sechsundvierzig

please don't say goodbye
when i can barely speak
can barely stand
can barely smile

SEIT ich von meiner eigenartigen Begegnung mit Joline nach Hause gekommen bin, liege ich im Bett, mit Kopfhörern in den Ohren und Fragen im Kopf. Auf meinem Bauch steht mein Laptop, mit dem ich vor gut anderthalb Stunden angefangen habe, bipolare Störung zu googeln.

Ich fühle mich schuldig, weil ich mich nie mit dieser psychischen Krankheit auseinandergesetzt habe. Depressionen sind sicher kein Fremdwort mehr in der heutigen Zeit, aber alles andere hat mich irgendwie nie beschäftigt. Komisch, wenn man bedenkt, dass rund zwei Millionen Menschen in Deutschland an einer bipolaren Störung erkrankt sind.

Ich bin auf dem Blog eines Mädchens gelandet. Die neunundzwanzigjährige Helena veröffentlicht regelmäßig Tagebucheinträge aus ihrem Leben. Eigentlich nichts Dramatisches. Sie schreibt über ihren Job als Floristin, ihre Wohnung in Brandenburg und ihren Hund Hund, den sie anfangs eigentlich gar nicht wollte, inzwischen aber für nichts auf der Welt hergeben würde.

Eigentlich klingt sie völlig normal. Gesund, wie man als Mediziner wohl sagen würde. Doch der Schein ist trügerisch. Man muss kein Genie sein, einfach nur weiter als bis zum zehnten Eintrag lesen, dann merkt man, dass etwas nicht stimmt.

Heute fühle ich mich gut. Ich habe Lust in die Stadt zu fahren und mir ein Kleid zu kaufen. Vielleicht auch zwei. Ich habe mir lange nichts mehr gekauft. Die Sonne scheint. Ich sehne mich nach Urlaub. Vielleicht nach Spanien? Oder Griechenland. Da war ich noch nie. In Dubai könnte ich meine neuen Kleider anziehen, die ich heute kaufen möchte. Vor zehn Minuten habe ich mein Handy angeschaltet. Vierzig WhatsApp Nachrichten und acht Anrufe in Abwesenheit haben mich erschlagen. Aber ich bin nicht böse auf sie. Sie wissen ja von nichts. Klar, dass sie sich da Sorgen machen, wenn ich zwei Wochen lang nicht zu erreichen bin. Ich werde ihnen auch dieses Mal nichts erzählen. Wie gesagt. Mir geht es wieder gut. Vielleicht bin ich doch nicht krank. Ich war immer noch nicht beim Arzt. Aber da muss ich eventuell auch nicht mehr hin, jetzt, wo alles wieder okay ist. Ich bin definitiv nicht krank. Und als Belohnung dafür werde ich mir heute drei Kleider kaufen, für Dubai.

Eigentlich nicht verwerflich. Aber wenn man sich vier Einträge zuvor in den buntesten Farben ausmalt, wie man sich am besten das Leben nehmen kann, wirft das ein ganz anderes Licht auf die Situation.

Ich habe inzwischen genug Internetseiten und online-Ratgeber besucht, um ziemlich sicher sagen zu können, dass Helena gerade mitten in ihrer manischen Phase steckt.

Die bipolare Störung lässt sich meistens durch zwei wichtige Phasen charakterisieren: Depression und Manie. Ersteres ist mir, wie bereits erwähnt, nicht fremd. Geplagt von unendlicher Traurigkeit und Motivationslosigkeit kapseln Betroffene sich von der Außenwelt ab. Nur um später, in der zweiten Phase, den Mund nicht halten zu können, vor Energie zu sprühen, ein waghalsiges, gar lebensmüdes Verhalten an den Tag zu legen und sich meistens wieder völlig gesund zu fühlen.

Eigentlich habe ich das Wort bipolar immer mit harmlosen Stimmungsschwankungen verbunden, die sich von jetzt auf gleich bemerkbar machen. In einer Sekunde lacht man, in der anderen weint man.

Und obwohl ich noch nie etwas von einer bipolaren Störung gehört habe, habe ich vom Begriff bipolar an sich schon oft im Alltag gebrauch gemacht.

Mit Aleah, auf dem Gymnasium, wenn sie sich mal wieder nicht entscheiden konnte, ob sie John Bergmann aus der Oberstufe nun toll fand, oder nicht.

Mit Livi, als sie mit vierzehn diese Phase hatte, in der sie ständig grundlos rumgezickt hat.

Mit Aaron Weiß aus meiner alten Klasse, weil er dafür bekannt war, leicht reizbar und ziemlich aggressiv zu sein, wenn man seinen wunden Punkt traf. Aaron hatte viele wunde Punkte.

