vierundvierzig

your silence is my favorite sound

STUMM starre ich meinen Chat mit Yannik an. Auf meine letzten drei Nachrichten hat er nicht geantwortet.

Nach meiner Aussprache mit Jascha bin ich noch mal zu dem Bandraum gegangen, in dem ich mit Yannik verabredet war, habe allerdings nur gähnende Leere vorgefunden.

Gestern habe ich die Stille zwischen uns nicht länger ausgehalten und ihn angerufen, doch er ist nicht an sein Handy gegangen.

Inzwischen mache ich mir ernsthaft Sorgen um ihn, denn die Vorlesungen der letzten Tage hat er ebenfalls geschwänzt.

Mein Kopf ist mal wieder voller Fragen und das mulmige Gefühl in meinem Bauch wird von Minute zu Minute schlimmer.

Wie kann es sein, dass ich nur dann nicht an Yannik denken muss, wenn er bei mir ist? Sobald ich ihn nicht sehe, laufen meine Gedanken Amok.

»Ich bin wirklich froh, dass es dir wieder besser geht«, sagt Hanna und legt ihre Hand auf meine Schulter. Heute trägt sie ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: ›BE VEGAN! Not your mom, not your milk!‹

Ich stecke mein Handy zurück in die Hosentasche und erwidere ihr Lächeln. Ja, das bin ich auch.

Es ist Freitagabend und wir sind auf einer weiteren berüchtigten Hausparty von Johnny. Vor zwei Stunden hat Jascha mich abgeholt und wir sind gemeinsam hergefahren. Meine Mitbewohner waren beide nicht in Feierlaune, darum bin ich die einzige aus der WG, die heute hier ist. Inzwischen bin ich mir sicher, dass mit Can etwas nicht stimmt. Früher hat er keine Party verschmäht. Seit einigen Tagen hockt er jedoch nur noch auf seinem Zimmer und hört italienische Charts.

Kopfschüttelnd widme ich mich wieder Hanna.

»Sag mal, hast du in der letzten Zeit etwas von Yannik gehört?«, erkundige ich mich und versuche dabei so gleichgültig wie möglich auszusehen.

Vor zehn Minuten haben wir die anderen allein gelassen, um uns ein Wasser aus der Küche zu holen. Im Flur erkenne ich Livi, die sich angeregt mit einem Jungen aus unserem Kurs unterhält, und senke meine Stimme.

»Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Nein, tut mir leid. Aber mir ist auch schon aufgefallen, dass es diese Phasen gibt, in denen er sich abkapselt.«

Ich lege den Kopf schief und denke nach. So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Klar, ich habe bemerkt, dass er in den Vorlesungen fehlt, aber dass das ganze Phasenweise passiert, wird mir erst jetzt bewusst.

»Und ich habe gesehen, dass er als einziger nicht auf Johnnys Party-Einladung in der WhatsApp-Gruppe reagiert hat.«

»Hm«, mache ich, während mir das Herz bis zum Halse schlägt. »Komisch.«

Hanna will etwas erwidern, doch genau in diesem Moment wird die Musik im Wohnzimmer leiser gedreht. Augenblicklich finden die ausgelassenen Gespräche, die bis gerade eben noch geführt wurden, ein jähes Ende und werden durch entrüstete Buhrufe ersetzt. Und zwischen den Buhrufen ertönt eine besonders aufgelöste Stimme.

»Kennt jemand einen ... einen Janik

Ich spüre, wie sich Hannas Hand auf meiner Schulter verkrampft, bevor sie sie schließlich ganz zurückzieht. Und dann fängt mein Puls an zu rasen.

Könnte damit unser Yannik gemeint sein? Weil er sich in der WhatsApp-Gruppe nicht mehr gemeldet hat bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass er heute lieber zu Hause bleiben möchte.

»Weißt du, wie viele Janiks es auf dieser Welt gibt?«, brüllt jemand durch den Flur.

