vierzig

und wenn die party vorbei ist
dann bin ich wieder alleine
und wenn die party vorbei ist
dann wird es endlich leise

ES ist bereits dunkel draußen, als ich den Bandraum verlasse. Es gab keinen einzigen freien Platz im online-Forum der Hochschule, weshalb ich heute notgedrungen in dem kleinen Bungalow neben Hannas Studentenwohnheim proben musste.

Lauwarme Luft strömt mir wie eine Wand entgegen. Es ist einer dieser Sommertage, an denen man auch spät abends keine Jacke braucht.

Der Geruch von Regen auf Asphaltboden steigt mir in die Nase. Offenbar gab es ein Unwetter, von dem ich im schalldichten Bandraum nichts mitbekommen habe.

Auf den Straßen vor mir spiegeln sich in dreckigen Pfützen die bunten Lichter der Stadt wieder.

Ich bleibe einen Moment lang stehen und lasse die Umgebung auf mich wirken. Hamburg kann sehr schön sein, wenn man die richtigen Ecken kennt. Hanna hatte wirklich Glück mit ihrem Wohnheim.

Irgendwann wende ich mich ab und fische mein Handy, sowie meine Kopfhörer aus dem Rucksack, um das leise Rauschen der Stadt in Musik zu ersticken. Ich kann es immer noch nicht leiden, wenn es still um mich ist.

Jetzt, wo ich weniger mit meinen eigenen Problemen zu kämpfen habe, als vor ein paar Wochen noch, wandern meine Gedanken immer öfter zurück zu Yannik. Wie es ihm wohl geht?

Ich schüttele den Kopf und setze meine Kopfhörer auf. Dann vergrabe ich meine Hände in den Hosentaschen und laufe los.

Mein Fahrrad habe ich heute zu Hause gelassen. Seit ich auf den Kran geklettert bin um Yannik zu retten, gehe ich unheimlich gerne zu Fuß. Spaziergänge helfen mir, meine Gedanken zu sortieren und bringen mich runter.

Nach ein paar Minuten beginnen meine Füße zu schmerzen. Vielleicht habe ich die Strecke ein wenig unterschätzt. Mit dem Fahrrad lässt sie sich leicht zurücklegen. Aber wenn man sie zweimal am Tag läuft, macht sich das ganz schön bemerkbar.

Ich seufze ergeben. Die nächste Bushaltestelle ist nicht weit weg, direkt gegenüber vom Hochschulgebäude.

Ein letztes Mal sehe ich mich um, dann mache ich auf dem Absatz kehrt und laufe in die entsprechende Richtung.

xxx

Ich erkenne die Bushaltestelle schon von weitem. Eine kaputte Straßenlaterne flimmert vor sich hin und taucht sie in schwaches, gelbliches Licht.

Plötzlich durchdringt lautes Scheppern die Musik in meinen Ohren und ich zucke erschrocken zusammen. Das gehörte definitiv nicht zum Lied.

Zögerlich nehme ich meine Kopfhörer ab und bleibe stehen.

Suchend drehe ich mich im Kreis, während sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend ausbreitet.

Mein Blick bleibt erneut an der Haltestelle hängen, von der mich noch gut zwanzig Meter trennen.

Ich kneife meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um in der Ferne etwas erkennen zu können. Aber dieses Viertel ist wirklich ziemlich schlecht beleuchtet, weshalb mich das nicht sonderlich weiterbringt.

Unsicher wandert mein Blick von meinen schmerzenden Füßen zur Bushaltestelle und wieder zurück.

Es ist halb elf. In dreißig Minuten kommt mein Bus. Ich müsste also noch gar nicht zur Haltestelle laufen. Und trotzdem setzen sich meine Beine wie von selbst in Bewegung.

Je näher ich der flackernden Laterne komme, desto mehr kann ich erkennen. Unzählige Glasscherben liegen auf dem Boden verteilt. Das schmale Gerüst der Haltestelle wirkt kahl und nackt ohne seine Verkleidung.

