach spazierten sie nebeneinander her, und obwohl er ein paar Mal versuchte ein Gespräch anzufangen, gab Jan nur kurze Antworten und es versiegte jedes Mal wieder. Irgendwann ertrug er die Distanz zwischen ihnen nicht mehr, und griff mit der freien Hand nach der seines Freundes. Er ließ es zu, und verschränkte sogar ihre Finger, aber trotzdem wirkte er nicht entspannt, während sie weitergingen.

„Was meinst du, wie das neue Video – Hundefleisch – bei den Zuschauern ankommt?", fragte der Kleinere dann irgendwann und Tim warf ihm einen verwirrten Blick zu. Wollte er ihn testen? Warum fing er jetzt an, über die Arbeit zu reden, wo er sich vorher doch immer beschwert hatte?
„Ich weiß es nicht. Vermutlich wie immer. Es ist ja nichts besonderes", es war einfach nur eine normale Nicht-Lachen-Challenge, „Wie kommst du da jetzt drauf?"
„Ich hab – He. Eigentlich interessiert es mich nen Scheiß – Ich hab einfach nur gerade drüber nachgedacht."

Tim seufzte schwer und gab es auf. Die Zeit verstrich während sie schweigend nebeneinander durch den Frühlingsmorgen liefen, der doch nicht so schön war, wie es durchs Schlafzimmerfenster ausgesehen hatte. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und er war sich ziemlich sicher, dass es bald regnen würde. Außerdem war ihm die Lust ziemlich vergangen. Zwar konnte er mit Henry spielen und sich auf die Landschaft konzentrieren, aber deshalb war er nicht hier. Er hatte Jan eine Freude machen wollen. Aber stattdessen redeten sie kein Wort miteinander und er benahm sich komisch.

„Ich glaube, wir sollten heimfahren. Es wird gleich regnen", sagte er also und löste seine Hand. Er wollte, dass Jan merkte, dass er enttäuscht war. Und auch ein Bisschen sauer, „Vielleicht sagst du mir ja dann endlich, was los ist, anstatt mich anzuschweigen."
Jan sah zu ihm auf, sein Blick war verwirrt – so als hätte er gar nicht wirklich mitbekommen, was er gesagt hatte. Dann nickte er aber, während sich sein Gesicht vor Tics verzerrte.
„Ja – du kleines Arschkind – lass uns heimfahren."

Auf dem Weg zum Auto herrschte wieder eisiges Schweigen, und kurz bevor sie am Parkplatz ankamen, begann es zu regnen. Eiskalte Tropfen prasselten auf sie herab, und Tims schwarze Jeansjacke war innerhalb von wenigen Sekunden durchnässt. Aber es störte ihn nicht, irgendwie untermalte es die Stimmung sogar auf passende Weise. Während er Henry zurück in den Kofferraum brachte, stieg Jan schon ein. Kein Kuss. Keine Umarmung. Kein „Es war schön". Denn das war es nicht gewesen. Und so langsam hatte Tim das Gefühl, dass es das auch nie mehr werden würde.
So langsam verließ ihn einfach die Kraft. Aber trotzdem würde er es noch ein letztes Mal für heute versuchen. Er würde ihm zuhause einen Kaffee machen, und dann würden sie hoffentlich reden.

Nur ahnte er nicht, dass es ganz anders kommen sollte.

Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, fuhr er sich angespannt durch die Haare, und machte Henry mit zitternden Fingern von der Leine los. Mit jeder Sekunde war seine Nervosität gestiegen, denn er hatte Angst vor dem Gespräch, das gleich folgen würde, und noch mehr Angst davor, dass es gar keins geben würde. Doch Jan setzte sich tatsächlich in der Küche an den Tisch.
„Sagst du mir jetzt endlich, was mit dir los ist?", fragte Tim ihn und setzte sich zu ihm, verschränkte die Finger im Schoß damit sein Freund nicht sah, wie sehr sie immer noch zitterten. Er wollte ihm nicht zeigen, wie aufgewühlt er war.

