vier

du hältst an deinem handy
und ich fühl mich einsam
ziehst an deiner kippe
und ich ziehe weiter

ZUSAMMEN mit meinem alkoholfreien Ipanema lasse ich mich auf das schwarze Ledersofa fallen. Ich seufze laut, aber das hört natürlich niemand. Die Musik dröhnt in meinen Ohren, mein Herz schlägt im selben Rhythmus wie der Bass. Ich sinke in die kühle Lehne zurück und lasse meinen Blick durch den großen Raum schweifen. Weil die Couch auf einer Anhöhe steht, habe ich einen guten Überblick.

Hanna, Livi und Valentina haben sich vor gut zehn Minuten verzogen, um sich etwas zu Essen zu holen. Die unverblümte Italienerin aus unserem Semester ist als Letzte bei Hanna eingetrudelt, kurz bevor wir uns auf den Weg zur Party gemacht haben. Viel hatte ich bisher nicht mit ihr zutun, aber sie scheint jemand zu sein, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Ich finde sie ziemlich witzig. Sie bleibt einem im Gedächtnis, mit der braungebrannten Haut, dem hübschen, verschmitzten Lächeln und den wilden, schokobraunen Haaren. Von den zahlreichen Ringen, Ketten und Armbändern, die sie trägt, will ich gar nicht erst anfangen. Man hört sie meist schon kommen, bevor man sie sieht, so laut klimpert ihr Schmuck. Aber er steht ihr. Die goldene Farbe schmeichelt ihrem dunklen Teint.

Außerdem fühle ich mich durch ihre Anwesenheit inzwischen nicht mehr ganz so underdressed. Denn, entgegen aller Erwartungen, hat sie ihren Schmuck nicht mit einem eleganten Abendkleid kombiniert. Stattdessen trägt sie eine schwarze, ausgefranste Jeans, dunkelblaue Turnschuhe und ein fliederfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift: PLANTS ARE FRIENDS.

Ich sehe mich im Club nach Lana um. Sie steht nicht mehr an der Bar, wo sie die letzte halbe Stunde mit mir verbracht hat, bevor ich mich dazu entschieden habe, mich zurückzuziehen. Inzwischen sitzt sie auf Lennarts Schoß und steckt ihm die Zunge in den Hals.

Ich lege den Kopf schief und schaue ungläubig zu ihnen rüber. Lennart sieht aus, als wäre er einer Modezeitschrift entsprungen. Er ist mit einer beachtlichen Körpergröße und breiten Schultern gesegnet und stets perfekt gestylt. Bisher konnte ich nur Markenklamotten an seinem Astralkörper erkennen. Seine Wangenknochen sind zum anbeten, genau wie die meerblauen Augen und die kleinen Lachfalten, die sich um seine Mundwinkel herum bilden, wenn er etwas lustig findet.

Leider weiß er ganz genau, wie gut er aussieht. Sein selbstsicheres Lächeln erkennt man schon aus kilometerweiter Entfernung. Trotzdem scheint er ganz nett zu sein. Insofern ich das beurteilen kann. Viel gesprochen hat er bisher nicht. Er war meistens damit beschäftigt, Lanas Mandeln mit seiner Zunge abzutasten.

Die beiden passen wirklich hervorragend zusammen. Der eine perfekter als der andere.

Als Lennarts Hand in Richtung Süden wandert, wende ich mich ab. Die zwei sind nicht die einzigen, die wild rumknutschen. Beinahe jeder Dritte aus meinem Semester ist am Fummeln oder wird befummelt. So habe ich mir Studentenpartys immer vorgestellt, von daher bin ich nicht sonderlich überrascht.

Warum habe ich mich nochmal dazu entschieden, hierzubleiben? Etwas zu Essen würde meine Stimmung bestimmt heben. Aber wer hätte auch ahnen können, dass Lanas Zunge ein paar Minuten nach dem Abgang der anderen in Lennarts Rachen steckt?

Ich seufze erneut, nippe an meinem Cocktail und kaue eine Weile auf dem Rohrzucker herum, der herrlich süß in meinem Mund zergeht. Zum ersten Mal an diesem Abend wandert mein Blick zur Raucherecke rüber, von der mich eine bunte Wand mit großen Glasfenstern trennt. Ich kneife meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und frage mich, ob die dichten Rauchschwaden von den Zigaretten oder der Nebelmaschine kommen.