Doch so einfach, wie ich es mir immer vorgestellt habe, ist eine bipolare Störung nicht. Man ist nicht in einer Sekunde unendlich traurig, nur um in der nächsten ohne Musik auf der Stelle zu tanzen. Manische und depressive Phasen können sich über Wochen, bis hin zu mehreren Monaten ziehen.

Inzwischen kreisen meine Gedanken wieder und wieder um Yannik. Ich versuche das Bild, was ich mir bisher von der Krankheit machen konnte, auf ihn zu projizieren. Und es passt. Es passt so verdammt gut, dass ich einfach nicht begreife, wie ich vorher nie etwas bemerken konnte.

In depressiven Phasen sind Betroffene oft launisch und ziehen sich zurück.

Da ist Yannik, über den Lana sich pausenlos aufregt. Er sei so still, so unfreundlich und würde sich aus allem raushalten, sei untalentiert, denn hätte er Talent, hätte er das längst gezeigt. Yannik, dessen Platz in der Vorlesung oft frei ist. Yannik, der gelegentlich von der Bildfläche verschwindet, ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Yannik, der sich im Hochschulcafé erst zu mir gesetzt hat und nur wenige Minuten später beleidigt wieder abgedampft ist. Yannik, der die Bushaltestelle kaputtgemacht hat und in dessen Augen ich so oft Tränen entdeckt habe, dass mir allein bei dem Gedanken daran schwindelig wird.

Die manischen Phasen sind meist geprägt durch Höhenflüge und hemmungsloses Verhalten. Viele Erkrankte neigen dazu, vermehrt Geld auszugeben ...

Yannik und seine großzügige Spende im Wert von dreihundert Euro, für eine Sexschaukel, die nicht mal seine eigene war, am Anfang des Semesters. Yannik betrunken auf dem Fußboden, der bei Porta im Sonderangebot war. Yannik, zusammenhangslos redend, Oberkörperfrei und hysterisch lachend, auf Johnnys Hausparty.

... oder begeben sich in Gefahr. Verantwortungsloses Verhalten, bis hin zu schierer Lebensmüdigkeit kann auftreten.

Yannik, auf Johnnys Dach tanzend und wie er beinahe abgerutscht wäre. Yannik und seine Panikattacke, im Führerhaus des Krans, auf den er ohne Absicherung geklettert ist.

Seine Aussagen ließen mich schon in dieser einen grausamen Nacht denken, dass Crane-Climbing kein Fremdwort für ihn ist. Doch eine plausible Erklärung für seine Lebensmüdigkeit blieb mir bisher immer verborgen. Bisher.

Yannik ist nicht aus Spaß diesen Kran hochgeklettert, sondern weil er krank ist. So absurd wie es sich anhört, so wahr ist es auch. Er ist krank. Und niemand hat etwas davon bemerkt. Deshalb durfte er das Polizeirevier wahrscheinlich auch ohne Konsequenzen wieder verlassen, nachdem er auf der Baustelle vor meinen Augen festgenommen wurde.

›Mein Leben ist eine Achterbahnfahrt.‹

Ich erinnere mich an Hochs und Tiefs, heimlich, aber sie waren da.

Seufzend entsperre ich mein Handy. Ein Screenshot der Adresse der Asklepios-Klinik leuchtet mir vom Display aus entgegen.

Mein Blick wandert von meinem Handy zur Uhr und wieder zurück, so lange, bis ich es nicht mehr aushalte. Es ist halb fünf. Wenn ich mich beeile, bin ich spätestens um fünf da. Die Besuchszeiten sind von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends.

Ich springe auf, schnappe mir meinen Rucksack und verlasse die WG.

Vielleicht hat Joline Recht und Yannik ist ein Weltenzerstörer, der mein Leben in Schutt und Asche zerlegt, wenn ich ihn an mich heranlasse. Aber ich darf nicht vergessen, dass seine Welt gerade ebenfalls lichterloh niederbrennt, während alle anderen scheinbar nur stumm daneben sitzen und zusehen. Ich möchte nicht mehr daneben sitzen und ich möchte auch nicht mehr zusehen. Genau das hat das Mädchen in Australien getan. Das Mädchen, das ich nun nicht mehr bin. Ich werde Yannik dabei helfen, seine Welt wieder aufzubauen. Dafür riskiere ich sogar meine eigene.

xxx

Ich finde Yannik draußen, im Raucherbereich vor der Klinik. Er sitzt auf der Rückenlehne einer Bank, die Füße hat er auf dem eigentlichen Sitzbrett geparkt, und zieht gedankenverloren an seiner Zigarette.