Und dann nickte Jan und sah auf. Ein Blick in die traurigen grünen Augen genügte, dass Tim verstand, was in ihm vorging. Warum er sich den ganzen Morgen so komisch verhalten hatte. Er kannte ihn einfach zu gut. Noch bevor sein Freund etwas sagte, spürte er Tränen in den Augen und seine Sicht verschwamm. Denn er wusste, was jetzt kommen würde.
„Ich hab nachgedacht, Tim. Und ich wollte es versuchen, wirklich. Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht vergessen, was die letzten Monate passiert ist. Und was bei dem Streit passiert ist. Es hat keinen Sinn mehr."

Tim war sich sicher, dass diese Worte ihn bis an sein Lebensende verfolgen würden.

„Du machst Schluss?", fragte er mit heiserer Stimme und als Jan nickte, brach seine Welt endgültig zusammen.
„Ja, Tim – Mit dir hält es doch keiner aus – Ich mache Schluss."
Seine Stimme klang so hoffnungslos, dass es ihm für einen Moment den Atem raubte. Verzweifelt suchte er in dem dunklen Grün seiner Augen nach einer Chance, nach Wärme, aber da war nichts. Es war vorbei. Und der Gedanke traf ihn trotz allem so unvorbereitet, dass er einen Moment einfach nur dasitzen konnte. Ich liebe dich, lass uns nicht aufgeben, hätte er sagen können, oder: Ich kann mir kein Leben ohne dich vorstellen. Aber kein Wort verließ seine Lippen.
Stattdessen stand er unbeholfen auf. Der Stuhl kratzte laut über das Parkett, als er ihn zurückschob.

Wie betäubt ging er in den Flur, zog sich Jacke und Schuhe an. Jan kam ihm nach, er wollte etwas sagen, das sah er ihm an. Aber es gab nichts, was seine Welt wieder hätte heilen können. Er hat mit mir schlussgemacht. Er hat uns aufgeben, schrie es gnadenlos in seinem Kopf, dicht gefolgt von: Es ist deine Schuld.
„Tim, es tut mir leid", sagte Jan leise, als er den Schlüssel von dem Schränkchen neben der Tür nahm. Das Klimpern hallte laut in seinen Ohren nach.
Ein letztes Mal sah er zu ihm auf. Er wollte alles tun außer gehen. Aber Jan wollte das nicht mehr. Ihm war bewusst, dass sie sich nicht zum letzten Mal sahen, aber das änderte nichts.
Der Schmerz raubte ihm den Atem, als sein Herz zerriss.

„Ist schon okay", erwiderte er einfach nur und einen Moment standen sie da, sahen sich an. In diesen Sekunden hatte er, naiv wie er war, die Hoffnung, dass Jan es sich anders überlegen würde. Aber dann wurde ihm bewusst, dass es auch für ihn selbst kein Zurück mehr gab. Nicht nur Jan hatte in den letzten Monaten gelitten.

Also drehte er sich um und ging. Seine Schritte hallten ohrenbetäubend laut im Treppenhaus. Erst als er beim Auto angekommen war, realisierte er, dass Tränen seine Wangen hinabrannen. Und dass er keine Ahnung hatte, wohin er eigentlich fahren sollte.
Seine Schluchzer fühlten sich an wie Messerstiche, als er ins Auto stieg. Aber er verdrängte den Schmerz, bewegte sich weiter in der Taubheit, denn er wusste, wenn er ihn einmal zuließ, würde er so schnell nicht mehr aufstehen.
Der Motor heulte leise auf, beim Losfahren war sein Blick verschleiert. Und da wurde es ihm schlagartig bewusst.

Von jetzt an gingen sie auf anderen Wegen. 

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So, das wars mal wieder mit dem Kapitel. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Tut mir leid, dass wieder so lange nichts kam, ich hab momentan leider ziemlichen Stress. Und dann ist es auch noch viel zu lang. ._.

Ich hab jetzt länger nachgedacht, und bin mir unsicher, deshalb frag ich einfach mal: Hättet ihr theoretisch Lust auf noch mehr Vergangenheitskapitel, oder eher nicht? Denn eigentlich war das als das Letzte gedacht.

Danke an alle, die trotz der unregelmäßigen Uploads mitlesen und dabei sind. Wir haben inzwischen die 2500 Aufrufe geknackt und ich kann es kaum glauben. ^^ Vielen Dank, auch an alle die Voten und kommentieren, lasst mir gerne auch wieder Feedback da. ^^

Das Kapitel ist nach dem Lied "Auf anderen Wegen" von Andreas Bourani benannt, das ich sehr passend fand.

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