Als die ersten Töne eines Remixes von Leiser ertönen, bleibt mein Blick an einem Jungen hängen, den ich in den Vorlesungen noch nie gesehen habe. Er trägt ein weißes T-Shirt, das im Schwarzlicht des Clubs bläulich hell leuchtet. Einzelne Strähnen seiner mittellangen, zerzausten Haare kleben ihm im Nacken und an der Stirn. Ich erkenne eine Zigarette, die hinter seinem Ohr steckt und eine weitere, die lässig in seinem linken Mundwinkel hängt, während er tanzt, wie ich noch nie zuvor jemanden tanzen gesehen habe. Seine Augen sind geschlossen und er bewegt sich im Beat, locker und federleicht, als wäre er gar nicht hier, in einem Club mitten in Hamburg, sondern in einer anderen Welt, in der es nur ihn gibt. Er und die Musik. Und wenn man ihn ansieht ist es, als wäre man Teil dieser Welt.

Ich weiß genau, wann er an seiner Zigarette zieht, denn er bläst den Rauch durch seine Nasenlöcher wieder heraus, und das alles, während er weiter tanzt. Die Leute um ihn herum sitzen oder stehen an kleinen, runden Tischen in der Mitte des Raums, schreien sich gegenseitig ins Ohr, um den Bass zu übertönen, und werfen ihm gelegentlich monotone Blicke zu. Niemand nimmt die Musik so wahr, wie er. Irgendwie kann ich das nicht verstehen. Wenn ich mich unterhalten möchte, gehe ich doch nicht in einen Club, sondern ins Café!

Völlig unerwartet öffnen sich seine Augen. Das warme Gefühl eines Schocks klettert von meinen Zehenspitzen hoch bis in meinen Haaransatz und mir steigt sofort die Röte ins Gesicht, denn er sieht mich an. Und während ich vor Anspannung stocksteif auf dem Sofa sitze, tanzt er einfach weiter, als wäre er alleine auf dieser Welt. Sein Blick ist so eindringlich intensiv, dass ich mir einbilde, er könnte in die tiefsten Abgründe meiner Seele blicken und all meine Gedanken lesen.

Dann, kaum merklich, heben sich seine Mundwinkel und er nickt mir zu, gibt mir damit zu verstehen, dass er mich wahrgenommen hat, lässt aber gleichzeitig so viel verhaltene Distanz zwischen uns, dass ich mich fühle, als wären wir Kontinente entfernt.

Der Moment ist schnell verflogen. Er zieht erneut genüsslich an seiner Zigarette, dann schließt er seine Augen wieder, schmeißt mich raus aus seiner Welt und ich falle, zurück in die Realität, bin wieder im Club.

Meine Finger, mit denen ich das gekühlte Getränk in meiner Hand umklammere, brennen von der Kälte und ich stelle das Glas vorsichtig neben mir auf den Boden ab.

Ich hätte mir definitiv etwas zu Essen holen sollen.

Um mich abzulenken, verharre ich eine Weile in meiner gebückten Haltung, rühre mit dem Strohhalm den Cocktail, den ich auf dem Boden abgestellt habe, um und schaue dabei zu, wie sich der Rohrzucker mit dem Rest vermischt.

»Du siehst aus, als könntest du Alkohol gebrauchen.« Mein Herz macht ein Salto nach dem anderen, als sich der Junge, den ich eben gerade erst beim Tanzen beobachtet habe, neben mich auf das Sofa fallenlässt. Seine leuchtend grünen Augen mustert mich aufmerksam und sein rabenschwarzes Haar hängt ihm in die Stirn, wie ein schützender Vorhang. Er riecht nach Zigaretten und Rum Cola.

Ich nicke. »Da könntest du Recht haben.« Ich hätte mir keinen Ipanema bestellen sollen.

»Was willst du trinken?«

»Etwas Starkes«, entgegne ich. »Aber erst muss ich den hier noch leer machen.« Ich schnappe das Glas, das ich neben mir abgestellt habe und hebe demonstrativ die Hand.

