Kapitel 2


Emilia

Der Weg von meinem Spind in den Klassenraum war der reinste Spießrutenlauf. Ich hatte mich verändert, dass wusste ich, doch konnte ich nicht verstehen, warum das meine Mitschüler so zu interessieren schien. Sie standen in ihren Grüppchen, tuschelten leise vor sich hin und warfen verstohlene Blicke zu mir. Dies waren meist die Gruppen der Reichen, Beliebten und Schönen, sie schienen schon perfekt auf die Welt gekommen zu sein und doch konnten sie sich damit nicht zufrieden geben, sie fühlten sich erst dann besser, wenn sie andere schlecht machen konnten.

Ein abstoßendes Gefühl erfüllte mich, als ich in die eisblauen Augen der Königin blickte, so nannte ich sie, die Anführerin dieser Cliquen, Antonia. Sie war nicht immer so gewesen, ganz zu Anfang hatten wir sogar einige Worte miteinander gewechselt, ohne uns gegenseitig zu hassen. Doch jetzt, wo sie mich mit ihrem abwertenden Blick betrachtete, erinnerten mich ihre Augen nur an das kalte, erbarmungslose, unberechenbare Meer, welches mir so viele Schmerzen zugefügt hatte. Als sie sich wieder ihrer Gruppe zuwandte und sie gemeinsam zu kichern begannen, wusste ich, dass dieser Scherz auf meine Kosten gegangen war.

Auch wenn ich es besser wissen sollte, traf es mich im Herzen. Es hörte sich dumpf an, als käme es aus weiter Ferne. Meine Sicht wurde unscharf, ich bekam keine Luft mehr. Ich wusste sofort, es war wieder einer dieser Momente, die ich seit dem Vorfall hatte. Das Gefühl zu ersticken überkam mich und Panik packte mich.

Ich rannte davon, die Richtung war mir egal und ich achtete nicht darauf. Als ich dann die Tür des Mädchenklos erblickte stürzte ich mich erleichtert hinein. Ich stützte mich am Rand des Waschbeckens ab und versuchte meinen Atem zu beruhigen. Es fiel mir schwer mein Gleichgewicht zu halten, mein Herz trommelte in meiner Brust und mein Atem beruhigte sich nur langsam. Ich traute mich nicht mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, ich hatte Angst, es würde wieder anfangen.

Irgendwann setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Ich schämte mich selbst für mein Verhalten. Ich wollte es nicht, doch manchmal überrollte mich die Panik einfach. Ich vergrub meine Hände in den Haaren, während mir eine kleine Träne über die Wange rollte.

Als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, war schon lange Unterrichtsbeginn gewesen. Ich wollte mir die Blöße nicht geben, mit verweinten Augen in den Unterricht zu kommen, auch das Gelächter der anderen würde ich nicht ertragen.

Und so beschloss ich, meinem kleinen, geheimen Ort in der Schule zu besuchen. In den ersten drei Stockwerken der Schule befanden sich Klassenräume, doch im vierten lagerten lediglich alte Gegenstände und Werkzeug, man konnte es als Dachboden der Schule bezeichnen. Doch an der Wand befand sich eine festmontierte Metallleiter, wenn man die kleine Lucke am Ende der Leiter öffnete, konnte man unser Schuldach betreten. Dieses war mein Ziel. Noch mit zittrigen Händen stieg ich die Leiter hinauf und stieß die Lucke auf.

Der Kies knirschte unter meinen Füßen, als ich auf den Rand des Daches zuging. Ich setzte mich hin und lies meine Beine über die Kannte baumeln. Es war ziemlich sicher nicht erlaubt, das Dach zu betreten, doch bisher hatte sich noch niemand anderes hierher verirrt. Es war mein Ort der Ruhe, wo ich durchatmen konnte und mich niemand störte. Ich liebte es, einen großen Teil der Stadt überblicken zu können, es gab mir das Gefühl Kontrolle zu besitzen. Ich sah, wie ein Vogel über die Straße glitt, durch die nur selten ein Auto fuhr. Die Bäume, die mit nie gleichen Bewegungen im Wind tanzten und doch einem Muster folgten. Ich atmete tief ein und genoss es einfach nichts tun zu müssen.

