siebzehn

our love is burnt

MEHRERE Dinge in meinem Leben ergeben gerade keinen Sinn. Ganz vorne mit dabei ist mein fertiger Song. Na ja, so ganz fertig ist er eigentlich noch nicht. Mein Refrain, den der mysteriöse WHY zwischen den Strophen eingebaut hat, war eigentlich bloß eine Probeaufnahme und meine Stimme klingt dementsprechend untrainiert und unsicher.

Ich stoße einen frustrierten Seufzer aus und rolle mich auf den Bauch. Auf dem Nachtschrank neben mir steht unser Radio, das ich spontan aus der Küche entführt habe, um mir den Song so lange ungestört anhören zu können, bis meine überstrapazierten Ohren abfallen.

Ich verstehe das einfach nicht. Wie ist WHY an meine Aufnahme gelangt? Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit: er hat den USB-Stick gefunden. Aber wo? Die Bandräume der Hochschule schließen um acht. Hanna und ich waren die letzten Besucher. Nach uns ist niemand mehr im Raum gewesen, außer vielleicht eine Putzfrau.

Frustriert vergrabe ich meine Hände in den Haaren und ziehe an ihnen, so als würde das meine Gehirnzellen zum Denken anregen.

Derjenige, der meinen Song beendet hat, muss die ganze Nacht daran gearbeitet haben. Aber wie, wenn die Bandräume geschlossen waren? Und wie ist er so schnell auf den Text und den Rhythmus gekommen? So etwas schreibt man nicht in zwei Minuten. Denn, auch wenn ich das nur ungern zugebe, die Lyrics ist gut. Wirklich, wirklich gut. Sie passt nicht nur zu meinem Thema, sondern erzählt obendrein auch noch eine Geschichte. Glaube ich jedenfalls. Noch habe ich die CD nicht oft genug gehört, um alles verstanden zu haben. Aber das, was ich mir bisher eingeprägt habe, beeindruckt mich. Da wäre ich von alleine definitiv nicht drauf gekommen.

Wahrscheinlich sollte ich jetzt Freudensprünge machen, denn auch, wenn die Aufnahme auf der CD bloß eine Rohversion ist, die ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft hat, bin ich mit meiner Komposition durch WHYs Hilfe sicherlich weiter, als die meisten anderen.

Als der Song zum neunten Mal von vorne beginnt, vibriert mein Handy.

Nachdem ich vorhin das Telefonat mit Aleah beendet habe, habe ich Hanna eine Nachricht geschrieben und sie gefragt, ob sie den USB-Stick vielleicht aus Versehen eingesteckt und anschließend irgendwo verloren hat.

Tut mir leid Süße. Ich dachte, du hättest ihn mitgenommen ...

Stöhnend rolle ich mich zurück auf den Rücken. So bleibe ich eine Weile liegen, starre gen Decke und denke nach.

Wer ist dieser mysteriöse WHY? Wieso hat er erst meinen USB-Stick und dann meinen Refrain geklaut, nur um seinen ganz eigenen Song daraus zu machen? Er hat ja nicht einmal etwas davon! Oder doch? Wird er mich vielleicht bald erpressen und die fertige Komposition einfordert? Wieso hat er mich nicht einfach persönlich angesprochen, um mir den Datenträger auf normalem Wege zurückzugeben? Er wusste ja offenbar, wer ich bin, als er meine Stimme auf der Aufnahme gehört hat. Das bedeutet, er kennt mich. Immerhin hat er die CD in meinen Briefkasten geworfen. Also weiß er, wo ich wohne. Allein bei dem Gedanken daran läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich muss unbedingt herausfinden, wer WHY ist und wieso er meinen Song geklaut hat.

Oh Mann. Nichts ergibt mehr Sinn.

Ich liege eine Weile reglos im Bett, bin meinen rasenden Gedanken ausgeliefert und starre an meine schlecht gestrichene, weiße Zimmerdecke. Vor meinem Einzug war der Raum in roter Farbe, mit Wischtechnik gestrichen. Ich habe den Mietvertrag damals nur unter der Bedingung unterschrieben, das Zimmer zu streichen. Und das haben wir auch getan. Allerdings sind weder Can, noch Noel und ich Experten im malen und lackieren, deshalb sieht man an einigen Stellen jetzt dunkle Flecken auf den Wänden. Doch das macht mir nichts aus. Hauptsache, das hässliche Rostrot ist halbwegs gut überdeckt.

Um halb acht, als die Abendsonne in mein Zimmer scheint, habe ich Kopfschmerzen vom vielen Grübeln und beschließe daher spontan, mich noch einmal auf den Text des Liedes zu konzentrieren, um meinen wirren Gedanken zu entfliehen. Vielleicht verraten mir die Strophen ja etwas über WHY. Schließlich stammen sie von ihm.

Ächzend beuge ich mich über die Bettkante hinweg zu meinem Nachtschrank und spiele die CD noch einmal von vorne ab.

Die seichten, ruhigen Klänge des Klaviers ertönen und lassen einen zu Beginn gar nicht vermuten, dass gleich ein energischer Rapsong folgen wird.

