in deiner Kindheit


Die Kindheit ist für viele einer der schönsten Erinnerungen, die man haben kann. Nur nicht für mich und Walter. Vor allem für Walter. Dabei begann alles recht harmlos. Walter war still. Sehr still sogar. Selbst seine Hebamme sagte es schon wenige Tage nach der Geburt. Er wuchs auch als einziger Sohn mit Schwestern auf. An seine ersten Jahre kann er sich kaum erinnern. Er weiß nur, dass seine Familie damals von einem Dorf in die nächst größere Stadt gezogen ist. Und das er zu Logopädie musste. Die Kindergartenzeit war nicht aufregend, aber da wusste er auch nicht, was für ein Geheimnis durch ihn aufgedeckt wurden ist.

Logopädie ist eine Art Therapie, welche Menschen mit Sprachbehinderung annehmen müssen. Es sorgt letztendlich dafür, dass die Menschen normal sprechen können. Tatsächlich gibt es nämlich in Deutschland viele Menschen, welche einen Sprachfehler haben. Und Walter gehört dazu, auch wenn man diesen Sprachfehler heute kaum noch bemerkt. Walter ist aber nicht der einzige in der Familie, welcher ein Sprachfehler hat. Doch er war es, durch welchen es bekannt wurde. Und welche Maßnahme seine Oma väterlicherseits, Maria, tat, um ihre Kinder und Enkel die Sprache bei zu bringen. In der Familie von Karl gab es seither Menschen mit Sprachfehler. Selbst Karl hatte einen. Doch bei ihm merkte man es nicht mehr. Die preußische und deutsche Erziehung sorgte dafür und schlug Karl Stück für Stück den Sprachfehler aus. Tatsächlich erhoben damals alle Eltern die Hand um ihre Kinder zu erziehen. Was für uns heute undenkbar wäre, war damals normal. Das Kind hatte zu gehorchen und tat es das nicht, so musste es das lernen. Selbst Lehrer regelten so ihre Problemschüler. Die Rute war Gang und Gebe in dem Schul- und Familienalltag. Kind sein hieß damals noch samstags in Schule, den Eltern auf dem Feld helfen, früh erwachsen werden und sollte man nicht spurten, so durfte Hand angelegt werden. Die Kinder von damals wurden regelrecht traumatisiert. So war es auch auf den Dörfern üblich, dass zum Nikolaus und zur Weihnachtszeit die unartigen Kinder dadurch bestraft werden, dass sie in einem Sack gesteckt und mitgenommen werden. So erlitten sie damals ihre ersten Traumas. Auch Annas schielendes Auge kann darauf zurückgeführt werden. Uns erzählte sie mal, dass es dadurch geschah, dass sie die Treppe runterflog. Bei dieser Geschichte kommen uns immer die Tränen, denn Anna erzählte auch weiter, dass damals ihre Mutter oben auf der Treppe stand und der Arzt meinte, diese Art von Verletzung kommt nicht von einem einfach Sturz. Man schweigt darüber, aber scheinbar wurde Anna von ihrer eigenen Mutter die Treppe runter gestoßen und dabei schwer verletzt. Denn das Auge von Anna hat seitdem einen großen Verlust an Sehkraft. Wer nun meint, dass die Schläge bei den Eltern aufhörten, dem muss ich leider widersprechen. Walters Schwester Sophia hatte als Kind ebenfalls ein Sprachfehler. Jedes Mal, wenn Sophia bei ihrer Oma Maria war wurde ihr die Sprache eingeprügelt. Anna wusste von all dem nichts. Sie hatte es nicht geahnt. Später erfuhr sie es und konnte wenigsten Walter davor schützen. Noch heute tut es ihr leid, ihre älteste Tochter nicht beschützt zu haben. Erst durch Walter kam alles ans Licht.

