Eves Erinnerungen

Eve! Die Essensreste müssen noch vergraben werden. Du wirst das heute erledigen!"

Eve starrte Dorian entsetzt an.

Es ist schon dunkel, Dorian. Darf mich jemand begleiten?"

Dorian schüttelte den Kopf.

Ich kann keinen entbehren, der dir die Hand halten kann. Du wirst schon alleine zurecht kommen müssen!"

Er sah, dass sie Angst hatte und sein sonst so strenges Gesicht wurde etwas weicher. Er reichte ihr ein großes Küchenmesser.

Ich weiß, dass es gefährlich ist. Aber es geht wirklich nicht! Nimm das Messer und gehe nicht allzu weit weg!"

Sie nickte und schnappte sich die Tonne mit den Resten. Eigentlich war es eine Schande, dass alles weg zu schmeißen, aber Dorian schaffte es einfach nicht zu haushalten. Vielleicht war es ihm aber auch egal. Er würde in ein paar Wochen entlassen werden und dann würde er seinen Nachfolger benennen.

Eve rechnete nicht damit, dass sie es sein würde. Sie war zwar schon lange genug beim Versorgungstrupp, aber sie hatte das Gefühl, sich nicht durchsetzen zu können.

Die Karre, mit der sie alles transportieren sollte, war voll mit Tonnen. Offenbar hatte es keiner für nötig gehalten, die Reste vom Mittag zu begraben. Noch mehr Zeit, die sie alleine vor den Mauern verbringen musste.

Sie legte eine Schaufel auf die Karre und schob sie weg.

Sie hatte das Tor beinahe erreicht, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte.

Wen haben wir hier? Was willst du noch hier draußen?"

Sie drehte sich zu der Stimme um und erschrak. Chase stand vor ihr. Chase war ein aufstrebender Krieger. Er hatte schon einige Kämpfe bestritten und war wohl der nächste Anführer.

Ich...ich muss die Essensreste vergraben!"

Er hob eine Augenbraue. Dann lächelte er schief.

Jetzt erkenne ich dich. Du bist die graue Maus aus der Küche. Du bringst es nie fertig, mein Essen richtig zu kochen!"

Das stimmte nicht. Wut baute sich in ihr auf. Chase behauptete immer so etwas und verhöhnte sie. Er hatte es auch schon einmal gewagt, ihr einen Teller heiße Suppe über den Kopf zu leeren, nur weil sie seiner Meinung nach nicht heiß genug war. Sie hatte wegen Chase schon oft Ärger mit Dorian bekommen.

Und nun stand er vor ihr und verhöhnte sie wieder.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und verkniff sich eine böse Bemerkung. Lieber senkte sie den Kopf und sagte nichts.

Sie hörte sich tief ein- und ausatmen.

Warum bist du alleine hier? Du weißt, wie gefährlich es ist."

Sie nickte.

Dorian kann niemanden mitschicken. Ich muss es alleine machen! Aber er hat mir ein Messer mitgegeben."

Nun hörte sie ihn schnauben und erwartete, dass er sie wieder verhöhnte. Doch nichts dergleichen geschah!

Ein Messer! So ein Idiot.", murmelte er.

Dann schob er den Karren weiter.

Was...was machst du da?"

Ohne auf sie zu achten, schob er den Karren zum Tor.

Wonach sieht es aus. Ich helfe dir! Aber bilde dir nichts ein. Ich schiebe ihn vor das Tor. Den Rest musst du alleine erledigen. Ich habe keine Zeit bei dir zu bleiben."

Sie folgte ihm bis vor das Tor.

Wie er gesagt hatte, ließ er den Wagen stehen und ging wieder hinein.

Ich...ich danke dir!"

Er schnaubte, drehte sich aber nicht um, als er sie ansprach.

Du brauchst mir nicht zu danken! Nimm es meinetwegen als Entschuldigung! Und jetzt verschwinde!"

Sie lächelte leicht.

Das war also Chase Art sich zu entschuldigen.

Sie schob den Karren weiter, bis sie dort ankam, wo die Erde schön weich war.

Sie setzte gerade mit der Schaufel an, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Sie drehte sich um und war sich sicher, dass Chase hinter ihr stand. Doch es war nicht Chase. Es war ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Seine Kleidung war zerschlissen, doch sauber. Er war mager und sein Bart wucherte wirr vor sich hin. Hungrig starrte er die Tonnen an, in der Hand hielt er eine Pistole.

Sie erstarrte.

Der Mann war einer der Rebellen!

Und er hatte eine Pistole.

Ihr Körper zitterte unkontrolliert.

Doch er starrte immer noch auf die Tonnen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Blick ihr zuwandte.

Warum hat er dich alleine gelassen? Ich denke, er ist so mutig und stark. Doch der legendäre Chase lässt eine Frau alleine! Das nenne ich kaum ehrenhaft!"

Sie konnte ihm nicht antworten.

Immer noch starrte sie auf die Pistole.

Das waren wohl ihre letzten Sekunden! Sie würde hier sterben. Sie hatte genug Geschichten über die Rebellen gehört um zu wissen, dass er sie töten würde.

Sie schluckte hart.

Chase ist nicht verpflichtet mir zu helfen! Außerdem kann er mich nicht leiden!"

Der Mund des Mannes zuckte, dann lächelte er.

Du bist mutig, kleines Mädchen!"

Ihre Nasenflügel blähten sich auf.

