sieben
your taste still gets me stupid high
DER Dienstag beginnt damit, dass Livi sich in einem der wenigen praktischen Kurse, die wir zusammen haben, nicht neben uns, sondern neben Yannik setzt. Weil wir uns daraufhin alle zu ihr umdrehen und sie mit großen Augen ansehen, lächelt sie uns entschuldigend an.
»Mir gefällt es nicht, dass sie so viel mit Yannik abhängt«, sagt Lana, als die Professorin den Raum betritt und wir uns automatisch wieder gerade hinsetzen.
Ich pule an dem abgeblätterten, dunkelblauen Leder meines Stuhles herum. Jemand hat einen kleinen Schnitt in das Material geritzt, den ich vor lauter Langeweile mit meinem Fingernagel um das Doppelte erweitert habe.
Die gelbe Polsterung aus ungesund aussehendem Schaumstoff kommt zum Vorschein. Ich reiße ein Stückchen heraus und drücke es zu einer Kugel zusammen. Sobald ich es loslasse, springt es zurück in seine ursprüngliche Form.
»Wieso nicht?«, erkundige ich mich nebenbei.
Irgendwie habe ich den Dreh noch nicht raus. Entweder, ich komme zu spät und hetze mich zu Tode, oder ich komme zu früh und langweile mich zu Tode. So wie auch heute.
»Erstens: Dieser Typ ist vollkommen talentfrei. Zweitens: Ich habe ihn neulich dabei beobachtet, wie er Livi eine Zigarette angedreht hat. Und drittens ... Ein drittens gibt es noch nicht, aber ich arbeite daran.«
»Wieso bist du dir eigentlich so sicher, dass er talentfrei ist? Hast du ihn schonmal in Aktion erlebt?«, fragt Hanna.
»Nein. Deshalb bin ich ja so misstrauisch. Ich habe ihn bisher weder singen, noch ein Instrument spielen hören.«
Hanna zuckt mit den Schultern. »Vielleicht traut er sich auch einfach nicht, sein Talent vor so vielen fremden Menschen zu zeigen. Nicht jeder kann so selbstbewusst sein wie du.«
»Daran liegt es nicht, glaub mir«, sagt Lana daraufhin bloß und zupft die Haargummis an ihrem Handgelenk zurecht. Wofür braucht sie die eigentlich alle? Ich habe sie noch nie einen Zopf tragen sehen.
»Hat Livi die Zigarette geraucht?«, frage ich, schnipse die Schaumstoffkugel weg und schaue ihr beim Fliegen zu. Zu meinem Leidwesen landet sie im Haar des Jungen vor mir, entfaltet sich dort erneut zu ihrer vollen Größe und sieht plötzlich auffälliger aus, als ich erwartet habe. Schuldbewusst verziehe ich das Gesicht und setze mich so hin, dass meine Oberschenkel den Schnitt in meinem Stuhl verdecken.
Lana rümpft die Nase. »Ja, das hat sie.« Sie schüttelt den Kopf. »Von allen Studenten dieser vielseitigen Hochschule sucht sie sich ausgerechnet den Gangster aus.«
Fassungslos werfe ich einen Blick über meine Schulter, zu Livi. Doch meine ehemals beste Freundin hat nur Augen für Yannik. Ich kann es einfach nicht glauben. Livi raucht nicht. Sie hat nie geraucht. Nicht einmal gezogen.
»Gangster?«, wiederholt Valentina mit hochgezogener Augenbraue. Heute trägt sie einen dünnen, grauen Pullover, auf dem eine Avocado zu sehen ist, die eine Langhantel stemmt. Darüber steht in Großbuchstaben: VEGAN POWER.
»Ihr nehmt das nicht ernst!«, beschwert Lana sich. »Wir müssen sie retten, bevor sie nicht mehr zu retten ist. Sie kann das nicht alleine. Sie ist noch jung und beeinflussbar.«
»Wir sind auch jung«, entgegen Hanna unbeeindruckt.
