zwölf
baby, we are golden
DER Bandraum des Studentenwohnheims riecht nach feuchtem Beton und Staub, als ich am Freitag Nachmittag zum ersten Mal einen Fuß hineinsetze.
Ich habe mir nach den Vorlesungen einen Karabinerhaken für achtzig Cent gekauft, um Hannas Schlüssel temporär an meinem Bund befestigen zu können.
Wie die Wände und die Tür auch, sind die Fenster mit schalldichten, schwarzen Schaumstoffschalen abgedichtet und nur durch winzige Lücken fällt ein schwacher Lichtstrahl ins Innere. Automatisch wandert meine Hand zu dem Lichtschalter neben der Tür. Die Glühbirne zischt und flackert einige Sekunden lang protestierend vor sich hin, bevor sie anspringt und den Raum in schwaches, gelbliches Licht taucht.
Ich mache einen Schritt nach vorne, woraufhin die Tür geräuschvoll hinter mir ins Schloss fällt. Ich reibe meine Hände aneinander. Wenigstens ist es kühl hier.
Das Zimmer ist nicht sonderlich groß, vielleicht sechzehn Quadratmeter. An der Wand gegenüber von mir steht ein schwarzes Schlagzeug. Auf der Base Drum liegen Lärmschutzkopfhörer und daneben befindet sich ein offener Koffer mit zahlreichen Drumsticks in den verschiedensten Ausführungen. Einige Trommeln sind in dafür vorgesehene, schwarze Taschen verpackt, die überall im Raum verteilt wurden.
Neben dem Schlagzeug steht ein kleines abgenutztes Sofa. Der dunkelgrüne Stoff ist an zwei Stellen verblasst und eingesessen, und an den Lehnen fehlt er teilweise komplett.
Der Boden ist mit fleckigen, zusammengewürfelten Teppichen übersät.
Neben der Tür stehen mehrere Boxen und Verstärker, sowie drei E-Gitarren, eine Bassgitarre und eine einfache Holzgitarre. Auf der Fensterbank liegen überall Plektrons und Stimmgeräte herum.
Es gibt jeweils drei Mikrofon- und Notenständer, aber nur zwei Mikrofone.
Mein Blick fällt zuletzt auf das Klavier links von mir. Es ist aus dunklem, robustem Holz wird von kleineren Perkussionsinstrumenten bedeckt.
Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden fallen und nähere mich dem verstaubten Klavier. Seufzend räume ich Rasseln, Triangeln, Glockenspiele und Tamburine weg, und nehme auf dem abgenutzten Lederstuhl vor dem Instrument Platz.
Mit dem zweiten Schlüssel, den Hanna mir am Donnerstag hilfsbereit in die Hand gedrückt hat, schließe ich es auf und schiebe die Abdeckung zurück. Die Tasten sind nicht verstaubt, was darauf hindeutet, dass dieser Raum vielleicht nicht ganz so verlassen ist, wie er auf den ersten Blick wirkt.
Eine Weile sitze ich einfach nur da und starre die Tasten an. Seit ich hier bin, habe ich kein einziges Mal Klavier gespielt. Mein WG Zimmer ist nicht groß genug, um mein E-Piano zu beherbergen, weshalb ich es schweren Herzens bei meinen Eltern lassen musste.
Also schön. Ich wische meine verschwitzten Hände an meiner Hose ab und wackele mit den Fingern, um sie zu lockern.
Sitze ich überhaupt am richtigen Instrument, um einen Rapsong zu schreiben? Mein Blick wandert zu dem Schlagzeug, welches unberührt in der anderen Ecke des Raumes steht. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich ein paar Unterrichtsstunden, konnte das Drumset aber nie für mich entdecken. Das einzige, was ich darauf spielen kann, ist ein langweiliger Standardbeat.
Frau Dr. Rauch hat gesagt, wir dürfen uns untereinander helfen, weil es Leute im Semester gibt, deren einziges Instrument ihre Stimme ist. Wichtig ist ihr eigentlich nur, dass wir uns die Texte und die Melodie selbst ausdenken.
