vierundzwanzig
'cause if you're not really here
then the stars don't even matter
DIE Glocke über unseren Köpfen klingelt schrill und laut, als ich am Samstag Nachmittag dicht gefolgt von Jascha das Eiscafé betrete. Weil ich in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugekriegt und mir bis zum Morgengrauen das Hirn zermartert habe, musste ich unser Date etwas nach hinten verschieben. Schließlich wollte Jascha sich mit mir treffen, und nicht mit der weiblichen Version von Gollum aus Herr der Ringe.
Einen Moment lang schließe ich die Augen und genieße die kühle Luft, die uns entgegen strömt. Es ist einer dieser Sommertage, an denen man kaum vor die Tür gehen kann, ohne zu verbrennen. Man schwitzt sogar vom Atmen und die hohen Temperaturen drücken auf die Lunge.
Wie reihen uns artig in die kleine Schlange vor der Theke ein und warten. Ich fische mir ein paar Haare aus der Stirn, die sich aus meinem Dutt gelöst haben und versuche, den Bügel meines BHs zu ignorieren, der sich unangenehm stark in meine Rippen drückt. Mein Spaghettitop schmiegt sich an meinen Oberkörper wie eine zweite Haut. Nicht weil es so eng ist, sondern weil es so warm ist.
Zu meinem Leidwesen habe ich begonnen zu schwitzen, sobald ich die WG verlassen habe. Vielleicht war es nicht die beste Idee, bei diesem Wetter Fahrrad zu fahren.
»Weißt du schon, wie viele Kugeln du nimmst?«, frage ich Jascha, während ich versuche, über die Schulter des Mannes vor mir zu schielen und einen Blick auf die Auswahl zu erhaschen.
Ein Grinsen schleicht sich auf seine Lippen. Er wirkt fast ein wenig spitzbübisch. »Fünf. Und du?«
»Fünf?« Mit großen Augen sehe ich ihn an. »Ich schaffe höchstens drei!«
Sein Grinsen wird breiter. »Es kann sein, dass ich vielleicht ein kleines bisschen süchtig nach Eis bin«, gesteht er. »Und an deiner Stelle würde ich mir zweimal überlegen, ob du nicht vielleicht mehr Kugeln bestellen möchtest.« Er beugt sich zu mir hinunter und seine Nase streift meine Wange, als er mir »denn ich bezahle. Das würde ich ausnutzen« ins Ohr flüstert.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Viel Zeit um zu überlegen habe ich nicht, denn als Nächstes sind wir an der Reihe.
Jascha bestellt fünf Kugeln Kaugummieis mit extra viel Sahne, während ich mich trotz seines großzügigen Angebotes auf drei verschiedene Sorten beschränke; Waldmeister, Joghurt und Apfel.
Er bezahlt, wir nehmen unser Eis entgegen und beschließen kurzerhand, im Café zu bleiben, wo die Temperaturen nicht versuchen, einen bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Wir setzen uns an einen versteckten, runden Tisch in der hintersten Ecke. Inzwischen hat sich mein Körper etwas akklimatisiert und ich habe aufgehört zu schwitzen. Trotzdem bin ich froh, meine Haare heute morgen zu einem wirren Dutt zusammengebunden zu haben, denn sonst würden sie mir jetzt wahrscheinlich haufenweise im Nacken kleben.
Wir stoßen gebührend mit unseren Eisbechern an, bevor wir beginnen, den kühlen Segen zu vernaschen.
»Dieser Laden verkauft das beste Eis in ganz Hamburg«, verkündet Jascha, nachdem wir ein paar Minuten lang schweigend unser Essen genossen haben. »Vertrau mir, ich bin Experte auf diesem Gebiet.«
Jascha scheint heute außergewöhnlich gute Laune zu haben. Das freut mich, denn nach der vergangenen Nacht kommen mir ein paar unbeschwerte Stunden sehr gelegen.
Ich nicke zustimmend. Ich habe wirklich noch nie besseres Eis gegessen. Gerade, als ich mir einen Löffel in den Mund schieben will, vibriert das Handy in meiner Hosentasche. Unauffällig fische ich es heraus und luge unter die Tischplatte, um zu sehen, wer mir geschrieben hat. Es ist Aleah.
Und, konntest du schon etwas herausfinden?
Beinahe fällt mir der Löffel aus der Hand. Nach meinem Telefonat mit der Polizei war ich so aufgewühlt, dass ich selbst dann nicht mehr schlafen konnte, als es bereits hell draußen wurde. Darum habe ich bis halb neun gewartet und anschließend meine Schwester angerufen. Mit irgendjemandem musste ich reden, sonst wäre ich explodiert. Und da sie quasi live dabei war, als ich die CD in meinem Briefkasten entdeckt habe, kam sie als einzige in Frage.
Wenn Aleah will, kann sie mich in Sekundenschnelle wieder aufmuntern, und so war es auch dieses Mal. Wir haben fast eine Stunde lang telefoniert. Sie hat mich beruhigt und mir versichert, alles richtig gemacht zu haben.
Anschließend haben wir über Jascha und unser Date gesprochen und sie hat mir ans Herz gelegt, die Gelegenheit zu nutzen, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Schließlich steht er ganz oben auf meiner Recherche-Liste. Doch sollte er wirklich Pauls Bruder sein, verbirgt er mehr vor mir, als ich wahrscheinlich zu träumen vermag. Da muss sich so viel in ihm aufgestaut haben; Wut, Trauer, Verzweiflung. Ich muss vorsichtig sein.