Theatralisches Stöhnen. »Aber nicht beeinflussbar! Wir wissen alle, was wir wollen und lassen uns nicht in unser Leben reden.« Ach echt? »Bei Livi ist das anders. Obwohl ich sie noch nicht lange kenne, habe ich sofort gemerkt, dass sie sich lieber an andere anpasst, als sie selbst zu sein. Vielleicht, weil sie nicht weiß, wer sie überhaupt ist, vielleicht aber auch nur aus Angst, nicht akzeptiert zu werden. Woran auch immer es liegt - wir müssen ihr zeigen, dass sie sich von niemandem abhängig machen muss, um glücklich zu sein. Erst recht nicht von einem Typen wie Yannik.«
Wenigstens bin ich nicht die einzige, die Lana mit offenem Mund anstarrt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie im Stande dazu ist, auch mal einen einigermaßen sinnvollen Rat von sich zu geben. Und das scheint sie auch zu bemerken.
»Was?«, fragt sie verunsichert, wirft ihre langen, glatten Haare über die Schulter und schaut im Anschluss konzentriert nach vorne.
»Nichts.« Hanna hebt abwehrend die Hände, als der Zeiger der riesigen, schwarzen Uhr über der Bühne den Kursbeginn ankündigt.
Wie aufs Stichwort klatscht unsere Professorin in die Hände und erhebt sich von ihrem Platz am Pult. »Liebe Studierende, ich begrüße Sie alle ganz herzlich an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg! Mein Name ist Frau Dr. Rauch und ich werde dieses Fach für die nächsten drei Monate leiten.« Verhaltener Applaus ertönt, doch er klingt anders, als ich ihn kenne. Überrascht sehe ich mich um. Anscheinend klatscht man als Akademiker nicht mehr, wenn man seine Begeisterung kundtun möchte - man klopft.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie gerne duzen. Schließlich brennen wir alle für dieselbe Leidenschaft; die Musik, die uns verbindet.«
Gemeinschaftliches Nicken.
»Gut. Zu allererst möchte ich mit einer positiven Nachricht in den Kurs starten: Mit großer Freude habe ich festgestellt, dass ihr den Fragebogen, den ich euch vor kurzem per E-Mail zugeschickt habe, alle rechtzeitig ausgefüllt an mich zurückgesendet habt. Das ist bisher nicht ein einziges Mal vorgekommen.«
Wieder ertönt verhaltener Applaus, oder besser: verhaltenes Klopfen.
»Kam sich noch jemand dämlich dabei vor, den besagten Fragebogen auszufüllen?«, fragt Valentina mit gesenkter Stimme.
»Wie ein Kind in der dritten Klasse«, stimmt Lana ihr zu.
»Mit Sicherheit hat sich der ein oder andere von euch bereits gefragt, wozu ein solcher Fragebogen überhaupt gut ist. Nun denn. Dieser Kurs trägt nicht umsonst den Namen Komposition. Ihr alle werdet die nächsten Wochen damit verbringen, eigenständig eine Komposition zu entwickeln. Mithilfe der Fragebögen konnte ich ermitteln, welche Art von Musik euch gefällt, und welche eben nicht. Dieses Wissen habe ich anschließend genutzt, um euch allen ein passendes Genre zuzuteilen«, fährt Frau Dr. Rauch fort. Das ist allerdings noch kein Grund für Hanna, unser heimliches Gespräch zu unterbrechen.
»Ich finde es gut, dass sie sich so viel Mühe gibt«, sagt sie.
Mit einem stummen Nicken stimme ich ihr zu.
Unsere Professorin zupft ihr langes, hellgrünes Tuch zurecht. Halb durchsichtig schimmert es im weißgelben Licht der Deckenleuchten. »Bereits gestern Abend habe ich euch die Auswertungen der Fragebögen und das speziell auf euch zugeschnittene Arbeitsmaterial per Mail zukommen lassen. Ihr dürft nun gerne nachsehen und den Anhang online abrufen. Bei Fragen und Problemen könnt ihr jederzeit auf mich zukommen.«
»Sie ist wirklich nett«, murmele ich aufgeregt, während ich mein Handy aus der Hosentasche fische.
Eilig öffne ich die Internetseite unsere Hochschule und logge mich ein. Ich finde die E-Mail von Frau Dr. Rauch schnell im Verteiler. Ohne mir den darin enthaltenen Text durchzulesen, klicke ich auf den Anhang. Ich bin verdammt neugierig. Ob sie meinen Geschmack getroffen hat?
Auf meinem Handy öffnet sich eine neue Seite, während beinahe zeitgleich ein Raunen durch die hinteren Reihen geht. Ein paar Studenten beginnen zu flüstern.
Schweigend überfliege ich das Geschriebene.
