WHYs Song

DEN Freitag Abend und die halbe Nacht verbringe ich mit Recherche. Inzwischen hat sich das Bild von Paul und seiner schwangeren Freundin Marie, das vor einigen Wochen an dem schwarzen Brett in der Hochschule hing, in meine Netzhaut gebrannt.

Ich habe mir sämtliche online-Artikel zu dem schrecklichen Vorfall durchgelesen.

Paul hatte seit der Volljährigkeit mit starken Stimmungsschwankungen zu kämpfen. Die Presse spekuliert auf die verschiedensten psychischen Krankheiten. Von den meisten habe ich zuvor noch nie etwas gehört.

Mit zwanzig hat Paul seine Freundin Marie kennengelernt. Die beiden waren unzertrennlich, haben alles zusammen gemacht. Nach nur fünf Monaten sind sie zusammengezogen und zwei Jahre später war Marie schwanger.

Ihre Eltern behaupten, die letzten Wochen vor ihrem Tod kaum etwas von ihr gehört zu haben. Ihre Besuche seien immer weiter abgeflaut und wenn sie dann mal da gewesen wäre, wäre sie nur für wenige Stunden geblieben.

Ihr Vater soll sogar blaue Flecken an ihren Armen entdeckt haben, doch darauf wird nie näher eingegangen.

Eine Woche vor dem schrecklichen Ereignis soll Paul sich abgekapselt haben. Er studierte Mediendesign in Hamburg und arbeitete im Rewe ums Eck, um Geld für sein Kind, das in wenigen Monaten das Licht der Welt erblicken sollte, zu verdienen.

Mitarbeiter und Freunde beschrieben ihn komischerweise sehr unterschiedlich. Die einen behaupteten, er wäre ruhig und zurückhaltend, die anderen erzählten euphorisch von gemeinsamen exzessiven Partynächten.

Das ergibt absolut keinen Sinn. Aber wenn man den Gerüchten von einer psychischen Krankheit Glauben schenkt, sieht die Situation schon wieder anders aus.

Wenn Paul wirklich krank war, wieso hat ihm dann niemand geholfen? Und wenn Maries Vater wirklich blaue Flecken an ihren Armen entdeckt hat, warum hat er nie nachgefragt?

Ich fahre mir durch die Haare. Obwohl ich seit mehreren Stunden alle existierenden online-Artikel durchforste, habe ich noch immer absolut keinen blassen Schimmer von dem, was wirklich passiert ist. Ich war nicht dabei. Ich kann die Sache nicht beurteilen. Und eigentlich sollte ich mich auch gar nicht einmischen. Das Geschehene geht mich absolut nichts an. Paul würde bestimmt nicht einmal wollen, dass ich - eine völlig Fremde - sein Schuldeingeständnis liest.

Lana hatte Recht. Es ist gut, dass die Polizei nicht alle Informationen an die Presse weitergereicht hat. Es gibt eben einfach gewisse Dinge, die nicht in falsche Hände geraten dürfen.

Paul hat vor seinem Selbstmord Briefe und Sprachnachrichten verfasst, in denen er seine Gedanken festgehalten hat. Er wollte sich erklären und sicherstellen, dass sein Bruder weiß, was in seinem Kopf vorging. WHY ist dieser besagte Bruder. Und nun hat er Pauls Briefe umgeschrieben und seinen tragischen Tod in einem Song verarbeitet. In meinem Song.

Seit einigen Minuten schon kommt mir wiederholt ein Gedanke: Halte ich vielleicht gerade ein Beweismittel in den Händen? Stumm begutachte ich die schimmernde CD, drehe und wende sie in meinen Fingern. Eigentlich kann das nicht sein, schließlich bin ich nicht im Besitz der echten Briefe, sondern habe lediglich eine abgewandelten Version von ihnen erhalten.

Vor gut einer halben Stunde habe ich den gesamten Liedtext herausgeschrieben. Das Blatt Papier liegt auf meinem Schreibtisch und lacht mich neckisch an.

Die meisten Strophen kann ich inzwischen auswendig. Ich wälze mich im Bett hin und her, bevor ich mich schließlich dazu entscheide, das Lied noch ein weiteres Mal anzuhören. Ich robbe auf meinen Nachtschrank zu und lege die CD in das Radio, das ich mal wieder aus der Küche entwendet habe. Wenig später ertönen die ersten Klänge meines Refrains.

Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit

Ich schreibe schon den vierten Brief an dich
weiß nicht
wie ich anfangen soll, ob ich anfangen soll?
Ist vielleicht nicht immer sinnvoll,
aber wichtig, dass ich dir sage, was ich fühle
Zahlreiche Zettel, die in meinem Zimmer liegen
und im Müll, vollbeschrieben
mit Worten, die sich in meinen Gedanken bekriegen
Nichts davon wirst du je lesen,
mich vergessen, als wäre ich nie dagewesen
Das ist okay, du bist noch jung
ziemlich naiv wenn du mich fragst
aber du fragst mich nicht
Durch das Fenster, das ich lange nicht mehr geputzt habe,
kann ich dich sehen
Du stehst auf der Rutsche im Garten, die ich für dich gebaut habe,
muss nur den Kopf heben
Du siehst glücklich aus
wenn ich dich seh will ich das auch
Und eigentlich sollte ich dein Vorbild sein
aber ich kann kein Vorbild sein
und schon gar nicht deins
und irgendwie bist du auch meins
auch wenn das komisch ist, ich weiß
Du stehst immer noch auf der Rutsche - rutscht du gleich?
Es ist kalt draußen und glatt, rutsch nicht aus
Ich werde auch diesen Brief wegschmeißen, noch ist es nicht so weit
Zeit habe ich zuhauf
Bitte pass auf dich auf
Dein Bruder Paul

Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit

Zehn Briefe und zehn Jahre später
ziemlich lange her
Wenn du mich fragst
Du fragst mich immer noch nicht - aber das ist jetzt nicht wichtig
Du bist siebzehn
und während dein Leben weitergeht,
fühl ich mich, als würde meines stehen,
als würd ich mich im Kreis drehen
und dabei zusehen, wie ich untergeh
Ich habe ein Mädchen kennengelernt - sie heißt Marie
Sie hilft mir, meinen Gedanken zu entfliehen
Du sagst, du machst dir Sorgen,
Ich sag, ich brauche keine Therapie
Du sagst, das sei nur temporär - der Prolog meiner Untergangssymphonie
Die Hysterie
in meinem Kopf ist unerträglich
Mal auf, mal ab, ich kann das nicht
Mal hoch, mal tief, mal falle ich
Unendlich
Aber letztendlich ist das eigentlich egal, schließlich geht es hier um dich
Um dich und mich und wie mir mein Leben aus den Händen glitt
Ich will ein guter Bruder sein, aber das bin ich nicht
Es ist dunkel in mir, so unfassbar schwarz
und von Tag zu Tag
wird es hässlicher
Gestern habe ich vom Tod geträumt und war zufrieden
Alles war still, nur du bist geblieben
Du verdienst diesen Brief, aber ich kann ihn dir nicht geben
bin in einem Stimmungstief
Und du immer noch so verdammt naiv
Deine Welt leuchtet, und das ist okay, du bist wohlauf
Pass auf dich auf
Dein Bruder Paul

Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit

Weißt du WHY, manchmal verletz ich mich,
seelisch und körperlich
Ich zeichne Bilder und schreibe Geschichten, auf meiner Haut
Aber das ist gut, denn so trifft meine Wut
wenigstens nicht dich
Manchmal verletz ich mich,
um zu sehen, wie stark ich bluten kann
Das ist wie ein Damm,
der bricht, und alles vernichtet, mich vernichtet, aber nicht dich
nie dich
Ich will das Beste für dich,
ich will, dass du glücklich bist
darum solltest du wissen, wie hinterhältig Liebe ist
Solange du aufpasst, ist alles gut
aber wenn du leichtsinnig wirst, ertrinkst du
Liebe ist wie das Meer,
unberechenbar und unfair
Wie verbrennen im Flammenmeer
Ja, so ungefähr
Wie das schwarze Loch in deiner Brust,
das dich langsam zerfrisst
Das ist alles, was du wissen musst
Wenn du mir nicht glaubst,
frag Marie, die kennt sich damit aus
Pass auf dich auf
Dein Bruder Paul

Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit

Ich habe gelogen WHY, ich verletze auch Marie
Manchmal schreit sie, manchmal weint sie,
aber glaub mir WHY, das wollt ich nie
Ich habe ihr gezeigt, wie es in mir aussieht
Sie sollte aufpassen, dass sie sich nicht in meiner Dunkelheit verliert
Sie hat nicht aufgepasst - Ein blinder Passagier
in meinem abstürzenden Luftschiff
Ich fahre Auto, darum schreibe ich dir nicht,
Lächerlich,
so 'ne beschissene WhatsApp Sprachnachricht
Ich weiß - tut mir leid
Ich hab Marie von meinem Plan erzählt - sie hat geweint
Du musst versteh'n:
ich hab eingesehen, dass ich nicht glücklich werde
nicht hier, mit ihr
Das Universum ruft meinen Namen, ruft nach mir,
hier
mach ich alles kaputt
was nicht kaputt ist
dich
mich
Ich werde sie mitnehmen, WHY
mit in die Unendlichkeit
Sie ist im Kofferraum - hörst du sie schreien?
Wir haben die Brücke bald erreicht
Ich habe getrunken, WHY
Gin Tonic und es schmeckt widerlich,
aber es macht meine Gedanken erträglich
Verdammt, ich freue mich
Wir werden ertrinken, jämmerlich,
so wie ich mein Leben lang ertrunken bin
in meinem Kopf, wo diese beschissenen Gedanken sind
Bitte versuch nicht mich zu finden
Du kannst mich nicht aufhalten, niemand hält mich auf
Pass auf dich auf
Dein Bruder Paul

Du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit
Habt nach dem Sinn dieses Lebens gesucht
Du weißt
Eure Seelen so zerstreut, wie Konfetti in der Luft
Du weißt
Weil nichts für immer hält
Du weißt
Zerstört euch, wie der Wind das Blumenfeld
Du weißt
Habt euch getrennt und wieder vereint
Du weißt
Habt so oft im strömenden Regen geweint
Und du weißt, ihr seid endlich, allein zu zweit

Lieber Paul,
Ich kenne das Gefühl;
man will sich Chaos von der Seele schreiben
aber es klappt nicht
So viele Gedanken im Kopf, die schreien
mit böser Absicht,
die rauswollen, ausbrechen, aus dem Gefängnis, das sich mein Körper nennt
Du bist der einzige, der diese Gedanken kennt
Ich habe viel zu lange geschwiegen
Du bist weg, Paul, wieso bist du nicht geblieben?
Engel können fliegen
Zeit, die wie Sand durch meine Finger rinnt,
weil wir alle endlich sind
Bist gegangen, still und leise wie der Wind,
und doch mit einem lauten Knall
Und es knallt immer noch, wenn dein Namen fällt
Wenn 'ne Hassparole an deiner Hauswand steht
Wenn die Sonne untergeht
Und meine Welt
wie ein Kartenhaus zusammenfällt
Du warst alles für mich;
mein Bruder, ein Vorbild, mein Held
Aber du bist kein Held
du bist ein Psycho, der seine Freundin sterben ließ,
so nennen sie dich auf dem Kiez
Ich habe neben dir laufen gelernt
und es ist so verdammt schwer, weiterzugehen
Meine Beine tragen mich nicht
Ich fühl mich schwer ohne dich
Ich weiß, das wolltest du nicht
Wie ein Schlag ins Gesicht,
ein erloschenes Schlusslicht,
am Ende des Tunnels
Du hast mir beigebracht, wie wertvoll das Leben ist
Ich bin ein Sadist, ich leide für dich
Ich hoffe du bist glücklich, wo auch immer du jetzt bist
im Himmel, in der Hölle, oder einfach nur im Nichts
Ich denke immer noch an dich
Ich werd dich nicht vergessen, das schwöre ich
Wir zu zweit
gegen die Zeit
ich liebe dich
WHY

Um halb drei, in der Nacht, rufe ich bei der Polizei an und erzähle ihnen von der CD. Viel dürfen sie mir nicht verraten. Nur, dass die Akte geschlossen ist und man die Briefe bereits kennt. Der Song ist kein Beweismittel und muss nicht konfisziert werden. Dafür erzählt er aber eine Geschichte. Eine Geschichte, die mich nicht mehr loslässt und in ihre unergründliche Tiefe zu ziehen droht.

A/N: dieses Kapitel liegt mir ganz besonders am Herzen, da es den Song beinhaltet, an dem ich die letzten Wochen und Monate gearbeitet habe. Diese Zeit war wie eine Achterbahnfahrt. Es gab Hochs und Tiefs, ich war oft unzufrieden, wusste nicht weiter und habe ständig etwas geändert. Ich hoffe sehr, dass euch mein fertiger Song gefällt, obwohl ich in der Hinsicht wirklich kaum Erfahrungen habe - weder im Schreiben eines Liedes, noch im Bereich der Poesie. Und natürlich freue ich mich über konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge 😊
xx

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