In den letzten Tagen habe ich vermehrt Rapmusik gehört, konnte mich aber irgendwie nicht so richtig inspirieren lassen. Vielleicht habe ich mir die falschen Lieder rausgesucht.
Ich seufze. Wenigstens habe ich ein Thema. Und wenn ich mich recht entsinne gibt es genug Rapsongs, in denen mit Klavieren gearbeitet wurde.
Ich werde die Melodie und den Text alleine stemmen. Wenn ich die Grundbausteine habe, kann ich mir immer noch Hilfe suchen.
Nach weiteren fünf Minuten, in denen ich bloß stumm dagesessen habe, beschließe ich, einfach drauflos zu spielen. Mein Kopf ist wie leergefegt. Ich brauche dringend Inspiration.
Letztendlich entscheide ich mich für ein altbekanntes Stück aus Romeo und Julia; Montagues and Capulets.
Klavierspielen hat bei mir einen ähnlichen Effekt wie das Klettern. Ich kann abschalten und entspannen, einfach mal an gar nichts denken, bin in einer anderen Welt versunken; meiner Welt.
Mitten im Lied halte ich plötzlich Inne, denn mir kommt eine Idee für eine Melodie. Ich fische mein Handy aus der Hosentasche, gehe auf die Sprachmemo-App, drücke auf Aufnahme und summe leise vor mich hin, damit ich sie nicht vergesse. Anschließend versuche ich, sie mit dem Klavier nachzuspielen. Es dauert eine Weile, denn ich bin nicht gut darin, nach Gehör zu spielen. Ich bin eher ein Fan von Noten und simplem Auswendiglernen, weil ich mich damit sicherer fühle.
Meine Laune bessert sich von Sekunde zu Sekunde mehr und die monochrome Umgebung stört mich irgendwann kaum noch.
Endlich. Endlich habe ich eine Idee. Zwar passt die Melodie nicht sonderlich zu klassischem Sprechgesang, aber Frau Dr. Rauch hat mir nicht verboten, einen Refrain in Popform zu schreiben. Durch meine Recherche weiß ich, dass es Rapsongs in dieser Form wie Sand am Meer gibt.
Nach über einer Stunde bin ich zufrieden.
Nun fehlt mir der Text. Weil ich das Thema bereits festgelegt habe, kann ich ihn wenigstens etwas eingrenzen.
Gestern Abend lag ich im Bett und habe mir bis tief in die Nacht hinein Blogger auf Tumblr angesehen, die an Depressionen erkrankt sind und dort sowohl über ihren Alltag, als auch über ihre Gedanken schreiben. Ich möchte den Song so realistisch wie möglich gestalten, schließlich soll er auf ein wichtiges, sensibles Thema aufmerksam machen.
Eine Weile überlege ich, denke über das nach, was ich gestern gelesen habe.
Viele Blogger haben über Antriebslosigkeit geklagt. Morgens kommen sie nicht aus dem Bett und ... Moment mal.
Gedanklich versuche ich, den Satz an meine Melodie anzupassen.
Ich komm' nicht aus dem Bett, passt nicht.
Morgens komme ich nicht aus dem Bett, auch nicht.
Ich komm mal wieder nicht aus dem Bett, passt einigermaßen, klingt aber doof.
Ich überlege weiter. Man fühlt sich allein und unverstanden, in einer Welt voller Menschen.
Ich bin allein. Langweilig. Ich möchte mit meinem Text etwas bewegen, darum fällt es mir auch so schwer, die richtigen Worte zu finden.
Ich bin allein, auch wenn jemand an meiner Seite ist. Nicht poetisch genug.
Dann kommt mir eine Idee.
Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Das ist gut.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute so gut vorankommen werde. Wenn das so weitergeht, bin ich viel früher fertig als gedacht.
Vertieft in meinen Song und mit den schalldichten Schalen vor den Fenstern in meinem Rücken merke ich nicht, wie schnell die Zeit vergeht und so sitze ich bis spät in die Nacht im Bandraum.