Doch dann passierte das, wovor ich mich solange gefürchtet hatte, ich konnte hören, wie jemand die Leiter zum Dach erklomm. Klar, wenn man den Dachboden betrat, würde einem die geöffnete Lucke sofort auffallen, doch hatte sich bisher niemand dorthin verirrt. Ich betete, dass es nur irgendein Schüler war, der den Unterricht schwänzte und keiner der Lehrer. Ich rappelte mich auf und versuchte möglichst viel Weg zwischen mich und die Dachkannte zu bringen, die Leute redeten schon genug über mich, da musste kein Gerücht über einen Selbstmordversuch dazukommen. Ich atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich begann mir eine Erklärung auszudenken.

Doch als der Kopf meiner Direktorin zum Vorschein kam, setzte mein Herz für einen Schlag aus.

Antonia

„Ey, du hast mir geschrieben, du ziehst die karierte Bluse an", begrüßte ich meine Freundin.

„Hi, ich hab keine Hose zu gefunden", rechtfertigte sie sich.

Nachdem Julius und Ann gemeinsam kamen, war unsere kleine Morgenclique komplett. Die beiden waren seit einem Monat zusammen und liefen seit dem nur noch gemeinsam überall hin. Im Schulgebäude würden sicher noch andere Leute auf mich warten, flüchtige Bekanntschaften, die ich auf meinen Partys begegnete. Damals wusste ich noch nicht, dass sie auch nur deshalb mit mir abgaben und mir Freundschaft vorheuchelten. Ich dachte, ihnen würde tatsächlich etwas an mir liegen.

Als wir zu den Spinten liefen, gesellten sich ein paar dieser Bekanntschaften zu uns. Sie wollten wissen, ob sie von einem von uns die Hausaufgaben abschreiben könnten. Andere wollten den nächsten Termin für eine meiner Feiern wissen. Wieder andere wollten sich einfach bei mir einschleimen.

„Wie sieht die denn heute aus?", bemerkte meine Freundin Jil.

Ich drehte mich in die Richtung, in die Jil blickte. Unwillkürlich musste ich eine Augenbraue hochziehen und sie mustern. Ein leises, amüsiertes Lachten entwich mir.

„Wie ein aus dem Nestgefallenes Küken?", bot ich ihr zur Antwort. Die anderen kicherten mit mir. Emilia, auf die meine Freundin gedeutet hatte, trug ihre braunen, krausen Haare in alle Richtungen abstehend. Dazu ihre zerfranste Jeans wirkte an ihr einfach wie ein letzter Versuch wenigstens etwas Modernes zu tragen, jedoch machte ihr knallbunter Pulli diesen Versuch sofort zunichte. In dem Moment, in dem ich ihr in die Augen blickte, wurden ihre Augen groß und sie schnappte nach Luft. Sie machte einige unbeholfene Schritte, dann rannte sie davon.

Ein einheitliches Lachen und belustigte Kommentare erfüllten den Gang. Wir standen noch ein paar Minuten rum und tauschen Gerüchte aus. So hatte ein Paul aus der 10. angeblich ein Mädchen aus unserer Jahrgangsstufe angefahren. Ein anderer meinte, sie wären zusammen Motorrad gefahren und gestürzt. Ein Klingeln erinnerte uns Schüler, dass der Unterricht gleich beginnen würde. Meine Mitschüler begannen sich in Bewegung zu setzen. Als auch Jil Anstalten machte zu gehen, hielt ich sie am Arm zurück. Ich wartete, bis nur noch sie, Julius und Ann mich hören konnten.

„Wollt ihr euch heute Morgen wirklich schon den Kopf mit Mathe vollstopfen lassen?", fragte ich sie. Sie schüttelten gleichzeitig die Köpfe, woraufhin ich ihre Arme nahm und sie hinter mir her zog. Lachend schlenderten wir durch die Gänge zum Ausgang.

„Wo gehen wir jetzt hin?", wollte Ann wissen.

„In die Stadt", schlug ich vor.

Nachdem die anderen zustimmend genickt hatten, ging ich grinsend voraus. Freudig stieß ich die letzten beiden Türen zum Weg in die Freiheit auf, sie schwangen schnell nach außen auf. Der Weg in die Freiheit war geschaffen.

Leider war das Gesicht von Herr Meier dabei nicht mit eingeplant. Ich hörte ihn laut fluchen, dann stand er uns gegenüber und starte uns wütend entgegen, er rieb sich seine Nase. Ich konnte sehen, wie er rot anlief, die Augen zusammenkniff und mich fokussierte. Es lief mir kalt den Rücken hinunter, mein Lächeln erstarb.

