bei deiner Geburt


1993. Deutschland hat sich von dem zweiten Weltkrieg erholt. Seit drei Jahren ist es auch wiedervereint. Der Aufschwung läuft im vollen Maße. Mittendrin leben die sogenannten Kriegskinder und Kriegseltern. Eben jene, welche eigentlich an ihrem Trauma arbeiten sollten, jedoch keine Zeit dafür haben, da sie ein Land wiederaufbauen müssen und es zukunftsträchtig machen.

In eben jener Zeit ist am sechsten Dezember ist Walter T. als jüngsten von vier Geschwistern auf die Welt gekommen. Noch ahnt Walter nicht, in welche Welt er rein geraten ist und auch die Eltern ahnen nicht, wie sich der Junge entwickelt. Früh wird sich bei Walter herausstellen, dass er zu still für ein Baby ist. Viel zu still. Das er überhaupt geboren wird, ist dabei der Zeit geschuldet. Den Walters Familie ist zerrüttet. Was vor Walters Geburt geschah, kann nur seine Mutter Anna sagen. Anna scheint auf den ersten Blick eine normale Frau zu sein. Nur ihr rechtes Auge schielt leicht. Als Walter geboren wird, ist sie Anfang dreißig. Die Geburten der letzten drei Kinder haben natürlich ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem zeigt sie nicht, dass man ihr die Träume stahl. Wäre es nach Anna gegangen, dann wäre sie nach der Schule, und bevor sie auch nur ein Kind bekam, nach Schleswig-Holstein abgehauen. Am liebsten mit ihrer Freundin. Denn Anna ist lesbisch. Doch sie blieb unten. In dem Dorf, wo sie aufgewachsen ist. Annas Freundin machte Schluss, bevor die beiden abhauen konnten. Wie es Anna dabei erging, daran kann sie sich kaum erinnern. Nach der Schule arbeitete Anna in einem lokalen Unternehmen. Anna fing keine Lehre an, wie die meisten Frauen. Sie wollte nicht Hauswirtschafterin oder Erzieherin werden. Sie wollte Schreinerin lernen, doch damals ging es noch nicht. Nicht für Frauen. Der Mann beim Arbeitsamt hatte sie für ihre Träume ausgelacht. Gemeint, Frauen würden hinter dem Herd gehören. Dorthin, wo Anna letztendlich auch gelandet ist.

Wann sie letztendlich ihn kennengelernt hat, dass weiß Anna heute nicht mehr. Die Rede ist von Karl, ihrem Ex-Mann und der Vater ihrer Kinder. Sie heirateten 1982 und 1983 kam ihr erstes Kind auf die Welt. Ob es aus Liebe war oder nicht, daran kann sie sich nicht erinnern. Für mich und Walter ist es jedoch wahrscheinlicher, dass die beiden den Druck ihrer Eltern nachgaben. Beide sind auf einem Dorf aufgewachsen. Karl in einem evangelischen und Anna in einem katholischen Dorf. Beide christlich erzogen mit dem Gedanken, Frau gehört hinter dem Herd, Mann arbeitet für Familie. Und so war auch ihr Zusammenleben. Während Anna auf das Erstgeborene aufpasste, und am Wochenende auch auf die jüngeren Geschwister, arbeitete Karl als Lastkraftwagenfahrer, kurz LKW-Fahrer. Er verdiente das Geld, sie machte den Haushalt. Auf Sophia, die Erstgeborene, folgte bald im Jahr 1986 das zweite Kind, Renate. Eine glückliche Familie, so scheint es. Doch der Schein trügt. Nach Renate herrschte tiefe Risse in dem Eheleben der beiden Kriegsenkel. Die Rede war von Scheidung. Es ging denn beiden in dieser Konstellation nicht gut. Wie gerne würde ich sagen, dass sie dem ein Ende bereiteten und sich scheiden ließen, aber so war es nicht. Man ließ sich nicht scheiden, vor allem nicht in einem so christlichen Gebiet wie Süddeutschland. Sie lebten weiter in ihrer Ehe, beide schwer geschädigt, durch die Traumas ihrer Eltern und dem eigenen, nie gewollten Leben.

Sie versuchten es nochmal. Im Jahr 1992 kam dann Saskia auf die Welt und 1993 Walter. Saskia war das Lieblingskind von Karl, auch wenn sie laut Anna schon immer ein bisschen anstrengend war. So wie Anna es beschrieb, schrie Saskia immer dann, wenn sie jemand nicht mochte. Vor allem ihre Oma, Walpurga, mochte sie nicht. Sie schrie, bis die Familie gehen musste, weswegen Familienbesuche bei den Verwandten immer nur eine halbe Stunde dauern konnten. Als Anna mit Walter schwanger wurde, wussten beide das es nicht so weiter gehen konnte. Karl überlegte sich sogar, ob er nicht in den Fernverkehr gehen sollte. Somit konnte er seine Familie halten, hatte aber endlich die Freiheit, die er wollte. Er würde in dem Haus, in dem die Kleinfamilie wohnte, nach unten ziehen und dort alleine wohnen, während die Mutter mit den Kindern oben blieb. Zu Familienfesten oder wenn jemand zum Kaffee vorbeikam, würden sie dann einen auf heile Familie spielen. Aber Karl konnte sein Mund nicht halten und verriet es aus Versehen seiner Familie. Das Geschrei in der Familie war groß. Niemand konnte es verstehen. Was für uns normal scheint, lassen sich doch viele scheiden, war damals eine große Sachen. Vor allem weil es weder die christliche Ethik als auch die preußische Erziehung zu ließ. Und Karl war preußisch. Zumindest zur Hälfte. Sein Vater, ein Flüchtling aus Ostpreußen, erzog seine Kinder nach dem wie er erzogen wurden ist. Dies beinhaltete eben auch, dass der Mann bei der Familie blieb und das Geld verdiente. Was man dem ungeborenen Walter damit antat, konnte keiner ahnen. Heute weiß man, dass Kinder schon im Mutterleib jegliches Gefühl miterlebt, was auch die Mutter erlebte. Der Stress, denn Anna bekam, durch das Leben, Karl und die Verwandte, bekam auch Walter. Der Stress war das erste was Walter mitbekam. So wuchs in Anna ein Kind, dessen Lebensweg jetzt schon schwierig werden würde.

Als Walter damals auf die Welt kam, ahnte er nicht, was ihn noch bevorstand oder wie schwierig sein Leben werden würde. Er kam als gesunder Junge eine Woche später als geplant auf die Welt und sein Lebensweg begann.   

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