zwei

i wanna be king in your story

ICH stoße einen frustrierten Schrei aus, als ich den hochgeklappten Toilettendeckel am Morgen sehe und mich gelbliche, kleine Flecken rund um die Schüssel herum spöttisch anlächeln. Mit polternden Schritten stampfe ich über den knarrenden Dielenfußboden im Flur und reiße Cans Zimmertür auf.

»Wenn man nicht zielen kann, sollte man nicht schießen!«, fauche ich geladen und sehe viel zu spät, dass mein halb spanischer, halb türkischer Mitbewohner nicht alleine im Bett liegt. Neben seinen dunklen Locken kann ich kurze, helle Haare entdecken, die einen starken Kontrast zu seiner schwarzen Bettwäsche darstellen.

Weil mein zweiter Mitbewohner Noel die Nacht überall nur nicht hier verbracht hat, kann ich halbwegs gut eingrenzen, wer seine schlechte Zielgenauigkeit an unserer armen Toilettenschüssel ausgelassen hat.

Zielstrebig gehe ich auf Cans Bett zu und reiße die Decke weg. Weil ich mich mental schon darauf vorbereitet habe, splitterfasernackte Körper vorzufinden bin ich nicht überrascht, als zu erst der eine blanke Hintern und dann der zweite zum Vorschein kommt.

Ich gebe Can einen unsanften Nackenklatscher und bewerfe seinen Freund im Anschluss mit Klopapier, das ich extra aus dem Badezimmer mitgebracht habe, damit die Jungs ihre Sauerei selbst wegmachen können.

»Ich weiß nicht, wer von euch beiden für das Dilemma im Bad verantwortlich ist und das ist mir ehrlich gesagt auch egal. Aber irgendjemand wird jetzt diese Flecken aufwischen und dieser jemand bin nicht ich!«

Da ich schon seit Ferienbeginn in der WG wohne und sowohl Can als auch Noel inzwischen besser kennengelernt habe, gehe ich wesentlich offener mit ihnen um, als mit meinen Kommilitonen aus der Hochschule. Sobald ich jemandem vertraue, lässt meine Nervosität nach und ich werde langsam aber sicher zu dem quirligen Menschen, der ich eigentlich bin.

»Warum genau habt ihr nochmal ein Mädchen bei euch einziehen lassen?«, stöhnt Lion, Cans Affäre, genervt und tastet missmutig nach der Rolle, die ich ihm an den Kopf geworfen habe.

»Ich wäre auch angeekelt wenn ich einen Penis hätte«, zische ich warnend. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich noch vierzig Minuten Zeit habe, bis die erste Vorlesung losgeht. Hanna und ich wollten uns zehn Minuten vorher in der Eingangshalle treffen. Mir bleibt also nicht mehr viel Zeit um mich fertigzumachen und zur Hochschule zu fahren.

»Wenn du einen Penis hättest, wären die Flecken von dir«, murmelt Can gestresst in sein Kopfkissen.

Zu meiner großen Erleichterung wuchtet Lion sich im Sekundentakt seufzend aus den vielen Kissen hoch und läuft so, wie Gott ihn geschaffen hat, an mir vorbei in den Flur.

»Du könntest deinen Bettgeschichten ruhig mal Manieren beibringen«, sage ich zu meinem Mitbewohner und verschränke die Arme vor der Brust.

»Und du könntest ruhig mal normal sein«, beschwert Can sich. Noch immer hat er sein Gesicht in einem Kissen vergraben. Muss er heute gar nicht zur Uni? Im Gegensatz zu mir studiert er Mediengestaltung im dritten Semester.

»Normal sein ist langweilig«, entgegne ich schulterzuckend, schmeiße seine Decke wieder auf ihn und verlasse zufrieden sein Zimmer.

xxx

Die Eingangshalle ist brechend voll, als ich abgehetzt durch die großen Flügeltüren trete. Ich bin schon wieder zu spät und hoffe innerlich, dass Hanna keinen großen Wert auf Pünktlichkeit legt, wenn sie nicht gerade von ihrer Schwester manipuliert wird. Ich möchte es mir mit ihr nicht schon am zweiten Tag verscherzen.

Mein Blick wandert hektisch durch das Meer an Studenten und ich atme erleichtert aus, als ich dunkelbraune, wuschelige Haare am anderen Ende der Halle erkennen kann.

