{10.𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙} 𝐹𝑙𝑎𝑐𝑘𝑒𝑟𝑛, 𝑓𝑙𝑖𝑚𝑚𝑒𝑟𝑛
Februar 2023
Wie betäubt saß Jan auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Eltern. Sie schliefen noch – er war allein. Und er war dankbar dafür, denn er wollte niemanden außer Tim in seiner Nähe haben. Aber gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob er Tim überhaupt wiedersehen sollte. In der Kaffeetasse, die er umklammert hielt war der Kaffee inzwischen kalt geworden, weil ihm zu übel war um etwas zu trinken. Die Ärmel seines Pullovers bedeckten seine Finger. Er hatte ihn seit gestern nicht ausgezogen, weil er Tims Fingerabdrücke nicht sehen wollte. Das Bild war auch so noch viel zu lebhaft in seinem Kopf.
Auch wenn der Streit noch keine vierundzwanzig Stunden her war, kam ihm alles weit weg vor. Der Stream gestern war ohne eine Entschuldigung ausgefallen und heute sollte eigentlich ein Video kommen. Würde Tim es hochladen, obwohl nach dem Dreh alles eskaliert war?
Er presste die Kiefer aufeinander und stellte die Tasse ab. Es brachte nichts, sie zu umklammern – er würde ja doch nichts trinken. Und genauso wenig konnte er sich vorstellen, je wieder etwas zu essen. Das Einzige, was er heute zu sich genommen hatte, waren seine Tabletten gewesen und von denen war ihm noch schlecht genug.
Die halbe Nacht hatte er Tim trotz allem schrecklich vermisst und sich die Augen aus dem Kopf geheult. Das letzte Mal war schon ewig her, aber anscheinend hatte der Streit den Damm gebrochen und jetzt konnte er einfach nicht mehr damit aufhören. Vielleicht lag es daran, dass diese Sache genauso schmerzhaft war, wie zu erfahren, dass er wahrscheinlich wegen der Epilepsie nie wieder tauchen konnte. Tim war an diesem Tag sein Halt gewesen, aber jetzt war dieser Anker weggebrochen und er trieb hilflos umher.
Er wusste, dass er eigentlich zurück in die Wohnung musste. Dass er mit ihm reden musste. Aber andererseits wurde ihm allein von der Vorstellung schwindelig.
Dabei war er nicht mal wirklich sauer. Eigentlich war er einfach nur zutiefst verletzt. Verletzt, weil Tims Fingerabdrücke sich sicher unter dem Stoff seiner Ärmel auf seinen Handgelenken abzeichneten. Die Handgelenke, die Tim so liebte. Die er sooft geküsst und sanft gestreichelt hatte. Nach denen er gegriffen hatte, wenn er Halt gebraucht hatte. Oder wenn Jan alles zu viel geworden war.
Aber vor allem war er verletzt, weil Tim ihm zugetraut hatte, dass er ihn absichtlich schlagen würde. Niemals würde er das tun – aber er hatte es geglaubt, wenn auch nur für eine Sekunde. Kannte er ihn etwa nicht mehr?
Er ließ den Kopf sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie soll es jetzt jemals wieder wie vorher werden?
An Silvester war ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen. Der Gedanke, alles zu beenden. Sie hatten an der Bar gestanden und Tim hatte sich mit Rezo und Rob unterhalten und plötzlich war er da gewesen. Unmittelbar und unaufhaltsam. Es hatte ihm so viel Angst gemacht, dass er seinen Freund fast den kompletten restlichen Abend angefahren, oder abgewiesen hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber es tat ihm noch heute unfassbar weh, weil es ihm so leid tat. Schließlich war es nicht nur Tims Schuld, dass alles den Bach runter ging, oder?
So wirklich verschwunden war diese Unsicherheit seitdem nicht mehr. Und dass, obwohl allein der Gedanke daran das aufzugeben, was sie verband und Tim für immer zu verlieren, zu viel für ihn war. Sein Magen ballte sich schmerzhaft zusammen und er spürte, dass seine Augen wieder brannten. Aber trotzdem konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken. Vor allem nach gestern.