»Rap?«, frage ich anschließend entsetzt.
Hanna ist ganz rot im Gesicht. »Indie-Rock?«, flüstert sie fassungslos.
»Bei mir steht Oper«, sagt Lana aufgebracht. Sie blickt so finster drein, dass sich ihre Augenbrauen in der Mitte ihrer Stirn beinahe treffen. »Kann diese Frau nicht lesen, oder was?«
»Das muss ein Fehler sein«, höre ich Valentina murmeln. »Wahrscheinlich hat sie unsere Namen vertauscht.« Langsam hebt sie die Hand, um sich zu melden.
Ich halte ihren Arm auf halber Höhe fest. »Das ist kein Fehler.«
Sofort schauen mich drei Augenpaare verständnislos an.
»Das war Absicht.« Jetzt weiß ich auch, warum die Leute hinter uns so laut getuschelt haben.
»Absicht?«, wiederholt Lana ungläubig. »Diese Frau ist wahrscheinlich einfach nur inkompetent.«
»Ich bin vieles. Ungeduldig, fordernd und nachtragend, aber mit Sicherheit nicht inkompetent.« Frau Dr. Rauch taucht aus dem Nichts vor uns auf und bedenkt Lana mit einem finsteren Blick. Meine Freundin läuft augenblicklich rot an.
Unsere Professorin wendet sich von uns ab und mustert die Studenten, die in den hinteren Reihen sitzen. »Die Meisten von euch haben es bereits erkannt: Ich habe euch absichtlich die Genres zugeteilt, die am wenigsten zu euch passen. Das ist kein Fehler.« Sie verschränkt ihre Hände hinter dem Rücken. »Ich habe das nicht getan, um euch zu ärgern, sondern um euch zu fordern. Der ein oder andere hat bestimmt schon wieder vergessen, dass wir hier nicht zum Spaß sitzen. Zum Ziel kommt man in diesem Kurs nur mit erstens: genügend Selbstreflexion, daher der Fragebogen, und zweitens: Disziplin. Die werdet ihr brauchen, um euch der größten Challenge des Semesters zu stellen und eine eigene Komposition zu kreieren.«
Ich muss schlucken. Mein Mund ist ganz trocken. Unauffällig schiele ich zu meinen Freundinnen rüber. Lana ist immer noch rot wie eine Tomate. Valentina kaut leicht panisch auf ihrer Unterlippe herum und Hanna sieht aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.
»Die Deadline und die Termine zu den Vorführungen werde ich euch heute im Laufe des Tages zuschicken. Schaut bitte regelmäßig in eure Mails.« Sie klatscht motiviert in die Hände. »Und nun wünsche ich euch allen viel Erfolg. Bei Fragen stehe ich natürlich mit Rat und Tat zur Seite.«
»Ich kann nicht rappen«, flüstere ich panisch, sobald der erste Schock nachgelassen hat.
Lana schnaubt verächtlich. »Findest du Frau Dr. Rauch jetzt immer noch nett, Raya?«
xxx
Als Hanna und ich um kurz nach zwölf als eine der letzten den Saal verlassen, haben sich alle Studenten um das schwarze Brett im Flur versammelt. Eine dicke Menschentraube hat sich gebildet, durch die man sich allen Anschein nach nur mit einer Menge Körpereinsatz kämpfen kann.
Ich seufze theatralisch. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«
Dieser Tag ist einfach nur anstrengend. Er wäre mit Sicherheit weniger anstrengend, hätte ich in der vergangenen Nacht vernünftig geschlafen, anstatt meinem Mitbewohner Noel und seiner Freundin beim lautstarken Streiten zuzuhören. Und vielleicht stresst mich die Tatsache, dass ich das wohl unpassendste Genre für meine Komposition zugeteilt bekommen habe, auch mehr, als ich mir selbst eingestehen möchte.
»Wollen wir hintenrum gehen?«, fragt Hanna, während sie die Studentenansammlung vor uns mit großen Augen betrachtet. Ich tue es ihr gleich.
Die Menschen, die ganz hinten stehen, beugen sich so stark nach vorne, dass sie fallen würden, würden sie nicht vom Vordermann aufgehalten werden. Ein paar Studenten in den ersten Reihen halten sich schockiert die Hände vor den Mund, andere murmeln sich irgendetwas Unverständliches in den Bart. Es herrscht allgemeine Unruhe.