Mithilfe meiner Ellenbogen bahne ich mir meinen Weg durch das Chaos und kämpfe mich mit Mühe und Not zur anderen Seite durch. Dort angekommen, werde ich sofort an den Schultern gepackt und in eine feste Umarmung gezogen. »Da bist du ja. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Hast du gut geschlafen?«

»Geht so.« Sobald Hanna mich wieder losgelassen hat, wische ich mir demonstrativ den Schlafsand aus den Augen. »Mein Mitbewohner und seine on-off-Affäre haben mir den letzten Nerv geraubt.«

Mitleidig verzieht sie das Gesicht. »Das tut mir leid für dich. Würde es deine Laune heben, wenn ich dir erzähle, dass unsere kleine Zweimanngruppe Zuwachs bekommen hat?« Sie dreht sich um und deutet mit einer überschwänglichen Handbewegung auf zwei Studentinnen, die sich bisher stumm hinter ihr versteckt haben.

Hanna tritt zur Seite und ein bildhübsches Mädchen mit schulterlangen, hellblonden Haaren kommt als erstes zum Vorschein. Ihr Gesicht sieht aus, wie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten: Hohe Wangenknochen, herzförmige Lippen, mandelförmige, blaue Augen und eine Nase, die so gerade ist, wie die Rutsche auf einem Kinderspielplatz.

Sie reicht mir ihre eiskalte, zierliche Hand mit den feinsäuberlich lackierten, bordeauxroten Nägeln. »Lana Johansen. Nein, ich komme nicht aus Amerika und man spricht meinen Nachnamen auch nicht aus wie den von Scarlett Johansson. Ich bin auch nicht magersüchtig; ich habe eine Schilddrüsenüberfunktion, die bereits behandelt wird.« Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, da zieht sie ihre Hand aus meinem lockeren Griff und fügt flüchtig hinzu: »Ach und, die Luft hier oben ist sehr gut.«

»Raya«, sage ich überfordert. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Lana schenkt mir ein Lächeln und noch während ich sie verstohlen mustere, kann ich mir plötzlich denken, dass sie bestimmte Fragen sehr oft gestellt bekommt. Sie ist tatsächlich sehr groß; mindestens eins fünfundsiebzig, und schlank ist sie auch.

»Falls du jemanden kennst, der bald Geburtstag feiert«, sagt sie und überreicht mir im Anschluss eine kleine, weißgoldene Visitenkarte.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

»Ich singe auf Veranstaltungen«, ergänzt sie. Wahrscheinlich hat sie meinen irritierten Blick gesehen. »So finanziere ich mir das Studium.«

Ich nicke beeindruckt.

Offenbar hat sie sich nun endlich zu Ende vorgestellt, denn sie tritt einen Schritt zur Seite und überlässt somit dem Mädchen, das sich die ganze Zeit über hinter ihr versteckt hat, den Platz.

Ich schicke ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, indem ich hoffe, dass sie sich kürzer fassen wird als Lana, setze ein schüchternes Lächeln auf und schenke ihr meine ganze Aufmerksamkeit.

»Soraya?«

Mein Herz macht einen Hüpfer, wie ein Flummi auf Parkettboden. Wie lange habe ich meinen vollen Namen schon nicht mehr gehört?

»Livi?!« Ich kann meine Fassungslosigkeit kaum verbergen.

»Ihr kennt euch?«, fragt Hanna, die die ganze Zeit über aufmerksam zugehört hat. »Das ist ja lustig.«

Livi streicht sich schüchtern eine Strähne ihrer mittellangen Haare hinter das Ohr. »Kann man so sagen.«

Uns gab es früher nur im Doppelpack. Seit wir bei unserer Einschulung für die fünfte Klasse beide einen Gipsarm hatten, waren wir unzertrennlich. Wir haben alles zusammen gemacht; Sport, Musik, Abitur. Zusammen gelernt, zusammen gelacht, zusammen geweint. Bis Australien uns auseinander gebracht hat. Seit dem Vorfall vor neun Monaten, seit ich übereilt mein Sportstudium und meine Zelte im Ausland abgebrochen habe und zurück nach Deutschland gezogen bin, haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Nicht, weil wir uns gestritten haben. Sondern weil wir vergessen wollten. Diesen einen verdammten Tag, der unser Leben komplett auf den Kopf gestellt hat.