»Mach die Musik wieder lauter, du Spast!«, schreit ein anderer Partygast.

»Wenn du sie schon beleidigst, dann tu das wenigstens mit einem femininen Substantiv!«, höre ich ein Mädchen rufen.

Neugierig laufen Hanna und ich in den Flur, wo sich Livi zu uns gesellt. Sie wirkt besorgt.

Gemeinsam sehen wir uns nach der Person um, die die Musik leiser gedreht und nach Bekannten von Janik gefragt hat. Ich entdecke ein zierliches, rothaariges Mädchen neben der Musikanlage im Wohnzimmer, das sich nervös im Raum umschaut. Neben ihr steht Johnny, der vehement auf sie einredet.

Hanna, Livi und ich haben offenbar denselben Gedanken, denn wir setzen uns alle gleichzeitig in Bewegung und laufen zielstrebig auf die beiden zu.

»... du so was siehst, kannst du doch nicht einfach abhauen!«, höre ich Johnny sagen, als wir an der Musikanlage angekommen sind.

»Irgendwen musste ich ja informieren!«, verteidigt sich das fremde Mädchen gestresst.

»Hi«, sagt Hanna an sie gewandt. »Tut uns leid, dass wir euch so ungefragt unterbrechen, aber wir sind Freunde von Yannik.«

Als Johnny uns sieht, atmet er erleichtert aus.

»Da seid ihr ja!« Er gibt dem rothaarigen Mädchen mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, dass sie gehen kann. »Danke fürs Bescheid sagen. Wir übernehmen ab hier.«

Sie mustert uns einen Moment lang unentschlossen, bevor sie schließlich seufzt, die Musik wieder aufdreht und im Anschluss das Wohnzimmer verlässt.

»Was ist los?«, frage ich alarmiert.

Johnny zuckt mit den Schultern. »Offenbar hat unser Freund einen über den Durst getrunken. Er ist im Obergeschoss und dreht ein bisschen am Rand. Ich werde mal nach ihm sehen.«

»Ich komme mit«, verkünde ich, ohne groß darüber nachzudenken.

Hanna und Livi nicken zustimmend.

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie ist es ein beruhigendes Gefühl, die beiden nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist, an meiner Seite zu haben.

»Okay.« Johnny macht auf dem Absatz kehrt und läuft voraus. Wir folgen ihm schweigend. Mein Körper ist angespannt wie ein Bogen, weil ich nicht weiß, was mich erwartet.

Ist Yannik wieder ohnmächtig, so wie auf Johnnys letzter Party? Hat das rothaarige Mädchen die Situation vielleicht falsch interpretiert? Handelt es sich bei der betrunkenen Person überhaupt um unseren Yannik?

Einen Teil der Antworten erhalte ich, als wir die Wendeltreppe hinaufgeeilt und im Obergeschoss angekommen sind.

Ich erkenne seine Stimme sofort. Laut und ausgelassen hallt sie durch die Flure und für einen kurzen Moment bin ich erleichtert, weil er nicht bewusstlos ist, so wie letztes Mal. Doch meine Erleichterung wandelt sich schnell in etwas anderes um, etwas erdrückendes, als ich die Menschenmenge sehe, die sich im Flur um ihn herum versammelt hat.

»... ist die Haarfarbe völlig egal. Im Endeffekt ist alles völlig egal. Scheiß auf die Meinung anderer«, höre ich Yannik lallen.

Hektisch versuche ich, ihn in der Masse zu finden. Weil ich dabei erfolglos bleibe, folge ich schließlich einfach Hannas Blick, die mit geweiteten Augen auf einen ganz bestimmten Punkt im Obergeschoss starrt.

Am Ende des langen Ganges, vor mehreren großen Dachfenstern und umzingelt von zahlreichen schaulustigen Partygästen, steht Yannik. Mit halb aufgeknöpftem Hemd und einer Flasche Jack Daniels in der Hand. Neben ihm ein Mädchen, das ich aus den Vorlesungen kenne. Sie sieht irgendwie ein bisschen verloren aus, so als wüsste sie nicht, was sie tun soll.

»Ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht.« Das rothaarige Mädchen, das uns eben um Hilfe gebeten hat, ist uns gefolgt und steht nun mit verschränkten Armen neben uns.

»Euer Bekannter hat das mitbekommen. Ich glaube, er will sie aufmuntern, aber er hat ganz schön einen im Tee.«

Ich nicke zustimmend. Und wie er einen im Tee hat!

Über seinen roten Augen liegt ein glasiger Schleier und das eigenartige Lächeln auf seinen Lippen lässt das mulmige Gefühl in meinem Bauch sofort wiederkehren.

»Mann, ist der betrunken!«, höre ich einen Jungen hinter mir murmeln und obwohl er nicht einmal etwas Falsches gesagt hat, werfe ich ihm einen finsteren Blick zu.

»Fremde Meinungen ziehen dich eh nur runter. Aber du willst doch fliegen, oder nicht?«, fährt Yannik unbeirrt fort. Er scheint in einem völlig anderen Film zu sein. »Jeder will fliegen. Wie ein Vogel, oder ein Flugzeug, oder ein scheiß Helikopter. Da fällt mir ein Witz ein: Was machte die Möhre, als sie auf einen Hubschrauber traf?«

Das Mädchen, das noch immer überfordert neben ihm steht, zuckt mit den Schultern.

»Hub-schrab-schrab-schrab«, antwortet Yannik als wäre es das selbstverständlichste der Welt und bricht gleich darauf in schallendes Gelächter aus.

Ich zwinge mich dazu, meinen Blick von ihm loszureißen und sehe mich weiter um. Dabei entdecke ich zu meiner großen Erleichterung Lana, Jascha und Lennart, die sich ein paar Meter vor uns durch die Menge quetschen, um zu der Fensterfront zu gelangen, vor der Yannik steht, wie auf einem Präsentierteller.

»Alter, halt mal die Luft an!«, ruft Johnny ihm über die laute Musik und das Gerede der Partygäste hinweg zu. Er hat nun ebenfalls begonnen, sich nach vorne durchzukämpfen.

»Wer bist du, mein Vater?«, entgegnet Yannik unbeeindruckt. Offenbar hat er ihn gehört. »Wohl kaum. Also hör auf, mir zu sagen, was ich tun soll.« Kurz lässt er seinen glasigen Blick durch die Runde wandern. »Lasst euch von niemandem etwas vorschreiben, hört ihr?«

Dann macht er eine überschwängliche Geste mit der Hand, mit der er die Flasche festhält. Der Alkohol schwappt über und läuft ihm über die Finger. »Diese Drecksgesellschaft will euch dazu zwingen, euch anzupassen und euch wegen jeder Kleinigkeit zu rechtfertigen. Ihr seid frei, heißt es offiziell, aber inoffiziell straffen sie eure Fesseln. Das dürft ihr nicht zulassen!«

Er deutet mit dem Zeigefinger auf sich. »Ich kann sagen, was ich will. Ich kann machen, was ich will. Ich könnte selbst auf dem beschissenen Dach tanzen, wenn ich es wollte.«

»In diesem Fall sagt dir aber die Schwerkraft, was du kannst und was nicht«, ruft Johnny ihm zu. In seiner Stimme schwingt ein Ton mit, der das mulmige Gefühl in meinem Bauch nur weiter befeuert. »Wenn du auf meinem Dach tanzt, fällst du zu neunzig Prozent runter.«

Inzwischen hat Yannik die Fensterfront ins Visier genommen, stolpert schnurstracks darauf zu und öffnet anschließend eines der vielen Dachfenster.

Hanna schnappt sich währenddessen wortlos meine Hand und zieht mich in die Menge. Livi folgt uns stumm. Sie ist ganz blass.

Mein Hals ist trocken wie ein Reibeisen und ich fühle mich komisch. Irgendwie taub, so als wäre ich ganz weit weg, ein Zuschauer meines eigenen Lebens.