Ich rümpfe die Nase, als mir auffällt, dass Aleah Recht hat. Meine Stimme bricht am Ende des Refrains tatsächlich ein bisschen.

Automatisch schnappe ich mir ein Kissen und drücke es auf mein Gesicht. Peinlich berührt frage ich mich, was WHY wohl gedacht hat, als er diesen durchschnittlich, schlecht aufgenommenen Gesang gehört hat. Hoffentlich glaubt er nicht, ich sei untalentiert. Vielleicht hat er meine Komposition deshalb geklaut - weil er Mitleid mit mir hatte und dachte, ich würde es alleine niemals schaffen, das Projekt zu Ende zu bringen.

Die Strophe beginnt und das Schlagzeug setzt ein. Kurz darauf folgt die tiefe, raue Stimme des Rappers. Eins muss man ihm lassen: Er weiß was er tut. Natürlich ist auch sein Part nicht perfekt, aber das kann man auch nicht erwarten, wenn man davon ausgeht, dass er den gesamten Song in einer Nacht aufgenommen hat.

Der Text ist in der Ich-Erzähler-Perspektive geschrieben. Er beginnt, indem jemand davon berichtet, dass er einen Brief schreiben möchte, aber nicht weiß, wie er anfangen soll. Während er das tut, beobachtet er ein Kind, das draußen in seinem Garten spielt, auf der Rutsche, die er extra dafür gebaut hat. An dieses Kind ist auch der Liedtext gerichtet. Der Erzähler macht sich Vorwürfe; er wäre kein gutes Vorbild, obwohl er sich stets Mühe gäbe.

Die Strophe endet mit den Worten:

Ich werde auch diesen Brief wegschmeißen,
denn noch ist es nicht so weit
Zeit habe ich zuhauf
Bitte pass auf dich auf
Dein Bruder Paul

Inzwischen habe ich verstanden, dass das Kind, an das die Briefe gerichtet sind, WHY ist. Aber wer ist Paul? Offenbar sein Bruder. Ich kenne keinen Paul. Weder in Hamburg, noch in meiner alten Heimatstadt oder in Australien hatte ich einen Freund, der diesen Namen trug.

Gerade als der zweite Refrain ertönt und somit den Übergang zur nächsten Strophe eröffnet, reißt Can ohne zu klopfen meine Zimmertür auf. Schüchtern versteckt er sich dahinter, so als hätte er Angst vor den Folgen seines unüberlegten Handelns.

»Hi Raya. Danke, dass du dich um die Post gekümmert hast, aber du hast da was vergessen.«

Gestresst nehme ich das Kissen von meinem Gesicht und sehe ihn an.

»Weil ich dir nach heute Morgen nicht mehr vertraue, habe ich gerade selbst nochmal in den Briefkasten geschaut und einen USB-Stick gefunden.« Er hält mir meinen Datenträger vor die Nase. Mein Puls beschleunigt sich augenblicklich und ich springe in einer schwungvollen Bewegung vom Bett.

»Oh mein Gott!«, kreische ich begeistert.

»Die Frage, ob er dir gehört, hat sich dann wohl erübrigt«, sagt Can belustigt, als ich ihm hektisch den USB-Stick aus der Hand reiße.

Ich muss ihn wohl bei meinem Versuch, die Post mit den Fingern aus dem Schlitz am Briefkasten zu angeln, übersehen haben. Er war die ganze Zeit da. WHY wollte meinen Song nie klauen. Er wollte ihn für mich beenden.

»Brüderlich teilen, Raya«, ermahnt Can mich mit Blick auf das Radio, das ich gehamstert habe. »Muss ich dich wirklich an die oberste Regel dieser WG erinnern?«

Ich schiebe die Unterlippe vor und schmolle. »Es war ein Notfall!«

Er zieht eine Augenbraue hoch und mustert mich prüfend. »Wie groß war dieser Notfall?«

»Soooo groß«, erkläre ich und breite die Arme aus, um ihm die Dringlichkeit deutlich zu machen.

Ein Grinsen schleicht sich auf seine Lippen und ich weiß spätestens jetzt, dass er mir nicht böse ist. »Also schön, ich kann das hässliche Teil sowieso nicht leiden«, sagt er kopfschüttelnd und zieht mich in seine Arme. »Immer wenn ich es benutze, hakt es.«

»Danke«, nuschele ich grinsend gegen seine Brust.

Ich habe zwar noch immer absolut keinen blassen Schimmer, was hier überhaupt vor sich geht, aber mit dem Auftauchen meines Datenträgers ist mir ein großer Stein vom Herzen gefallen.

Can vergräbt seine Hand in meinem Haar und krault meinen Kopf. Er weiß ganz genau, wie sehr ich das liebe.

Wenn er nicht gerade neben die Schüssel pinkelt oder meine Augen schädigt, indem er splitterfasernackt auf der Wohnzimmercouch über seine ständig wechselnden Beziehungspartner herfällt, ist er ein wirklich toller Mensch.

Ich bin zwar erst vor knapp zwei Monaten in die WG gezogen, aber ich habe Can bereits jetzt ins Herz geschlossen.

»Ich habe übrigens Toastbrot gekauft.«

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