Kapitel 6
Antonia
Ich spürte die warme Frühlingssonne auf meinem Gesicht, sie ließ meine Haut prickeln und verströmte ein angenehmes Gefühl. Unter meinen Händen konnte ich den lauwarmen Stein der Mauer spüren, auf der ich posierte.
„Dreh dein Kopf noch ein wenig zur Sonne", wies mich Jil an. „Perfekt! Jetzt bin ich dran", meinte sie und lies ihre Arme sinken. Ich erhob mich möglichst würdevoll von der Mauer und nahm meiner Freundin das Handy aus der Hand.
„Wo soll ich dich fotografieren?", wollte ich anschließend von ihr wissen.
„Ich stell mich vor das Wasser. Würdest du so ein Foto machen, dass man die Boote dahinten sieht?"
„Klar", erwiderte ich. Nachdem sie sich in eine modelgleichende Position begeben hatte, versuchte ich mich richtig zu positionieren. Es war schwer mich so zu stellten, dass ich gleichzeitig Jil aufnahm und die Segelboote erkennbar waren. Dazu kam die Sonne, gegen die ich nicht fotografieren wollte. Nachdem ich endlich einen guten Standpunkt gefunden hatte, nahm ich ein paar Bilder auf.
„Fertig", teilte ich Jil mit. Sie drehte sich lächelnd zu mir und forderte mich auf, ihr die Bilder zu zeigen.
Kritisch begutachtete sie das erste Bild. „Oh ne!", rief sie aus, „die zwei Turteltäubchen sind mit auf dem Bild."
Tatsächlich, am rechten Rand des Bildes erkannte ich Ann, die Julius küsste. Ich hatte mich zu sehr auf Jil und die Boote konzentriert, so hatte ich die restliche Umgebung und vor allem unsere restliche Gruppe vergessen. Dies erinnerte mich an Emilia, die sich auf eine Bank in der Nähe gesetzt hatte. Gleich zu Beginn hatte sie sich dorthin gesetzt und uns stumm beobachtet, so störte sie zumindest nicht.
Ich warf dem kleinen Liebespärchen einen gespielt bösen Blick zu. Die beiden lachten, entschuldigten sich halbherzig und gingen ein kleines Stück beiseite. Da auch auf den restlichen Bildern die beiden zumindest teilweise zu sehen waren, wollte Jil ein paar neue. „Vergiss nicht die Segelboote im Hintergrund", erinnerte sie mich noch einmal, bevor sie sich wieder ans Wasser stellte.
Auch die Nächsten zwei Fotos waren für uns Beide nicht zufriedenstellend, diesmal waren Jils Haare durch den Wind unschön verweht. Wir schauten uns noch die restlichen an und diskutierten über sie, bis wir ein spöttisches Lachen vernahmen.
Überrascht drehten wir uns um. „Was ist jetzt schon wieder?", wandte ich mich genervt an Emilia.
„Ihr solltet nicht so lange über sowieso missglückte Bilder diskutieren. Wenn ihr die Boote, die übriges miserabel segeln, noch im Hintergrund haben wollt, macht sie schnell. Gleich sind sie weg", sie gluckste. Ich verstand nicht ganz, was sie so amüsierte und war mir unsicher, wie ich reagieren sollte. Doch Jil half mir.
„Was versteht jemand wie du schon von Booten?", fuhr sie das Küken an.
„Mehr als ihr möchtegern Models denkt. Die Welt dreht sich nicht nur um euch und euer Aussehen. Stellt euch vor, es gibt durchaus Leute in eurem Leben, die über Wissen verfügen."
Ich versuchte äußerlich ruhig zu bleiben und überspielte meine Wut einer rhetorischen Frage, auf die ich keine Antwort erwartete. „Als ob du segeln kannst?"
Doch sie antwortete zu meiner Verwunderung. „Eine weitere Aussage, die euer Unwissen zeigt. Ich kann segeln."
„Na klar", meinte ich spöttisch. Ich glaubte ihr kein Wort. Für mich war sie eine Streberin, die nach der Schule nur Zuhause war. Segeln war für mich Etwas cooles, und für mich passten cool und Emilia einfach nicht zusammen.
„Mir ist es egal, ob du mir glaubst", erwiderte sie und zuckte mit den Schultern.
Ich dachte nach. Zwar traute ich ihr die Fähigkeiten nicht zu, doch konnte es trotzdem sein. Und wenn sie tatsächlich segeln konnte, wollte ich es unbedingt einmal ausprobieren. Ich bewunderte schon lange Filme, in denen die Personen die Freiheit beschrieben, die sie beim Segeln erlebten. Es war schon lange ein Wunsch Segeln einmal auszuprobieren. Zwar könnte ich in den Ferien einen Kurs besuchen, doch hatte ich in der schulfreien Zeit andere Dinge vor und ging lieber Feiern. Nach dem Unterricht, im Rahmen der Strafe, war für mich ein optimaler Zeitpunkt. So hätte ich tatsächlich Etwas Spanendes zu Erleben.
„Zeig es mir einfach", forderte ich Emilia heraus.
„Nein, danke. Kein Interesse", antwortete sie zu meinem Bedauern. Doch so schnell gab ich nicht auf.
„Also kannst du es doch nicht", versuchte ich Ehrgefühl zu wecken.
„Doch", antwortete sie prompt.
„Dann zeig es mir."
„Nein."
„Was willst du dafür?", unternahm ich einen letzten Versuch. Ich vernahm ein leises Zischen von Jil. Sie wusste, dass ich mir normalerweise keine Gefallen abnehmen lies. Vermutlich dachte sie, ich würde das andere Mädchen erpressen wollen. Ich gebe zu, es entsprach nicht meinem üblichen Verhalten. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich nicht wusste, womit ich das Küken erpressen könnte, ohne mir selbst zu schaden.