Am Wochenende hatte Tim Geburtstag und eigentlich hatte er sich darauf gefreut, weil er ihm eine Reise nach Rom schenken wollte. Aber es war erst im April, weil sie davor noch ein paar wichtige Termine hatten, und jetzt machte ihm das Angst. Was, wenn es bis dahin vielleicht nicht mehr funktionierte?
Seine Gedanken schweiften zu der Nachricht, die Tim ihm heute Nacht geschrieben hatte. Es war nur eine gewesen – genug, um ihm zu zeigen, dass er an ihn dachte, aber nicht zu viel, als dass es den Freiraum, den er brauchte, verletzt hätte. Vielleicht kennt er mich ja doch noch.
Er zog sein Handy aus der Tasche seiner Jogginghose und entsperrte es. Die schwarzen Buchstaben hoben sich grell vom weißen Hintergrund ab.
01.43 Uhr
Wenn du reden willst oder irgendwas brauchst, melde dich. Ich hole dich ab, wenn du das willst. Oder ich komm zu dir. Es tut mir so unfassbar leid.
Was er wohl gerade machte? Ob er auch so schlecht geschlafen, ob er auch geweint hatte? Tim war eigentlich der emotionalere von ihnen, der der manchmal zusammenbrach. Wie ging es ihm, so ganz allein in der Wohnung? Hatte er auch Angst, dass ihre Beziehung zerbrach?
Oder sitzt er vor seinem Laptop und schneidet das Video für heute Abend?
Schnell stand er auf und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, griff dann nach der Tasse. Er sollte nicht über so etwas nachdenken. Nicht jetzt, wo er so müde und fertig war, dass er sowieso schon die unnötige Angst hatte, dass er durch den Stress vielleicht einen Anfall bekommen würde. Am besten war es wohl, wenn er einfach versuchte, nochmal zu schlafen.
Sein Tourette-Syndrom war heute ungewöhnlich still, und so schaffte er es, die Tasse ohne Probleme in die Küche zurück zu tragen. Seine Mutter stand am Herd, sie drehte sich besorgt zu ihm um. Anscheinend waren seine Eltern doch irgendwann aufgestanden.
„Wie geht's dir?", fragte sie ihn sanft und er zuckte nur mit den Schultern. Wenn er ehrlich war, hatte er darauf selbst nicht so wirklich eine Antwort, „Hast du Hunger? Ich könnte dir Pfannkuchen machen. Oder was vom Bäcker holen."
„Ich glaube nicht, dass ich was essen will", erwiderte er mit rauer Stimme. Sein Gesicht verzerrte sich vor Tics und er hatte das Gefühl, dass es seinen Körper die letzte Kraft kostete.
„Bist du sicher? Du hast gestern Abend auch schon nichts gegessen."
Er nickte nur abwesend. „Ich geh hoch", murmelte er dann noch und verschwand, bevor seine Mutter etwas antworten konnte. Langsam stieg er die Treppen hoch und kam sich dabei vor, als würde er auf einen Berg steigen. Und das, obwohl er nur in den ersten Stock musste.
Oben angekommen ließ er sich im Gästezimmer, das früher sein Zimmer gewesen war, aufs Bett fallen. Niedergeschlagen lag er da und starrte an die Decke, die immer noch das gleiche Blau hatte wie früher. Er wollte – er musste einfach – schlafen, damit er danach endlich einen klaren Kopf hatte, um eine Entscheidung zu treffen.
Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis Müdigkeit ihn erfasste. Als er sich zur Seite drehte und langsam abdriftete, sah er Tim neben sich liegen. Er lächelte ihn an, alles war nie passiert. Sie liebten sich einfach, schliefen in einem Bett und nichts stand zwischen ihnen. Kein Stress, keine Arbeit, keine leeren Versprechungen.