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»Ihr müsst mir versprechen, ehrlich zu sein«, sagt Valentina noch in derselben Nacht. Wir sitzen alle bei uns zu Hause, am Laptop, skypen und warten geduldig nickend darauf, dass sie uns den Refrain ihres Songs präsentiert.
Seit geraumer Zeit schon starre ich ihr T-Shirt an, auf dem eine große, bunte Kuh zu sehen ist. Darunter stehen die Worte: Ich respekTIERE.
Nachdem ich den Bandraum verlassen habe und in der WG eingetrudelt bin, haben wir eine Weile in der Gruppe von der alle reden geschrieben. Weil wir uns alle gleich viele Gedanken um unseren Song gemacht haben und keine von uns wirklich schlafen konnte, haben wir uns dazu entschieden, spontan eine Skype-Krisensitzung einzuführen.
Valentina holt tief Luft und widmet sich den Zeilen, die auf dem Papier vor ihr geschrieben stehen:
»In meinem Lokus wächst ein Krokus
Ein mickriger, ja ganz kleiner
Ich kann ihn sehen, sonst sieht ihn keiner
Verstopfen tut er den Abfluss im nu,
nun ist der braune Schmu
auch noch auf meinem Schuh
Seine Farben bringen mir Freude am Morgen
doch ich mache mir Sorgen
um den Abwasserkanal,
denn ein Stau wäre fatal
Meine Entscheidung ist getroffen,
ich bin betroffen
In meinem Lokus wächst ein Krokus
der jetzt tot is'.«
Sie macht eine bedeutende Pause, bevor sie vom Blatt aufsieht und unsicher in die Webcam schaut.
Einen Moment lang ist es komplett still. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.
»Schwachsinn ist kein Stilmittel, Valentina«, sagt Lana schließlich sachlich.
Hanna und Livi prusten daraufhin los und auch ich kann mich nicht länger zurückhalten.
Valentina schaut uns betrübt an. »Es ist scheiße, oder?«
»In meinem Lokus wächst ein Krokus?«, keuche ich.
»Was ist denn dein Thema?« Lana ist die einzige, die einigermaßen seriös bei der Sache bleibt.
»Ich muss ein Liebeslied schreiben«, stöhnt Valentina leidend und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Wenigstens hast du das Genre getroffen«, lacht Hanna.
»Findest du?«
»Definitiv! Deine Zerrissenheit war deutlich zu spüren.« Sie hält sich inzwischen den Bauch. »Man hat gemerkt, wie sehr du gelitten hast, aber du musstest eine Entscheidung treffen. Egal wie stark deine Liebe zu dem Krokus war, du musstest ihn beseitigen, sonst hätte er deine Toilette, die ein Sinnbild für dein Leben sein könnte, zerstört.«
Valentina nimmt eine Hand aus ihrem Gesicht, um uns den Mittelfinger zu zeigen. »Habt ihr schon etwas? Ich brauche dringend Inspiration!«
»Mir fehlt der Text, aber ich habe gestern Abend mit Lennart gesprochen und er wird mir dabei helfen eine Melodie aufzunehmen«, berichtet Lana.
»Ich habe noch nicht angefangen«, gesteht Hanna, sobald sie sich wieder eingekriegt hat. »Meine Schwester ist gerade zu Besuch.«
»Und ich bin immer noch damit beschäftigt, zu verstehen, was K-Pop überhaupt ausmacht.« Livi streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Nun warten alle gespannt auf meine Antwort.
»Ich habe den Refrain«, murmele ich unsicher. »Nur ein paar Zeilen, die ziemlich überarbeitungsbedürftig sind. Außerdem ist Rap mein Genre und ich bezweifele, dass -«
»Sei nicht immer so unselbstbewusst, Raya. Du hast keinen Grund dazu«, unterbricht Lana mich. »Außerdem - schlimmer als Valentinas Text kann es ja wohl kaum sein.«
»He!«, entgegnet diese entrüstet.
Wir brechen erneut in schallendes Gelächter aus, bevor es wieder still wird und alle darauf warten, dass ich das bisschen Lyrics, was ich mir gestern aus den Fingern gesaugt habe, präsentiere.
Ich nicke zögerlich.
»Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit.«
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