Eine düstere Gestalt hockt neben dem Scherbenmeer auf dem Boden und flucht. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch wird stärker, mein Herz beginnt zu rasen und ich bleibe erneut stehen.

Unauffällig sehe ich mich um. Auf der anderen Straßenseite geht ein Mann mit seinem Hund spazieren und etwas weiter abseits steht eine ältere Frau und telefoniert. Ganz alleine mit der mysteriösen Gestalt, die allen Anschein nach die Haltestelle kaputt gemacht hat, bin ich also nicht.

Noch scheint sie mich nicht entdeckt zu haben. Gut so. Ich möchte mich nicht mit ihr anlegen, denn sie ist offensichtlich gewaltbereit.

Einen Moment lang mustere ich sie schweigend. Da ich ihr inzwischen näher gekommen bin und uns nur mehr vier Meter trennen, kann ich sie etwas besser erkennen. Sie hat mir den Rücken zugekehrt, trägt einen schwarzen Kapuzenpullover und eine weite Hose in derselben Farbe.

Als der Hund des Mannes in der Ferne anfängt zu bellen, mache ich auf dem Absatz kehrt und sehe mich nach einer Bank um, schließlich habe ich noch Zeit. Wenn ich mich ausruhe, beruhigen sich meine Füße vielleicht wieder und wenn ich Glück habe, muss ich dann doch nicht Bus fahren.

Doch schon nach wenigen Metern halte ich erneut in meiner Bewegung inne. Ein gelbes Logo schießt mir durch den Kopf. So plötzlich und unerwartet, dass ich wie angewurzelt stehenbleibe. Ich habe es anscheinend übersehen und mein Unterbewusstsein möchte mich nun darauf aufmerksam machen.

Mein Gehirn rattert auf Hochtouren, während ich mich ein letztes Mal zur Bushaltestelle umdrehe.

Irgendwoher kenne ich dieses Symbol!

Als die Gestalt, die offenbar ein Junge ist, erneut laut flucht, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das ist das Bandlogo der Twenty One Pilots!

Yannik ist bestimmt nicht der einzige Mensch auf dieser Welt, der so einen Pullover besitzt. Vor mir könnte wirklich jeder sitzen. Und trotzdem lege ich schnellen Schrittes die letzten paar Meter, die zwischen mir und der Haltestelle liegen, zurück. Nur um im Anschluss festzustellen, dass ich mich nicht geirrt habe.

»Yannik?«, frage ich vorsichtig.

Ich beuge mich zu ihm herunter, während mir lauwarmer Sommerwind einzelne Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf gelöst haben, ins Gesicht weht.

Er hebt den Kopf und ich ziehe scharf die Luft ein, sobald er mich ansieht. Seine Wangen sind rot, seine Lippen kaputt und seine Augen voller Tränen, die zwischen seinen dichten Wimpern verweilen und schwach glänzend die Lichter der Stadt widerspiegeln.

Ich kenne Yannik noch nicht lange. Seit ein paar Monaten, um genau zu sein. Und trotzdem habe ich ihn schon öfter weinen sehen, als meinen eigenen Vater. Das sollte mir zu denken geben. Und das gibt mir auch zu denken. Doch obwohl mir schon wieder tausend Fragen im Kopf herumschwirren, wie ein Schwarm Bienen, bleibe ich still.

Einen Moment lang hadere ich mit mir. Ich sollte auf dem Absatz kehrtmachen und gehen. Yannik kann und will mir nichts zurückgeben. Ich beiße bei ihm auf Granit. Das habe ich inzwischen verstanden. Aber wieso fällt es mir dann so schwer, mich von ihm fernzuhalten? Ich muss ihn nur ansehen, wie er vor mir sitzt, mit einer blutenden Hand und Tränen im Gesicht, und schon ist mir klar, dass ich nicht stark genug bin, um ihn hier einfach sitzen zu lassen.