Das Licht der Sonne, das durch die Gardinen schien, weckte ihn später. Müde blinzelte er und rieb sich die Augen, die Fetzen seiner Träume hingen noch in seinem Bewusstsein und er spürte ein wehmütiges Ziehen in der Brust. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es schon nach zwölf Uhr war.
Und, dass er einen verpassten Anruf und eine neue Nachricht von Tim hatte. Sein Herz schlug schneller. Ein Teil von ihm freute sich, aber der andere wünschte sich, er würde ihn für immer in Ruhe lassen. Und genau das machte ihm Angst.
11:48 Uhr
Guten Morgen. Ist alles okay bei dir?
Natürlich machte er sich Sorgen, schließlich hatte er auf die Nachricht von heute Nacht nichts geantwortet. Das schlechte Gewissen ließ ihn ein schnelles „Ja" als Antwort tippen. Er wollte nicht, dass er Angst um ihn hatte.
Er seufzte schwer und lehnte sich zurück, starrte wieder an die Decke. Kann ich mir ein Leben ohne ihn vorstellen? Nur wegen dieser einen Sache?
Ihm war bewusst, dass Tim das niemals vergessen würde und es mehr als alles andere bereute. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, ging es hier um mehr als das. Er hatte sich seit Monaten nicht verändert, ihm nicht mal wirklich zugehört.
Aber war ich wirklich besser?
Er war sich nicht sicher. Aber ganz sicher war es nicht nur Tims Schuld, dass sie jetzt hier waren. Dass alles schiefgelaufen war. Vielleicht war er ja dadurch jetzt endlich wach geworden und änderte sich.
Ein bisschen hoffnungsvoller stand er auf und ging ins Bad, um sich fertigzumachen. Vor dem Spiegel wachte Gisela wieder auf und ließ ihn sein Haarwachs durch den kleinen Raum werfen.
Als er seine Haare gemacht hatte, atmete er einmal tief durch. Dann ging er zu seinem Rucksack, und zog einen neuen Pullover heraus. Seine Hände verkrampften sich, als er den alten auszog und sein Blick auf seine Unterarme fiel. Ihm wurde speiübel und jetzt spürte er plötzlich auch den Schmerz, der von den Abdrücken ausging. Sie waren zwar nur schwach, – aber stark genug, dass man die einzelnen Finger ausmachen konnte – dunkelrot und blau auf seiner hellen Haut. Tims Finger, schoss es ihm durch den Kopf.
Wollte er wirklich zu ihm fahren? Ihm wirklich verzeihen?
Er sah in den Spiegel und fixierte seine grünen Augen, während sein Gesicht zuckte. Aber verlieren will ich ihn auch nicht wegen so etwas, dachte er leise und versuchte, sich Mut zu machen. Irgendwie kann ich ihm das schon verzeihen. Dann zog er sich sein Shirt über, packte seinen Rucksack und ging nach unten.
„Gehst du?", fragte seine Mutter ihn und er nickte vorsichtig, erklärte ihr, dass er mit ihm reden musste, ohne zu erzählen, was passiert war.
„Ich finde es gut, dass ihr das klären wollt", ermutigte sie ihn, auch wenn ihr Lächeln besorgt wirkte. Jan wurde warm ums Herz, als sie ihn in den Arm nahm. Er war froh, dass seine Eltern immer für ihn da waren und ihn in allem unterstützten.
„Danke. Ich sag Papa auch nicht, dass du nachher noch zum Dreier verabredet bist."
„Dann ist ja gut", erwiderte sie lachend.
Sein Vater lächelte ihm zu, bevor er zur Tür ging. „Du kannst aber jederzeit wieder herkommen, Jan."
„Ich weiß", antwortete er aufrichtig.
Eine Stunde später stand er mit klopfendem Herzen vor ihrer Wohnung. Es kostete ihn einiges an Überwindung, aufzuschließen und hoch zu gehen. Auch wenn er beschlossen hatte, ihm zu verzeihen, hatte er Angst davor, wie sich das Gespräch anfühlen würde. Seine Schritte hallten laut im leeren Treppenhaus wider.