Ich bin schon über achtzehn!"

Er lächelte sie milde an.

Ah. Also schon beinahe erwachsen! Dann entschuldige ich mich bei dir!"

Er steckte die Pistole ein und zeigte mit dem Kinn auf die Tonnen.

Du wirfst das heute alles weg? Macht es dir etwas aus, dass ich mir etwas nehme?"

Sie starrte ihn an, als er zu der Tonne ging, welche die Reste vom Mittagessen enthielten.

Nein. Nicht die hier. Sie war den ganzen Tag in der Sonne und du verdirbst dir den Magen! Nimm die andere!"

Er griff schnell in die Tonne und holte ein Brötchen hervor, das er regelrecht verschlang.

Ich danke dir!"

Sie sah zu den Mauern.

Von dem Kerl ging keine Gefahr aus. Er hatte nur Hunger. Doch sie hoffte, dass Chase es nicht beobachtet hatte.

Eve hatte Mitleid mit dem Mann.

Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?", fragte sie ihn.

Er zuckte mit den Schultern.

Schon eine ganze Weile nicht. Ich verzichte auf das Essen, damit unsere Kinder mehr zu essen haben!"

Sie hustete erschrocken auf.

Kinder? Bei euch sind Kinder?"

Er lächelte.

Oh ja. Kinder! In Freiheit und aus Liebe geboren und nicht geplant!"

Wieder sah er sehnsuchtsvoll zu den Tonnen.

Wie heißt du?", fragte sie ihn.

Er lächelte sie wieder an.

Mein Name ist Derek. Und wie ist deiner, mutige Frau?"

Eve fand sich ganz und gar nicht mutig, aber die Anrede schmeichelte ihr.

Mein Name ist Eve. Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Derek. Wenn du mir hilfst ein Loch zu graben, kannst du diese Tonne mitnehmen."

Er nickte und schnappte sich die Schaufel, die sie vorhin vor lauter Schreck hatte fallen lassen.

Das nehme ich gerne an. Du hast keine Ahnung, wie sehr du uns damit hilfst. Aber lass es nicht diesen Soldaten erfahren. Ich denke, er würde dich verraten ohne mit der Wimper zu zucken."

Eve zuckte mit den Schultern.

Chase wird nichts erfahren. Er kümmert sich nicht um mich, es sei denn, er sucht ein Opfer für seine Quälereien!"

Derek hielt inne und lächelte sie an.

Ach ja? Das sah vorhin aber ganz anders aus. Er hat die Karre erst los gelassen, als er den anderen Kerl auf der Mauer bemerkte!"

Eve starrte ihn wieder an.

Nein, das stimmte nicht. Derek zog sie bestimmt nur auf. Sie ging gar nicht weiter darauf ein.

Hör zu. Ich will euch helfen."

Derek starrte sie verblüfft an.

Du willst uns Rebellen helfen? Wieso?"

Eve wusste es selbst nicht.

Aber sie hatte Mitleid mit Derek. Und mit den Kindern, die er offenbar zu versorgen hatte.

Ich kann es dir nicht sagen, warum ich es will. Aber ich kann euch helfen. Mein Vorgesetzter macht immer zu viel essen, wie du bestimmt bemerkt hast. Ich werde mich ab heute immer einteilen lassen, um das Essen zu vergraben. Wenn wir vorsichtig sind, hast du immer Essen für dich und die Kinder!"

Er stützte sich auf die Schaufel.

Eve! Du bist die mutigste Frau die ich kenne. Ich schwöre dir, mit dem Angebot hilfst du mehr Leuten, als du dir vorstellen kannst! Ich verspreche dir: solltest du einmal in Schwierigkeiten kommen, dann werde ich dir helfen. Und wenn ich es nicht kann, wird es ein anderer machen!"


Das war vor einem Jahr gewesen.

Sie konnte niemanden sagen, warum sie die Gemeinheiten von Chase aushielt, denn das würde Bestrafung für sie bedeuten. Wahrscheinlich würde man sie foltern, damit sie das Geheimversteck der Rebellen preisgab. Doch damit konnte sie nicht einmal dienen. Sie hatte die Rebellen versorgt, wusste aber nicht, wo sie waren. Sie hatte Derek nie danach gefragt und er hatte es ihr nie gesagt. Aber immer wieder hatte sie ihm Essen überlassen. Vor allem in der Nacht. Irgendwann hatte sie auch Stoffe dazu gelegt. Nur Waffen hatten die Rebellen nie bekommen.

Die Übergabe erfolgte meistens schweigend. Nur ab und zu redete sie mit Derek.

Er erzählte ihr von den brutalen Übergriffen, die Chase auf die Rebellen veranstaltete und mahnte sie zur Vorsicht.

Doch so lange sie sich vor Chase unauffällig verhielt hatte sie keine Angst vor ihm.

Sie seufzte leise.

Leider war sie nur noch ein Jahr hier, dann musste sie jemanden ins Vertrauen ziehen. Aber sie wusste nicht, wem sie vertrauen konnte.

Verschwiegenheit und Zurückhaltung hatte leider auch einen Preis.

Sie hatte nur einen Freund, dem sie vertrauen könnte.

Der war allerdings Violas Liebling und sie war sich sicher, dass Logan nicht mit den Rebellen sympathisieren würde.

Sie nahm sich vor, mit Derek darüber zu sprechen.

Bald.

Denn die Zeit rann ihr nur so aus den Fingern.

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