Anstatt etwas zu sagen, schaut er mich bloß weiterhin wortlos an. Ich muss mich dazu zwingen, mich von seinem durchdringenden Blick ab- und den Wunden an seiner Hand zuzuwenden.

Seufzend lasse ich mich neben ihn auf den Boden fallen, stets darauf bedacht, mich nicht auf eine der vielen Scherben zu setzen. Dann greife ich ohne nachzudenken nach seiner rechten Hand und ziehe sie zu mir, um die Schnitte in seiner Haut besser begutachten zu können. Seine Finger sind eiskalt, obwohl es noch immer angenehm warm draußen ist.

»Was hast du getan?«, frage ich leise.

Es ist, als würde mein Leben mich testen wollen, und Yannik ist der Test. Jede Begegnung mit ihm wirft mehr Fragen auf, auf die ich keine Antworten finde.

Wieso hat er meinen Song beendet? Woher wusste er, in welchen Briefkasten er die fertige CD werfen sollte? Warum ist er auf den Kran geklettert? Macht er das öfter? Weshalb hat er ausgerechnet mich angerufen und nicht die Feuerwehr, oder Lennart, oder seine Schwester? Was ist auf der Wache passiert? Hat man ihm eine Strafe aufgebrummt, oder konnte er einfach wieder gehen? Warum hat er die Bushaltestelle kaputtgemacht? Wie geht es ihm? Was für eine bescheuerte Frage. Wie soll es ihm schon gehen.

Ich rechne eigentlich nicht mit einer Antwort. »Siehst du doch.«

Frisches, rubinrotes Blut läuft über seinen Handrücken und landet warm auf meiner Haut. Ich muss mich dazu zwingen, den Geruch von Eisen auszublenden, der wie eine düstere Wolke über uns schwebt, schnappe mir stattdessen ein paar Taschentücher aus meinem Rucksack und wickele sie fest um seine Wunden.

»Wie ist das passiert?«, ignoriere ich seinen schnippischen Kommentar.

»Gehst du mir aus dem Weg?«, überrascht er mich mit einer Gegenfrage.

Überrumpelt ziehe ich eine Augenbraue hoch und mustere ihn, wie er so vor mir sitzt, mit der blutenden Hand und den roten, verweinten Augen.

Ich habe ihn in letzter Zeit nur selten gesehen. Die freiwilligen Vorlesungen scheint er konsequent zu schwänzen, und die einzige Pflichtveranstaltung, die wir zusammen haben, ist Frau Dr. Rauchs Kurs.

Außerdem hatte ich in den vergangenen Wochen genug mit mir selbst zu kämpfen. Ich hatte weder zu Yannik, noch zu Jascha Kontakt. Jetzt, wo es mir besser geht, scheint sich das allerdings wieder zu ändern.

»Wäre ich sonst hier?«, entgegne ich und hasse mich im selben Moment dafür, dass ich nicht einfach weitergegangen bin. Aber das hätte ich nicht gekonnt. Und das weiß ich ganz genau.

Yannik schüttelt den Kopf und lässt mich dabei keine einzige Sekunde lang aus den Augen. »Dass du hier bist ist Zufall.«

Ertappt und mit klopfendem Herzen wende ich den Blick ab. Was soll das? Warum stellt er mir überhaupt so eine Frage? Ausgerechnet in so einer Situation. Ich habe doch selbst keine Ahnung, was ich will!

»Also, gehst du mir aus dem Weg, Raya?«

Ich zwinge mich dazu, mich zusammenzureißen und schüttele den Kopf. »Du gibst mir auch nie Antworten auf meine Fragen.«

Dann begutachte ich die Scherben, zwischen denen wir sitzen. »Erzähl mir, wie das passiert ist!«

Er seufzt ergeben, senkt seinen Blick und zuckt mit den Schultern. »Meine Faust wollte unbedingt das Glas treffen.«

»Deine Faust?«, wiederhole ich ungläubig. Er hat die Haltestelle absichtlich kaputt gemacht?