An der Wohnungstür klingelte er. Es dauerte nicht mal zwei Sekunden bis Tim öffnete.
„Jan, da bist du ja", stieß er sichtlich erleichtert aus und wollte auf ihn zukommen, überlegte es sich dann aber anders und blieb unbeholfen im Gang stehen. Jans Herz zog sich zusammen, als er ihn ansah. Er sah schrecklich aus, die Schatten unter seinen Augen waren noch dunkler als sonst und sie glänzten rot vom Weinen. Vermutlich hatte er wirklich auch die ganze Nacht nicht geschlafen, „Willst du reinkommen?"
Seine Stimme war so zaghaft, dass er schnell nickte. Er wollte nicht, dass es ihm so schlecht ging. Er wollte ihm nicht wehtun. Trotzdem ging er ohne Kuss oder Berührung an ihm vorbei. Die Luft war abgestanden und in der Küche war es etwas unordentlicher als sonst, auch wenn zumindest die Spülmaschine lief. Mit einem Seufzer ließ er sich aufs Sofa fallen und beobachtete, wie Tim sich zu ihm setzte. Eine kurze, angespannte Stille trat zwischen sie, bis sein Freund sie durchbrach.
„Jan, es tut mir so unfassbar leid, was gestern passiert ist", begann er und sah ihn so traurig an, dass es ihm fast das Herz zerriss. Auch wenn es ihn viel Überwindung kostete, zwang er sich, seinen Blick zu halten.
„Ich weiß, dass es dir leidtut", erwiderte er dann leise, „Das musst du mir nicht sagen. Aber das bringt uns nicht weiter."
Tim nickte und zupfte nervös an seiner Jeans herum. „Ich weiß. Ich muss mich ändern."
„Ja, das musst du. Also red nicht nur, sondern mach. Ansonsten weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll."
Ein heller, hoffnungsvoller Schimmer durchbrach das trübe, dunkle Blau in seinen Augen und Jan spürte, wie trotz allem Wärme in seinem Herzen aufflackerte. Er wollte ihm wirklich verzeihen.
„Heißt das, du gibst mir noch eine Chance?", fragte sein Freund mit leiser, heiserer Stimme und sah ihn an. Gisela ließ zu, dass er die Hände ausstreckte, und nach seinen griff, ohne dass sie dazwischen funkte.
„Ja, das tu ich", flüsterte er matt. Aber es ist deine letzte, „Es ist vielleicht nicht okay, aber sieh es als Weckruf."
„Das werd ich. Ich werde dir nie wieder so wehtun, das verspreche ich dir."
Tim senkte den Kopf und küsste sanft seine Finger. Jan spürte ein laues Kribbeln im Magen. Es war die intimste Geste seit langem, und er konnte nicht verhindern, dass Sehnsucht in ihm erwachte. Als er die Augen schloss und ihn umarmte, flimmerten helle Punkte im Schwarz seiner Sicht. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung.
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So, da wären wir mal wieder. ^^
Tut mir leid, dass so lange nichts mehr gekommen ist, das Kapitel ist mir echt schwer gefallen. Aber nachdem ichs mal wieder komplett neu geschrieben hab, bin ich jetzt einigermaßen zufrieden damit :D
Ich hoffe es hat euch gefallen. Lasst mir gerne eure Meinung dazu da, dass die beiden noch nicht direkt Schluss gemacht haben. ^^
Und vielen vielen Dank an schon über 1100 Aufrufe und fast 100 Votes. Das ging so schnell, ich freu mich, dass euch die Geschichte so gefällt. ^^
Das Kapitel ist nach dem Lied "Flackern, flimmern" von Casper benannt. Es bedeutet mir auch sehr viel.
Auf das nächste Kapitel könnt ihr gespannt sein :D
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