»Gut siehst du aus«, sagt sie und mustert mich einen Moment lang nachdenklich. »Anders.«

Weil ich meiner Stimme nicht traue, nicke ich bloß stumm. Natürlich sehe ich anders aus. Ich habe das letzte halbe Jahr damit verbracht, mich zu verändern.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich bei deinem Vater durchsetzt«, fährt sie fort, bevor sie zwei große Schritte auf mich zumacht und mich in eine herzliche Umarmung zieht.

Überrumpelt von ihrer freundlichen Geste ziehe ich scharf die Luft ein. Es dauert einen Moment, bis ich mich überwinden kann und meine Arme ebenfalls um sie lege. Ich muss mich zu ihr herunterbeugen, da sie mir gerade mal bis zur Brust geht. Livi war schon immer ein sehr kleiner, zierlicher Mensch.

»Und ich hätte nicht gedacht, dass du jemals zurück nach Deutschland kommen würdest«, schaffe ich, zu sagen.

»Ich auch nicht«, gesteht sie schulterzuckend. »Ist wohl Schicksal.«

Das Schicksal verbindet Menschen und das Schicksal trennt Menschen. Uns hat es wieder zusammengebracht. Und auch, wenn ich dem mit gemischten Gefühlen entgegenblicke, fühlt es sich bereits jetzt so an, als wäre Livi nie weggewesen, als wäre ich nie gegangen.

Während ich mich von Grund auf verändert habe, sieht Livi noch immer genauso aus wie damals. Sie trägt ihre Haare offen und glatt, weil sie ihre Naturkrause nicht ausstehen kann. Ihre Haare können sich nicht entscheiden, ob sie lieber braun oder dunkelblond sein wollen, also sind sie meistens irgendwas dazwischen. Je nachdem, wie das Licht fällt.
Livi tuscht sich noch immer nur die oberen Wimpern, die ihre rehbraunen Augen umrahmen, nicht die unteren. Nie die unteren.
Sogar die Kette, die sie von ihrer Oma zum zehnten Geburtstag geschenkt bekommen hat, trägt sie noch. Und genau wie damals, kombiniert sie sie mit einem glänzenden Edelsteinanhänger. Ich könnte wetten, sie wechselt die Farbe der Steine auch heute noch passend zu ihrer Laune.
Alles an ihr ist genau wie früher, und doch ist etwas anders.

»Weil eure Wiedervereinigung dramatischer ist, als der Berliner Mauerfall 1989, unterbreche ich euch nur sehr ungern. Aber wir müssen wirklich los. Es ist schon fünf vor acht«, sagt Lana und tippt sich auf die goldene Armbanduhr, die neben zahlreichen Haargummis locker an ihrem Handgelenk baumelt.

Als ich heute morgen aufgestanden bin, habe ich wirklich mit vielem gerechnet. Aber ganz sicher nicht mit Olivia Friedrichs, meiner ehemaligen besten Freundin.

Einsichtig lasse ich sie wieder los.

Stumm laufen wir nebeneinander her, zum Hörsaal. Die ganze Zeit über werfe ich ihr unauffällige Blicke zu, während mein Herz wie ein Presslufthammer gegen meine Brust schlägt. Nie hätte ich gedacht, sie je wiederzusehen. Und jetzt wo sie wieder aufgetaucht ist, genauso plötzlich, wie wir uns damals aus den Augen verloren haben, weiß ich absolut nicht, wie ich damit umgehen soll.

Es ist brechend voll, als wir im Hörsaal ankommen. Vom Professor ist weit und breit nichts zu sehen und die Studenten unterhalten sich angeregt. Es herrscht ein hoher Geräuschpegel im Raum, alle lachen, quatschen oder tippen auf der Tastatur ihrer Laptops herum. Die Luft ist schlecht, stickig und es riecht nach Salami.

»Wollen wir uns ans Fenster setzen?«, frage ich.

»Gute Idee«, sagt Lana, während sie sich die Nase zuhält. Dann deutet sie mit ihrer freien Hand auf einen braunhaarigen Jungen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. »Da vorne ist Lennart.«

»Wer?«, fragt Hanna planlos.

»Lennart«, wiederholt Lana, als wäre es selbstverständlich, ihn zu kennen und läuft im Anschluss zielstrebig in seine Richtung.