Er zuckt mit den Schultern. »Kein Stress. Wir haben alle Zeit der Welt.« Das Gefühl habe ich selten, in den letzten Wochen. »Studierst du auch Musik im ersten Semester?«

Wieder nicke ich.

»Welche Fächer?«

»Komposition, Gesang und Klavier.« Und weil wir heute alle Zeit der Welt haben, nehme ich mir einen Moment, um ihn unauffällig zu mustern. Seine Haare sind zerzaust, wahrscheinlich weil er schon seit mehreren Stunden tanzt. Dadurch, dass er so blass ist, sticht das Grün seiner Augen besonders deutlich hervor. Und auch seine schmalen, roten Lippen, die mich frech anlächeln, entgehen mir nicht. Eine kleine Zahnlücke zwischen seinen beiden vorderen Schneidezähnen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und ich muss ebenfalls grinsen. »Und du?«

»Musiktheorie, Pop- und Weltmusik mit Klassik und Komposition«, sagt er. »Bist du alleine hier?«

»Meine Freundin ist da drüben«, entgegne ich und deute mit dem Zeigefinger auf Lana. Mich wundert es wirklich, dass sie noch alle Klamotten trägt.

Aufmerksam folgen seine Augen meinem ausgestreckten Arm. Er zieht eine Augenbraue hoch und schaut auf mein halb-volles Glas. »Dann hoffe ich für dich, dass da bereits Alkohol drin ist.«

Mein Blick spricht anscheinend nicht für mich, denn keine fünf Minuten später stehen wir an der Bar und meine neue Bekanntschaft winkt den Barkeeper zu uns rüber. »Zwei B52. Obwohl ... mach ruhig vier.«

Während er mitverfolgt, wie unsere Shots zubereitet werden, muss ich mich dazu zwingen, ihn nicht anzusehen. Doch das halte ich nicht lange durch. Wie von selbst huscht mein Blick zu ihm rüber. Seine Augen leuchten in den verschiedensten Farben, wann immer der bunte Laser aufflackert. Die durcheinander geratenen Haare und der Dreitagebart lassen ihn irgendwie verwegen aussehen.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als uns die tätowierte Hand des Barkeepers vier Shots und ein schwarzes Feuerzeug rüber schiebt.

Ich brauche drei Anläufe, bis eine Flamme auflodert. »Was ist mit dir, bist du alleine hier?« Ich zünde seine Shots direkt mit an und wir starren ein paar Sekunden lang schweigend in die blaue Flamme, ehe er sich vorbeugt und das kleine Feuer wieder auspustet.

Er scheint einer der wenigen Menschen zu sein, die einen aufmerksam ansehen, wenn man sich unterhält. Sein Blick ruht beinahe die ganze Zeit über auf mir und ich fühle mich verstanden, gehört. Warum das so ist, weiß ich selbst nicht so genau.

»Bin ich nicht. Aber ich wünschte, ich wäre es.« Auch er hebt jetzt seine Hand und ich denke erst, dass er mich nachahmen möchte, als er auf Lana zeigt. Doch dann erblicke ich den braunen Haarschopf von Lennart, in den sie ihre Finger gekrallt hat und schenke ihm einen mitleidigen Blick.

Er tippt sein Glas vorsichtig an, um zu testen, ob der Alkohol noch heiß ist. Dann gibt er mir mit einem Nicken zu verstehen, dass ich mit ihm trinken soll. Ich schaue die mehrschichtige Flüssigkeit zweifelnd an. In meinem Leben habe ich bisher erst einmal einen B52 getrunken und weiß, dass er mir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Kehle wegbrennen wird.

Als meine erhitzte Haut Kontakt mit dem lauwarmen Glas macht, verbanne ich meine Zweifel in die hinterste Ecke meines Kopfes. Ich bin hier, in Hamburg. Alleine. Ich kann machen was ich will. Das ist mein neues Leben und in ein paar Jahren wird es schon wieder vorbeisein. Ich sollte mitnehmen, was geht. Vielleicht auch einen Kater.

»Na zdraví«, sage ich also und hebe das Glas.

»Auf das Leben«, entgegnet er.

Und das ist der Moment, indem mir auffällt, dass ich nicht einmal seinen Namen kenne.

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