Erst sah es so aus, als wollte das Küken noch immer ablehnen. Doch dann entspannte sich ihr Gesicht und ich konnte ein leichtes Lächeln erkennen.
„Na gut, ich mache es, wenn du zuerst mit mir joggen gehst, denn du brauchst Kondition. Außerdem schreibst du die Berichte", forderte sie.
Ich runzelte zuerst überrascht und verwirrt die Stirn, bestimmt kein schöner Anblick. Dann realisierte ich, was genau sie wollte. Sie wollte mit mir Sport machen! Ich würde mich doch nicht herablassen, mit dem Küken joggen zu gehen. Wie würde ich dabei nur Aussehen! Und so überrannte mich Entsetzen, was auch Emilia erkannte. In ihren Augen konnte ich einen freudigen Schimmer erkennen, an dem ich erkannte, dass genau dies der Zweck ihrer Forderung gewesen war. Sie wusste, dass ich niemals joggen gehen würde, schon gar nicht mit ihr. Und einen Bericht wollte ich schon gar nicht schreiben. Für Emilia war dies eine gute Möglichkeit, meine Forderung freundlich abzulehnen. Doch diese Genugtuung wollte ich ihr nicht geben. Ich wollte nicht, dass jemand mit mir spielte. Ich wusste, dass ich selbst oft nicht anders mit anderen Menschen umging. Doch selbst zu erleben, wie jemand anderes mit mir spielte, war ein neues, unangenehmes Gefühl. Und dieses Gefühl wollte ich nicht zulassen.
Also überspielte ich meine Unsicherheit mit einem Lächeln. „Gut", meinte ich, „ich stimme zu. Morgen gehen wir laufen, übermorgen segeln."
Emilia
Etwas mürrisch trabte ich über den Schotterweg. Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass die Königin mit mir joggen würde. Doch als ich sie nach der Schule getroffen, und sie mich um eine Ecke gezerrt hatte, erkannte ich, dass sie tatsächlich Sportschuhe dabei hatte. Sie sahen noch ziemlich neu aus, kein Wunder, schließlich machte sie im Sportunterricht nie mit.
Doch so behielt ich zu einem Teil Recht, was meine Einschätzung ihr gegenüber betraf, denn joggen war Etwas anderes. Wir waren keine fünf Minuten unterwegs und sie begann zu hecheln und nach Luft zu schnappen. Inzwischen war sie zu einem Tempo übergegangen, bei dem ich einfach neben ihr herlaufen könnte. Als sie nach zehn weiteren Metern Anstalten machte stehen zu bleiben, fand ich, dass es an der Zeit war, die Situation auszunutzen.
„Da rennt ja meine Oma schneller", stachelte ich. „Wenn das alles gewesen sein soll, kann man das wohl kauf als joggen bezeichnen." Sie warf mir einen wütenden Blick zu, doch setzte sich wieder in Bewegung. Es ist das Gute, wenn man mehr Ausdauer besitzt, als der andere. Ich konnte den einen oder anderen Kommentar abgeben, ohne dass sie Atem hatte zu antworten.
„Los! Weiter!", spornte ich sie an und klatschte einmal in die Hände.
Eines musste ich Antonia lassen, sie hatte Kampfgeist. Ich trieb sie immer weiter vorwärts. Dafür, dass sie schon so früh hatte aufhören wollen, hielt sie ziemlich lange durch. Erst nach zwanzig Minuten blieb sie endgültig stehen, das war eine Zeit, mit der man hätte arbeiten können.
„Wasser", brachte sie krächzend heraus. Ich lächelte leicht, auch wenn ich etwas beunruhigt war, da sie tatsächlich mit mich joggen gewesen war, so wusste ich doch, wie sie sich fühlte. Als ich früher begonnen hatte zu trainieren, hatte ich keine zwanzig Minuten durchgehalten. Danach bin ich schwankend zu meinem Haus getorkelt, habe ein Glas Wasser getrunken und mich verschwitzt auf einen Stuhl gesetzt, bis ich mich wieder in der Lage fühlte zu duschen.
Unsere Schultaschen hatten wir in den Spinten gelassen und somit musste ich meinen Noteuro aus meiner Hosentasche opfern, um der Königin ein Wasser zu kaufen. Den Euro würde ich bestimmt nie wieder sehen.
Antonia trank die Flasche in einem Zug leer, danach war sie wieder in der Lage, richtig zu sprechen.
„Bäh, bin ich eklig verschwitzt. Hoffentlich sieht uns so niemand", meinte sie.
Das brachte mich auf eine Idee. Ich zog mein Handy aus der Tasche, welches ich zum Laufen immer mitnahm um die gelaufene Strecke zu messen. „Bitte lächen", meinte ich fröhlich und schoss ein Foto von uns beiden.
„Hey, was soll das? Lösch das sofort!", schrie sie auf.
„Für unseren Bericht", meinte ich mit einem sündhaften Lächeln und steckte das Handy wieder ein.
Antonia beschwerte sich noch ein wenig und klaute mein Smartphone aus der Tasche. Schnell stellte sie jedoch fest, dass sie an meinem Sperrkode scheiterte. Irgendwann zuckte sie dann mit ihren Schultern.
„Immerhin der Erste Teil unserer Abmachung ist erfüllt", bemerkte sie. Sie hatte Recht. Nur noch eine Aufgabe trennte mich von meinem Versprechen und meiner großen Angst. Ein Schauder überlief mich. Ich hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn Antonia tatsächlich den Bericht schrieb.
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