Es war Heiligabend im Jahr 1999 als Walter zum ersten Mal einen Verlust erleben musste. Alles schien ruhig. Es war wie man sich Weihnachten wünschte. Doch das was schon vor Walters Geburt brodelte, musste auch mal ausbrechen. Und so geschah es. An diesem Heiligabend stritten sich die Eltern von Walter dermaßen, dass jedem klar wurde, dass es jetzt vorbei sein würde. So kam es auch. Im nächsten Jahr zog Karl aus dem gemeinsamen Haus aus. Die Kinder blieben bei ihrer Mutter, so war es am besten. Außerdem wollte Karl keines seiner Kinder mitnehmen, auch wenn Sophia es gerne wollte. Walter selber war noch jung, er wusste nicht was geschehen würde. Heute sagt er mir, dass er immer wieder auf seinen Vater gewartet hat. Sein Vater kam auch. Sie hielten so gut es ging Kontakt. Walter durfte auch mit seinem Vater LKW fahren. Aber der Vater kam nicht so wie Walter es sich wünschte. Der Vater kam nicht mehr zurück zur Familie. Walter musste lernen, dass man im Leben Verluste erleben wird. Und dass sie weitreichende Folgen haben werden. Mit dem Vater ging nämlich auch die unbeschwerte Kindheit. Für Walter hieß es bald in die Schule zu gehen. Aufgrund seines Sprachfehlers und einer Flüchtlingswelle konnte er jedoch nicht in die nahe gelegene Sprachförderungsschule. Er musste weiter weg, besser gesagt in eine weit entfernte Stadt, welche ungefähr mit dem Zug dreißig Minuten unterwegs ist. Walter hat nichts gegen Flüchtlinge, nur hätte er sich gewünscht in seiner Stadt bleiben zu können und nicht soweit zu fahren. Noch heute findet er es unfair, dass man ihm so eine Last aufzwang, wobei es anders besser wäre. Er gibt nicht den Flüchtlingen die Schuld, sondern der Politik. Vor allem für das was ihm in der Schule wiederfuhr. Er nennt diese vier Jahre „die Höllenfahrt". In dieser Schule lernte er, wie grausam Menschen sein können. Er war einer der wenigen deutschen Schüler, die in die Klasse gingen. Mit Tim fand er einen guten Freund und Stütze. Denn die anderen, vor allem ausländischen, Schüler fanden es schon bald recht lustig, Walter und Tim zu mobben. Walter war damals leicht übergewichtig. Die Scheidung der Eltern führten ihn in eine Art Esszwang. Er war auch nicht in der reichsten Familie geboren. Seine Mutter musste einen einfachen Job annehmen um die Kinder zu ernähren. Vom Vater kam noch Unterhalt, so dass es immerhin zum Leben gereicht hat. Er besaß sogar schon ein Nokia, damals ein sehr bedeutsames Handy. Das einzige was ihn von den anderen unterschied, war sein Sprachfehler und sein meist unordentliches Aussehen. Zu Walter sollte nämlich noch gesagt werden, dass er ein Problem in der Feinmotorik hatte. Er konnte als Kind sich nie richtig putzen. Für ihn viel es schwer sich den Hinterkopf zu bürsten oder die Backenzähne zu putzen. Er hatte kein Gefühl dafür. Es war eben ein leichter Fehler, denn er hatte und denn kein Arzt bemerkte. Für all die Dinge, die für die Kinder normal waren, brauchte er meist ein Spiegel. So wurden seine hinteren Zähne oft von Karies befallen und die Ärzte gaben ihm auch noch die Schuld.

Das alles sorgte für das Mobbing in der Schule. Wer nun nur an fiese Spitznamen denkt, dem muss ich leider widersprechen. Walter wurde bedroht, gehänselt und geschlagen. Doch das schlimmste war für ihn an einem Tag als er in einer Joggingshose zur Schule ging. Walter erinnerte sich noch, dass es im Religionsunterricht war. Die Lehrerin war draußen, etwas organisieren, während die Schüler an Stationen arbeiten sollten. Walter stand an eben so einer Station, als ein Mitschüler sich anschlich und die Joggingshose von Walter mit samt seiner Unterwäsche runterzog. Der Mitschüler war schnell weg, so dass die Lehrerin nur sah, wie Walter mit heruntergezogener Hose dastand. Alles was sie sagte, war nur die Frage, weshalb Walter das gemacht hatte. An mehr kann er sich zu diesem Vorfall nicht erinnern. Er möchte das am liebsten auch vergessen. Alles was er dann noch von der Schule weiß, war dass die Lehrer nie etwas getan haben, um die Mobber zu bestrafen. Die schlimmste Strafe war, dass die Beschuldigten nicht beim Sportunterricht teilnehmen durften. Das war alles. Laut Anna waren die Lehrer für den Unterricht ebenso nicht geschaffen. Alkoholiker, nennt Anna die Lehrer heute. Sie erinnert sich daran, dass sie Walter damals von der Klassenfahrt abgeholt hatte und in dem Schullandheim mehrere leere Flaschen Wein vorfanden. Die Lehrer verletzen auch ihre Aufsichtspflicht, als Walter damals von einem Hund angefallen wurde. Statt ihm gleich zum Arzt zu schicken, musste er erst noch zur Schule zurück, bevor man seine Mutter rief. Für Anna war es zu viel, weswegen sie zum Ministerium ging, denn der Schuldirektor tat nichts dagegen. Mehr noch, er drohte der Anna, er würde sie fertig machen. Statt das sie fertig gemacht wurde, sorgte sie dafür, dass Walter nach der vierten Klasse versetzt wurde und der Lehrer seine Stelle verlor. Das ging dennoch nicht spurlos an Walter vorbei. So wie er es noch in Erinnerung hatte, wurde er deswegen schlechter benotet als davor. Er rutschte von einer zwei, die er immer hatte, auf eine drei hinunter und das nur weil er die Schule wechselte. Ihm war das egal. Hauptsache er musste nicht mehr in die Hölle gehen.

Für Walter war die Grundschulzeit eine Qual. Verständlich. In der dritten Klasse verlor er auch seinen Freund, da dieser auf eine andere Schule wechselte und danach keine Zeit mehr für Walter hatte. Er schwänzte die Schule, versuchte sich in der Unterschriftenfälschung und tat alles um nicht in die Schule zu müssen. Gleichzeitig fand Walter aber auch seine wahre Liebe. Walter verlor sich zu diesem Zeitpunkt zunehmend in der Musik. Er konnte keinem Menschen mehr vertrauen, sondern nur noch seiner Musik.

In Nachhinein weiß Walter das alles mit der Scheidung zusammenhängt. Forscher fanden heraus, dass das Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Scheidung eine Rolle spielen. Außerdem spielt es eine Rolle, wie die Eltern den Kindern das alles erklären. Doch das alles wurde nach Walters Zeit herausgefunden. Was genau das in Walter auslöste, wird in einem Extrakapitel erklärt. Für Walter hieß es jetzt auf eine neue Schule zu gehen und neue Leute kennen zu lernen.

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