Ich lasse mich kommentarlos hinterherschleifen, während mein Blick fest auf Yannik ruht, so als könnte ich ihn mit meinen Augen alleine davon abhalten, auf das Dach zu klettern.

»Das sind zehn Prozent zu wenig, um ein guter Grund zu sein«, ist Yanniks Antwort auf Johnnys Aussage und im nächsten Moment hat er auch schon ein Bein aus dem Fenster geschwungen.

»Wenn ihr auf dem Dach tanzen wollt, dann tanzt. Wenn ihr blau mit orange kombinieren wollt, obwohl das total hässlich ist, dann kombiniert blau mit orange! Wenn ihr ein Mädchen seid und gerne Fußball spielt, dann spielt Fußball. Und wenn ihr euch als Kerl die Fingernägel lackieren wollt, dann lackiert euch verdammt noch mal die scheiß Fingernägel! Wie ihr ausseht hat niemanden zu interessieren, außer euch selbst!«

Er hält seinen ringbesetzten Mittelfinger in die Höhe. Breitbeinig sitzt er auf dem Fensterrahmen, sein rechter Fuß baumelt im Freien, sein linker Fuß hängt noch im Raum.

Mein Atem geht stoßweise. Mein Blick ist auf seine Beine gerichtet. Er kann klettern, versuche ich, mich zu beruhigen. Er würde nicht abstürzen.

Aber er ist betrunken, merkt mein Unterbewusstsein an.

»Okay, das reicht. Du hattest definitiv genug Alkohol für heute!«, höre ich Lennart rufen.

Inzwischen ist er endlich ganz vorne angekommen, macht einen großen Schritt auf Yannik zu und will ihm die Flasche abnehmen, doch dieser reagiert blitzschnell und rettet sich geistesgegenwärtig aufs Dach.

Ein Raunen geht durch die Menge. Jemand schaltet die Musikanlage im Wohnzimmer aus. Mein Herz pocht wild gegen meinen Brustkorb.

»Der ist doch lebensmüde!«, höre ich Johnny fluchen. »In dem Zustand wird er sich nicht halten können. Die Dächer sind zu schräg.«

»Ich hol ihn rein«, sagt Lennart entschieden.

Unter besorgtem Protest von Lana lehnt er sich aus dem Fenster, was jedoch bloß bewirkt, dass Yannik automatisch weiter raus aufs Dach flüchtet.

Er gerät ins straucheln und für den Bruchteil einer Sekunde hält das ganze Haus den Atem an. Es fühlt sich an, als würde nicht nur die Zeit, sondern auch mein Herz stehen bleiben. Aber Yannik fängt sich und nimmt einen weiteren kräftigen Schluck vom Jack Daniels, bevor er die Flasche in die Dunkelheit schmeißt. Wenige Sekunden später klirrt es laut und eine Auto-Alarmanlage springt an.

»Spinnst du?«, schreit Johnny, der inzwischen ebenfalls beim Geschehen angekommen ist, und beugt sich neben Lennart aus dem Fenster, um nach draußen zu sehen.

Yannik knöpft währenddessen in aller Seelenruhe den Rest seines Hemdes auf und schmeißt es ebenfalls vom Dach.

»Da ist nicht nur Alkohol im Spiel, wenn du mich fragst«, raunt Hanna mir zu, sobald wir uns erfolgreich durch die Menge gekämpft und zusammen mit Livi die Fensterfront erreicht haben. »Weißt du, ob er Drogen nimmt?«

Ich ziehe scharf die Luft ein, will Nein sagen, doch dann fällt mir auf, dass ich absolut keine Ahnung habe, ob Yannik Drogen nimmt oder nicht.

Weil ich nicht antworte, drückt Hanna meine Hand ein wenig fester. Livi taucht neben mir auf und atmet hörbar laut aus. Kurz darauf gesellt sich auch Lana zu uns. Wortlos legt sie ihren Arm um mich. Ich spüre dass sie zittert.