»Scheint wichtig zu sein«, murmele ich und ignoriere Hannas Frage damit unbewusst.
Während ich noch mit mir hadere, hat meine Freundin längst eine Entscheidung für uns getroffen. Sie packt mich am Arm und zieht mich ohne Vorwarnung in die Menge. Zielsicher und unter Einsatz ihrer Ellenbogen, kämpft sie sich mit mir im Schlepptau bis nach ganz vorne durch.
Uns werden ein paar Schimpfwörter an den Kopf geworfen, mehr passiert Gottseidank nicht.
Erst als Hanna scharf die Luft einzieht, richte ich meinen Blick auf die gigantische Pinnwand vor mir. Konzentriert scanne ich die Zettelwirtschaft nach einer Aufruhr erregenden Mitteilung ab.
Meine Augen weiten sich, als ich schließlich ein Foto in DinA4 Größe entdecke. Es scheint neu zu sein, denn es überdeckt die restlichen umliegenden Anzeigen.
Das Bild zeigt einen Jungen, der in die Kamera lächelt. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Seine braunen Augen leuchten hell und die kurzen, blonden Haare glänzen golden in der Abendsonne. Er hat seinen Arm um ein Mädchen gelegt. Ihr braunes Haar fällt ihr in leichten Wellen über die Schultern. Durch den roten Pullover den sie trägt, kann man eine konvexe Wölbung in der Bauchgegend erkennen.
»Wer macht denn sowas?«, höre ich Hanna flüstern.
Ich bin zu beschäftigt damit, das Foto anzustarren, um ihr zu antworten. Jemand hat ein Wort in fetten, roten Großbuchstaben auf das Bild geschrieben.
M Ö R D E R
Inzwischen nimmt die Menschentraube um uns herum immer weiter ab. Logisch, die meisten Veranstaltungen sind zu Ende, alle wollen nach Hause. Natürlich möchte keiner länger bleiben als nötig, auch dann nicht, wenn es eine makabre Botschaft zu bestaunen gibt. Solange es die Menschen nicht betrifft, ist es nicht wichtig genug, um sie zum Bleiben zu bewegen.
Irgendwann stehen nur noch zwei Mädchen aus meinem Semester, Hanna und ich im leeren Flur.
»Irgendwie kommt er mir bekannt vor«, sagt die Blondine, die hinter mir steht, nach ein paar Minuten, in denen ich das Foto so lange angestarrt habe, bis es sich auf meine Netzhaut gebrannt hat.
Ihre Freundin legt den Kopf schief. »Jetzt wo du's sagst ... «
»Wir können das nicht hängen lassen«, raunt Hanna mir zu.
»Jetzt hat es doch eh schon jeder gesehen«, entgegnet die Blondine und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Na und«, sage ich. »Es geht ums Prinzip. So was kann Rufschädigend sein.« Ohne groß darüber nachzudenken, schnellt meine Hand nach vorne. Mit Schwung reiße ich das Blatt Papier von der Wand, zerknülle es in meiner Faust und stopfe es in meinen Rucksack.
»An jedem Gerücht ist etwas Wahres dran«, argumentiert die Blondine weiter. »Du weißt doch gar nicht, was passiert ist. Was, wenn der Junge auf dem Foto wirklich jemanden umgebracht hat?«
»Du weißt auch nicht, was passiert ist«, erwidert Hanna tonlos. »Vielleicht hat das Mädchen ja auch jemanden umgebracht und nicht der Junge.«
Für einen kurzen Moment ziehe ich in Erwägung, dass die Anschuldigungen stimmen und tatsächlich ein Mörder auf dem Foto in meinem Rucksack zu sehen ist. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus, doch dann kommt mir ein Gedanke: Sollte tatsächlich jemand auf diesem Bild eine Straftat begangen haben, so ist die Polizei bestimmt längst informiert.
»Wenn an den Vorwürfen etwas dran ist, wird derjenige seine Strafe anders bekommen. Dieses Foto ist einfach nur sinnlos«, sage ich entschieden, schnappe mir Hannas Hand und schleife sie durch den inzwischen menschenleeren Flur, zur Eingangshalle.
A/N: Wie gefällt euch die Story bisher? Habt ihr Verbesserungs- oder Songvorschläge? Immer her damit! Noch habe ich ein paar Lieder für die kommenden Kapitel, aber bald werde ich dann auch Vorgeschlagene einbauen. xx
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