„Ihr drei", er deutete auf meine Freunde, „in den Unterricht." Seine Stimme war bedrohlich leise und strahlte dennoch Gefahr aus. Es führte zumindest dazu, dass sich meine Freunde ohne Widerspruch auf den Weg machten. Als auch ich versuchte zu gehen, packte mich eine kalte Hand am Kragen meiner Bluse. Ich bekam Gänsehaut. Als ich mich langsam wieder umdrehte, blickte ich zu ihm auf. Ein großer Fehler! Er hielt sich mit der einen Hand noch immer die Nase, doch das schlimmste waren seine Augen. Wenn Blicke töten könnten, dachte ich, ich wäre nur noch ein Häufchen Asche. Schnell schaute ich zum Boden. Zum Glück hatte der Unterricht schon angefangen, sonst hätte ich ziemlich viel Respekt den anderen gegenüber einbüßen müssen.

„Antonia", meinte Herr Meier und schüttelte den Kopf. So, wie er meinen Namen betonte, klang es fast traurig, doch übermittelte es auch Verzweiflung. „Das wird sicher einen Verweis nach sich ziehen."

Er packte mich am Arm und zog mich hinter ihn her, still folgte ich ihm. Was er nicht wusste, ein Verweis kümmerte mich nicht. Sie waren dafür gedacht, Schülern Angst zu machen, Angst vor dem, was die Eltern sagen würden. Doch meine Mutter kümmerte mein Leben nicht. So erschreckte es mich auch nicht, als er mich zum Zimmer der Schuldirektoren schleifte. Zwar würde ich mir einen langen Vortrag anhören müssen, doch ich verpasste weiterhin den Matheunterricht.

Herr Meier klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf die Antwort von Frau Esche zu warten. Er wirkte überrascht, als er sah, dass sie nicht alleine war.

Ausgerechnet was aus dem Nest gefallene Küken saß zusammen mit einer anderen Frau, ich glaube, es war die Schulpsychologin, am Tisch. Das brave, tollpatschige Küken! Liebling der Lehrer, Jahrgangsbeste. Das würde ein schönes Gesprächsthema werden, dachte ich mir.

Unsere Rektorin, Frau Esche schaute überrascht Herrn Meier an, dieser stammelte kurz eine Entschuldigung und das er später wiederkommen wollte. Ein weiteres schönes Gesprächsthema. Ein verlegener Deutschlehrer! Ich konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Herr Meier wollte gerade wieder gehen, doch Frau Esche hielt ihn zurück.

„Wir waren gerade fertig. Emilia, gehst du bitte in den Unterricht, wir sprechen uns später noch einmal." Die Angesprochene erhob sich, die Unsicherheit, die sie ausstrahlte entging mir nicht. Sie spielte nervös mit ihren Händen und zitterte leicht, kein Wunder, vermutlich hatte sie noch nie zur Direktorin gemusst. Nachdem sie sich verabschiedet und gegangen war, wandte sich Frau Esche uns zu. Sie wirkte genervt, verständlich, denn sie und ich hatten öfter Gespräche ähnlicher Art.

Als sie erfahren hatte, was passiert war, musste sie laut seufzten. „Was mach ich nur mit dir Antonia?", fragte sie niemand bestimmten. „Wieder nachsitzen? Oder dich von der Schule suspendieren?" Mir war es eigentlich egal, Nachsitzen war nach einer Stunde wieder vorbei und suspendiert zu werden machte mir auch nichts aus, es waren lediglich zusätzliche, freie Tage.

„Wenn ich mich da einmischen dürfte", erhob die Schulpsychologin das Wort. Ich hatte nicht auf sie geachtet, ich kannte nicht einmal ihren Namen. Innerlich musste ich aufstöhnen, Psychologen hatten meiner Erfahrung nach nie gute Ideen. „Ich würde um ein Gespräch unter vier Augen mit Frau Esche bitten."

„Selbstverständlich", erwiderte diese. Und so wurde ich doch noch zum Matheunterricht geschleift.

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Es wird jetzt regelmäßige Updates geben (ein mal pro Woche), ich denke jeden Sonntag. Ich hoffe, ich denke daran :)

Feedback und Wünsche sind sehr gene gesehen.

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