In mir kommt das dringende Gefühl auf, etwas tun zu müssen, aber ich weiß nicht was, und so stehe ich wie angewurzelt da und beobachte das Geschehen, das sich vor meinen geweiteten Augen abspielt, wie ein Horrorfilm.

Johnny entfernt sich vom Fenster und schiebt sich an den schaulustigen Partygästen vorbei zur Wendeltreppe.

»Ich gehe gucken, ob die Flasche etwas kaputtgemacht hat«, sagt er tonlos. »Fangt diesen Idioten wieder ein und seht zu, dass er ausnüchtert! Der ist ja völlig durch!«

Lennart nickt ihm kurz zu, bevor er sich wieder Yannik widmet: »Komm wieder rein, Mann! Niemand schränkt dich ein. Was du da machst ist einfach nur saugefährlich!«

Immer mehr Leute versammeln sich im Obergeschoss und beobachten unseren Freund bei seinem waghalsigen Stunt.

Lana lässt mich los, hakt sich bei den Mädchen, die hinter uns stehen, ein und lotst sie vom Geschehen weg. »Kommt«, sagt sie. »In der Küche warten mehrere unberührte Sangria-Eimer auf uns.«

Zu meiner großen Erleichterung fallen die Mädels auf ihr Ablenkungsmanöver rein und ziehen begeistert los. Ich weiß nicht, ob es in der Küche wirklich noch Alkohol gibt. Aber das ist mir ehrlich gesagt auch herzlich egal. Hauptsache die Leute verschwinden endlich.

Hanna lässt mich ebenfalls los und gesellt sich zu Lana, um die vielen neugierigen Partybesucher aus dem Obergeschoss zu vertreiben.

Ich möchte ihnen helfen, doch ich kann mich nicht von der Stelle bewegen. Ein Knoten bildet sich in meiner Brust, macht mir das Atmen schwer, wandert hinauf in meinen Hals und ich muss schlucken, aber er verschwindet nicht.

Ich fühle mich, als hätte man mich zurück in die Vergangenheit katapultiert. Alles ist genau wie damals, in Australien. Mein Atem geht flach und meine Hände beginnen zu schwitzen. Plötzlich fange ich an zu zittern, obwohl mir eigentlich gar nicht kalt ist.

Und so stehe ich da, alleine in einem Haus voller Menschen, und kann nichts tun, außer meinen hässlichen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Irgendwann dringt eine Stimme zu mir durch. Ganz schwach, aber sie ist da.

»Raya!« Livi taucht vor mir auf, packt mich an den Schultern und schüttelt mich, durchbricht meine Trance. »Wir müssen irgendetwas tun!«

Es ist, als würde jemand einen Eimer kaltes Wasser über meinen Kopf schütten. Mein Herz macht ein kurzes Salto und ich bin wieder wach.

Ich zwinge mich dazu, die Erinnerungen an Spencers Fall, die sich mit aller Macht zurück in mein Gedächtnis drängen, wieder loszuwerden. Yannik ist nicht Spencer. Und ich bin nicht mehr das Mädchen, das ich vor neun Monaten war. Ich bin stärker.

Und dann kommt mir ein Gedanke.

»Seine Schwester!«, rufe ich heiser. »Wir müssen seine Schwester anrufen!«

»Er hat eine Schwester?«, fragt Jascha überrascht.

Hanna sieht sich suchend um. »Wo ist sein Handy?«

Lennart deutet auf eine offene Tür, hinter der sich ein Schlafzimmer verbirgt. »Ist ans Ladekabel angeschlossen.«

Wie von selbst beginnen meine Beine sich zu bewegen und ich stolpere auf den Raum zu. Erst jetzt bemerke ich, dass sich das Obergeschoss signifikant geleert hat. Hanna und Lana konnten fast alle Schaulustigen vertreiben.