Unauffällig richte ich meinen Blick auf Jascha. Seine schwarzen Haare sitzen wie immer perfekt, trotz des schrecklich warmen Wetters. Bisher waren sie nur ein einziges Mal durcheinander; nämlich auf der Party im Wohnzimmer.
Seine Augen leuchten in derselben Farbe wie mein Eis, während er sich gierig einen Löffel nach dem anderen in den Mund schiebt. Er hat Recht. Er ist definitiv süchtig nach Eis.
Außer dieser Tatsache weiß ich so gut wie nichts über ihn und das möchte ich ändern. Nicht nur, weil ich unbedingt herausfinden möchte, ob er etwas mit der CD zutun hat, die vor kurzem in meinem Briefkasten lag, sondern auch, weil ich ihn besser kennenlernen will.
Ich schiebe mein Handy zurück in die Hosentasche, ohne Aleah zu antworten. Das kann erstmal warten.
»Wie kommst du mit deiner Komposition voran?«, frage ich und kühle nebenbei meine Handgelenke an meinem bunten Pappbecher.
Ich bin noch nicht einmal ansatzweise fertig mit dem Essen, da kratzt Jascha auch schon die letzten Reste aus seinem Becher. »Ganz gut. Ich habe vor kurzem den Text fertiggestellt und erste Probeaufnahmen gemacht.«
Sofort werde ich hellhörig. »Warst du in den Bandräumen der Hochschule?«
Er nickt. »Ja. Die sind echt cool, findest du nicht?«
»Definitiv!«, stimme ich ihm zu.
»Und du? Hast du deine Krise mittlerweile überwunden?«
Mein Herz macht einen Hüpfer. Er erinnert sich an unser Gespräch im Wohnzimmer, in dem ich ihm beiläufig gestanden habe, Schwierigkeiten mit Frau Dr. Rauchs Projekt zu haben. Das spricht für ihn.
»Läuft gut«, sage ich und beobachte seine Reaktion dabei ganz genau. Er wirkt entspannt. Ich kann beim besten Willen kein Anzeichen auf eine schreckliche Vergangenheit erkennen. Aber wahrscheinlich kann er das einfach bloß gut verstecken. Bisher hat mir auch noch keiner angesehen, dass ich ein Menschenleben auf dem Gewissen habe.
»Welches Genre wurde dir zugeteilt?«, erkundige ich mich, um die brodelnden Gedanken an Australien im Keim zu ersticken, bevor sie mich bei lebendigem Leibe zerfressen.
Er seufzt. »Metal.«
Unter dem Tisch gebe ich ihm einen freundschaftlichen Tritt. »Oh Mann, ich kann deine Freude bis hierher spüren.«
Er stöhnt genervt auf. »Frau Dr. Rauch ist eine Ausgeburt der Hölle! Sie glaubt doch nicht wirklich, dass sie auf diese Weise unser Talent heraus kitzeln kann!«
»Sie möchte uns fordern«, erwidere ich schulterzuckend. »Das ist an sich eigentlich nichts Schlechtes.«
»Natürlich nicht«, entgegnet Jascha und schiebt zufrieden seinen leeren Becher von sich. Er ist ein ziemlich schneller Esser. Wir sitzen noch nicht einmal seit zehn Minuten am Tisch. »Ich finde ihre Umsetzung bloß fragwürdig.«
»Stimmt«, gebe ich ihm Recht.
Ich weiß nicht, wie lange wir im Eiscafé sitzen und uns unterhalten, aber als Jascha aufsteht, um sich noch eine weitere Kugel in der Waffel zu bestellen, habe ich herausgefunden, dass er neben dem Studium als DJ arbeitet und gelegentlich in kleinen Kneipen auftritt. Vor allem Karaokeabende im Irish Pub finden nur selten ohne ihn statt. Außerdem spielt er Gitarre seit er acht Jahre alt ist und hat ein besonderes Faible für Kaugummieis (wer hätte das gedacht?). Seit einigen Wochen geht er mit Lennart ins Fitnessstudio. Er achtet sehr auf sein Aussehen und zu meinem Leidwesen hat sich bisher nichts daran geändert, dass er morgens sehr lange im Bad braucht.
Jascha steht auf Popmusik und seine Lieblingssängerin ist Taylor Swift. Er hat sogar ein T-Shirt mit ihrem Gesicht darauf im Schrank hängen, das er während eines ihrer Konzerte in Hamburg erworben hat.
Trotzdem bin ich mit meiner eigentlichen Recherche nicht weitergekommen. Ich konnte ihm keine Hinweise darauf entlocken, dass er sich hinter dem Namen WHY verbirgt, das Gegenteil beweisen kann ich aber auch nicht. Ich stehe genau da, wo ich die letzten Tage auch stand.
Frustriert vergrabe ich mein Gesicht in den Händen. Ich schiebe meinen Zeigefinger leicht zur Seite, um Jascha unauffällig zu mustern.
In der letzten Zeit hat er mich immer wieder überrascht. Als ich ihn im Wohnzimmer kennengelernt habe, wirkte er ausgelassen, sorgenfrei und sogar etwas verwegen. Jetzt ist von den wilden Haaren, dem anziehenden Bartschatten und dem verschmitzten Lächeln nichts mehr zu sehen. Er wirkt irgendwie so ... perfekt.
Ich erwidere sein Grinsen, als er mit seiner Eistüte und einem strahlenden Lächeln im Gesicht, das der Sonne Konkurrenz machen könnte, wieder auf mich zukommt.
Jascha ist anders, als ich erwartet habe und plötzlich frage ich mich, ob ich das gut oder schlecht finden soll.
A/N: Vielen vielen Dank für das liebe Feedback zu WHYs Song! Es freut mich wirklich sehr zu hören, dass er euch gefällt! xx
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