Er nickt. »Meine Faust und das Chamäleon.«

Skeptisch sehe ich ihn an. Das Chamäleon? Ist er betrunken? Er riecht eigentlich nicht nach Alkohol.

»Verarsch mich nicht«, sage ich also. »Ich möchte dir nur helfen, okay?«

»Okay.«

»Du musst das verbinden. Kriegst du das alleine hin, oder soll ich dich nach Hause begleiten?«

»Ist ziemlich weit bis zu mir.« Darum saß er wahrscheinlich auch an der Haltestelle. Bis er sich aus einem – mir unerfindlichen Grund – dazu entschieden hat, sie kaputtzumachen.

»Dann fahren wir zu mir.« Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr und ignoriere dabei Yanniks Blut, das inzwischen auch an meinen Fingern klebt. »Der Bus müsste jede Minute kommen.«

Ich halte seine Hand weiterhin fest und drücke die Taschentücher auf seine Wunden, um die Blutung zu stoppen.

»So wird man dich nicht mitnehmen«, sage ich mit Blick auf seine Verletzungen.

»Das ist Hamburg, Soraya. Nicht der Himmel. Hier wird man auch mitgenommen, wenn man ein Messer in der Brust stecken hat. Die Menschen interessieren sich nicht dafür. Die sehen sowas jeden Tag.«

»Ich interessiere mich aber dafür«, sage ich ohne nachzudenken, während ich meinen Zopf öffne und das Haargummi um seine Hand wickele, um die Taschentücher zu fixieren.

Jetzt fallen mir die Haare erst recht ins Gesicht. Ich vergesse erneut das Blut an meinen Händen, als ich sie reflexartig hinters Ohr streichen will. Yanniks freier Arm schnellt nach vorne, seine Finger legen sich um mein Handgelenk und dann fällt es mir wieder ein.

»Warte«, sagt er knapp. »Lass mich.«

Er schaut mir direkt in die Augen, während er mit seiner unverletzten, sauberen Hand die vorwitzigen Haarsträhnen aus meinem Gesicht streicht.

Als Yanniks Finger unabsichtlich Kontakt mit meiner Wange machen, durchzuckt mich plötzlich ein elektrisches Kribbeln, so unerwartet und überwältigend, dass ich erschrocken zurückweiche. Und dann fällt mir endlich ein, worauf ich während des Kusses mit Jascha so sehnsüchtig gewartet habe. Das hier.

Um etwas Abstand zwischen uns zu bringen, führe ich seinen Arm zu der Tasche, die die Mitte seines schwarzen Pullovers ziert, lasse ihn los und stehe auf. Jetzt sind meine blutverschmierten Finger und die zahlreichen Scherben um uns herum das einzige, was auf eine Sachbeschädigung hinweist.

Ich schnappe mir die letzten zwei Taschentücher und meine Wasserflasche, dann säubere ich meine Hände so gut ich kann.

»Steh auf, wir haben nicht mehr viel Zeit!«

Zu meiner großen Überraschung tut er, was ich sage.

Mit meinen Schuhen schiebe ich die Scherben zu einem großen Haufen zusammen und wundere mich darüber, dass er mir nach ein paar schweigsamen Sekunden dabei hilft.

Als der Bus um 23:02 Uhr kommt, merkt keiner etwas von dem Chaos, das Yannik angerichtet hat. Oder er hat Recht und es interessiert sich tatsächlich niemand für uns.

A/N: endlich ein kleiner Hinweis darauf, wieso euch an jedem Anfang eines Kapitels das Chamäleon begrüßt. Habt ihr schon einen Verdacht, was Yannik damit meinen könnte? xx

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