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»Jeder der etwas auf sich hält, lässt sich regelmäßig auf Semesterfeiern blicken«, verkündet Lana in der Mittagspause, die wir alle gemeinsam verbringen.

Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch, während ich ein Sandwich aus dem Automaten verdrücke. Es schmeckt nicht ganz so widerlich, wie ich erwartet habe.

»Und was soll das bezwecken?«, fragt Livi. Sie sieht nicht sonderlich begeistert aus.

Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie gerade wirklich, live und in Farbe, vor mir sitzt. Uns trennen so viele Monate und trotzdem fühle ich mich noch genauso verbunden mit ihr, wie am ersten Tag. Doch etwas ist anders. Da ist diese dunkle Wolke, die über unseren Köpfen schwebt, seit ich Australien verlassen habe. Und ich habe das Gefühl, sie wird von Sekunde zu Sekunde größer.

Ich habe unglaubliche Angst davor, mit ihr alleine zu sein. Ob sie versuchen wird, mit mir über das zu sprechen, was damals passiert ist?

»Die goldenen Regeln des Studiums«, erklärt Lana genervt. »Lernen. Feiern. Trinken.« Sie dreht ihren Zeigefinger im Kreis. »Immer und immer wieder.«

Neben ihr sitzt Lennart. Viel mehr als seinen Namen, den Namen seines Autos (ja, er hat sein Auto getauft) und, dass er mit uns studiert, weiß ich nicht über ihn. Keiner der beiden hat es für nötig gehalten, uns etwas mehr über ihn zu erzählen als: ›Das ist Lennart‹ und ›Moin. Ich bin Lennart. Und das ist mein Auto. Er heißt Leonardo.‹ Leonardo das Cabrio. Hm.

»Ich bezweifele stark, dass man mit diesen Regeln einen Abschluss schafft«, sagt Hanna belustigt.

»Wie dem auch sei.« Lana verdreht die Augen, während sie abwesend an den cremefarbenen Haargummis zupft, die sich reihenweise um ihre Handgelenke wickeln. »Am Freitag findet die erste große Semesterfeier im Wohnzimmer statt. Das ist ein Club in der Innenstadt. Alle gehen dahin. Und wir werden auch da sein.« Ich glaube, sie hat es nicht so mit Details. Außer, wenn es darum geht, sich Fremden vorzustellen.

»Ich bin nicht so das Party-Animal«, gesteht Livi wenig begeistert.

Lennart zuckt mit den Schultern. »Dann ändert sich das jetzt. So eine Feier ist eine gute Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Besonders dann, wenn man sich noch nicht lange kennt.«

Hanna und ich tauschen vielsagende Blicke aus, während mir Aleahs Worte im Kopf herumschwirren, wie ein Schwarm Bienen. Ich muss über meine Grenzen hinausgehen.

»Ich bin dabei«, sage ich kurzerhand, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen kann. Hanna nickt zustimmend.

»Super!« Lana zeigt uns einen Daumen nach oben.

Nun sind alle vier Augenpaare auf Livi gerichtet. Sie hebt geschlagen die Hände. »Okay, okay. Ich komme. Aber wenn ich es blöd finde, seht ihr mich nie wieder auf so einer berüchtigten Party.«

»Deal«, sagt Lennart und fährt sich durch die dunkelbraunen Haare, die an den Seiten etwas kürzer sind, als oben. Er scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. »Seid ihr eigentlich schon in der Semester-WhatsApp-Gruppe?«

Synchron schütteln wir den Kopf. Anschließend geben wir ihm unsere Nummern, damit er uns hinzufügen kann.

Als ich abends im Bett liege, erstellt Hanna Büchner eine eigene Gruppe - die Gruppe von der alle reden.

Hallöchen ihr Süßen, was haltet ihr davon, wenn wir am Freitag bei mir vortrinken und dann gemeinsam zum Club fahren?, fragt sie.

Schnell schaue ich mir die Profilbilder der einzelnen Kontakte an und speichere sie unter ihren Namen ab.

Gute Idee, schreibt Lana.

Bin dabei, verkünde ich.

Ich habe heute meine Nachbarin kennengelernt. Sie heißt Valentina, studiert auch Musik und würde gerne mitkommen, erzählt Hanna.

Kein Problem, antwortet Livi.

Hanna hat eine unbekannte Nummer hinzugefügt.

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