Wir waren einander sehr ähnlich...

Überstürzt lief, nein, eher rannte ich den kahlen, langen Bahnsteig entlang. Mein Blick war stets auf die Türen und Fenster des Blauen Passagierwagens gerichtet und suchten einen freien Sitzplatz. Ich konnte keinen entdecken, aber da mein Zug in ungefähr 20 Sekunden fahren würde und sich niemand mehr auf dem Bahnsteig befand, musste ich wohl oder übel bei der nächsten Türe einsteigen und quetschte mich so weit es ging zu den Koffern und Fahrräder in die Vorkammer des Zuges. Ich hörte den Pfiff des Fahrers, die Türe schloss sich wieder und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich setzte mich auf einen Neongelben Koffer, der neben mir stand. Mein Blick schweifte durch das Wagon. Ich sah eine ältere Dame. Sie sass an einem Fensterplatz, ihr Blick starr auf ihre Zeitung in ihren Händen gerichtet. Ihre Haare waren grau und zu einem flachen Knoten auf ihrem Hinterkopf gebunden. Mit ihren stark hervortretenden Wangenknochen, dem schmalen Mund, den grossen, jungaussehenden Rehaugen und der faltigen Haut erinnerte sie mich stark an meine Grossmutter. Ein Schauer überlief mich und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich mochte sie sehr gerne und da meine Mutter, keine Ahnung warum, abgehauen ist und mein Vater zu viel reiste, wohnte ich, seit ich 3 Jahre alt bin, bei meiner Grossmutter in einem alten Blockhaus am Rande der Stadt. Wir waren einander sehr ähnlich. Sie musste immer etwas machen, liebte die Natur und war so unglaublich grosszügig und Hilfsbereit. Jeden Tag liefen wir zusammen durch die Natur, stellten Blumensträusse zusammen, sassen einfach auf einem Baum und beobachteten das Geschehen der Natur oder retteten ein Verletztes Tier, wie etwa ein Spatz, welcher sechs Jahre lang jedes Jahr zu uns zurück gekommen ist. Ausserdem sprachen wir nie viel. Das brauchten wir aber auch gar nicht. Unwillkürlich musste ich lächeln, fuhr mit meiner Zunge über meine weich gepflegten Lippen und schnappte dabei eine salzige Träne auf. Ja, ich vermisste sie sehr. Sie gab mir immer das Gefühl, genau so, wie ich bin perfekt zu sein doch plötzlich war alles weg. Sie, das Haus, meine Freunde, obwohl es nicht viele waren, aber sie waren eben immer da und alle Erinnerungen an diese Zeit schwand damit auch Stück für Stück mehr, obwohl es erst vier Wochen her war, dass sie gestorben ist. Ich hatte das Haus, ihr Haus, verkauft, jetzt musste ich zurück nach New York zu meinem Vater. Aber ich kannte ihn doch gar nicht. Ich sah ihr das letzte Mal vor vier Jahren, als er auf der Durchreise war für eine Halbe Stunde, davor sah ich ihn etwa drei mal. Er jagte mir jedes mal eine Gänsehaut über den Körper. Ich wusste damals nicht mal warum, das einzige, das ich wusste war, dass ich nicht zu ihm wollte. Ja, die Grossstadt liess mir den Atem anhalten. Da waren zu viele Leute und keinen davon kannte ich. Naja, wollte ich grundsätzlich auch nicht. Ich wollte meine Freunde zurück. Und meine Grossmutter. Jetzt schluchzte ich. Ich lies meinen Blick weiter durchs Wagon gleiten, wo er an einer anderen Frau haften blieb. Sie schaute mir mit ihren feinen. ausdrucksstarken Augen in meine. Erneut lief ein Schauer über meinen Rücken. Irgendwie wollte ich sie kennenlernen. Ich wusste nicht, warum ich das dachte, und wusste auch nicht, warum ich aufstand und zu ihr hinlief, doch jetzt wusste, mein Leben würde weitergehen. Ich wusste, dass ich nicht mehr zwischen zwei geschlossenen Türen in einem kahlen Raum, ohne Fenster stand, sondern sich eine neue, ungewisse geöffnet hatte. Ich wusste zwar nicht, was dahinter zu finden war aber ich würde weiterleben, das wusste ich.

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