Es ist dunkel im Schlafzimmer, weshalb ich das Handy, das an ein Ladekabel angeschlossen auf dem Nachtschrank liegt und im Sekundentakt hell aufblinkt, sofort sehe. Eilig reiße ich es mir unter den Nagel und renne zurück in den Flur.

Das Display zeigt sechs verpasste Anrufe an.

»Entsperrungscode!«, rufe ich, und meine Stimme klingt anders, nicht mehr wie meine.

Lana schaltet sofort. »Yannik! Wir brauchen den Code für dein Handy!«

Jascha formt inzwischen eine Räuberleiter mit seinen Händen, damit sich Lennart daraufstellen und weiter nach draußen lehnen kann.

»Was wollt ihr damit?« Neugierig kommt Yannik näher.

Lennart reagiert blitzschnell, nimmt ihn in den Schwitzkasten und zieht ihn mit einem kräftigen Ruck zurück ins Haus.

Sobald die beiden außer Reichweite sind, schließt Jascha das Fenster in Lichtgeschwindigkeit.

Erleichtert atme ich aus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Meine Knie fühlen sich an wie Pudding und nun, da die Angespanntheit mit einem Mal aus meinem Körper gewichen ist, habe ich Schwierigkeiten, mich auf den Beinen zu halten.

»He, was soll das?«, beschwert sich Yannik. »Schon mal was von Freiheitsberaubung gehört? Ich könnte dich dafür anzeigen!«

Fassungslos sehe ich ihm dabei zu, wie er sich von Lennart losreißt, seinen Gürtel öffnet und beginnt, sich weiter auszuziehen. So, als hätte er mit seiner leichtsinnigen Aktion nicht gerade am Tor zum Tod gekratzt.

»Das ist doch nicht zu fassen!« Lana schüttelt ungläubig den Kopf, als das fremde Handy in meinen Händen plötzlich zu vibrieren beginnt.

Joline steht auf dem Display.

Einen Moment lang starre ich es an. Der Name könnte wirklich jedem gehören. Einer Freundin, einer ehemaligen Klassenkameradin, ja, sogar seiner Oma. Und trotzdem nehme ich ohne zu zögern den Anruf entgegen.

»Yannik, wo zur Hölle bist du?« Ich erkenne die Stimme sofort. Es ist seine Schwester. Offenbar meint es das Schicksal heute ausnahmsweise gut mit uns. »Wir haben morgen früh einen Termin bei –«

»Joline, hier ist Raya«, unterbreche ich sie hektisch. »Ich war vor ein paar Wochen früh morgens bei euch und habe nach Yannik gefragt. Du dachtest, ich sei vom Jugendamt.«

Einen Moment lang ist es still.

»Bist du bei ihm?«, fragt sie dann.

»Wir sind auf einer Hausparty. Du musst sofort herkommen. Yannik ... er ... er dreht total durch!«, erkläre ich panisch und gebe ihr im Anschluss die Adresse durch.

»Ich bin in zwanzig Minuten da«, entgegnet sie mit beängstigend ruhiger Stimme. Sie wirkt fast so, als hätte sie mit einer derartigen Ausnahmesituation gerechnet.

»Okay«, entgegne ich, irritiert.

»Nein, Raya. Nichts ist okay!« Dann legt sie auf.

Und während die unheimliche Stille an meinem Ohr meinen Kopf füllt, wie dunkler Rauch eine Glaskugel, stellt sich mir zum ersten Mal die Frage, ob Yannik Schreiber vielleicht mehr zu verbergen hat, als einen toten Bruder und dessen Briefe. 

A/N: Wow. Dieses Kapitel war definitiv eine Herausforderung und sehr schwer zu schreiben. Ich hoffe, ihr konntet mitfiebern und vielleicht hat euer Herz ja auch so schnell geschlagen, wie Rayas. Eventuell haben einige von euch ja auch schon eine Vermutung, was hier vor sich geht. Und wenn nicht - kein Problem, bald kommt nämlich die Auflösung! xx

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