Einen Moment lang bleibe ich stehen und beobachte ihn aus der Ferne. Sogar vom Weiten kann man erkennen wie schlecht es ihm geht. Die hängenden Schultern, der leere Blick und die müde Haltung verraten ganz genau, wie es in seinem Inneren aussieht. Yannik war noch nie sonderlich gut darin, seine Gedanken und Gefühle zu verstecken. Wenn es ihm schlecht ging, hat er sich in der Vergangenheit kommentarlos zurückgezogen, oder sein Umfeld seine Laune spüren lassen. Und wenn es ihm gut ging, war sein Lachen meist so ansteckend, dass ich mich nach einem Gespräch mit ihm völlig beflügelt gefühlt habe.

Und trotzdem fiel es mir verdammt schwer, ihn zu durchschauen. Er ist ziemlich gut darin, den Menschen nur das zu zeigen, was sie sehen sollen.

Ich zwinge mich dazu die letzten Meter des Hofes zu überqueren und auf ihn zuzugehen. Noch hat er mich nicht bemerkt. Er scheint sehr in seinen Gedanken versunken zu sein.

Wortlos setze ich mich neben ihn. Der Rauch seiner Zigarette umhüllt uns wie eine Schutzmauer. Es ist, als wären wir zu zweit in einer anderen Welt. Niemand kann uns hier etwas anhaben. Wir sind sicher. Jedenfalls wünsche ich mir das.

»Ich darf keinen Besuch empfangen«, sagt er ohne mich anzusehen.

Darfst du nicht, oder willst du nicht?

»Wie geht es dir?«

Jetzt sieht er mich doch an. Einen Moment lang mustert er mich schweigend. Dann fängt er an zu lachen. »Das ist das bescheuertste, das mich seit langem jemand gefragt hat.«

»Das hast du mich auch gefragt«, erinnere ich ihn an die Nacht, in der ich ihn vor einer zertrümmerten Bushaltestelle aufgesammelt und in der WG verarztet habe.

»Ja«, entgegnet er, wendet sich ab und schaut nun wieder stur geradeaus. Ich bemerke erst, wie sehr seine Hände zittern, als ich meinen Blick auf die Zigarette zwischen seinen Fingern richte, die inzwischen so weit abgebrannt ist, dass er sie kaum noch halten kann, ohne seine eigene Haut anzukokeln. »Ich bin auch bescheuert.«

Ich schüttele den Kopf. »Bist du nicht.«

»Du hast es doch gesehen«, sagt er tonlos. »Freitagabend.«

Ich sehe ihn von der Seite an. Mustere seine dunkelblonden, wilden Haare, die vollen Lippen und die kleine Narbe auf seiner Nase.

Irgendwie ist es komisch. Ich sitze direkt neben ihm, aber trotzdem fühle ich mich, als würden Welten zwischen uns liegen. Plötzlich sind wir uns fremder als bei unserer ersten Begegnung in der Eingangshalle der Hochschule.

Ich habe noch nie jemanden vermisst der direkt neben mir saß.

»Du bist nicht bescheuert«, wiederhole ich mich. Ich fühle mich, als würde ich auf einem gefrorenen See tanzen, warte geduldig auf die Stelle, an der ich einbreche und ertrinke.

Er seufzt und schnippt die Zigarette weg. »Was willst du, Soraya

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Damit habe ich nicht gerechnet. Sein distanziertes Verhalten ist wie ein Schlag ins Gesicht. Aber damit muss ich klarkommen. So ist es nun mal mit ihm.

»Was lässt dich denken, dass ich etwas will?«

»Jeder will irgendwas.« Seine Stimme klingt rau und heiser. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme.

Ich will, dass du mit mir redest. Ich will, dass du mir vertraust. Ich will, dass du weißt, dass ich für dich da bin. Ich will dir helfen.

Eigentlich könnte ich ihm so viel sagen. So viel Ausreden. Aber ich beschließe, zur Abwechslung einfach mal ehrlich zu sein und zucke mit den Schultern. »Eigentlich hatte ich keinen wirklichen Plan, als ich hergekommen bin. Ich wollte dich einfach sehen.«

Als ich ihm einen erneuten Seitenblick zuwerfe, schaut er immer noch stur geradeaus. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, während er schluckt, und plötzlich wirkt er angespannt.

»Du solltest gehen.«

Überrascht schaue ich ihn an. Ich will aber nicht gehen.

»Und tu mir einen Gefallen«, sagt er, dreht seinen Kopf in meine Richtung und sieht mich aus glasigen Augen an. »Komm nicht wieder.«

Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, weil mir die Worte fehlen. Yannik steht auf, tritt die Zigarette aus, die er vor wenigen Minuten auf den Boden geschmissen hat, und lässt mich ohne ein weiteres Wort auf der Bank zurück.

Fassungslos sehe ich ihm nach, während in mir ein Chaos ausbricht, das ich zuvor noch nie gespürt habe. In meinem Kopf schreit alles danach, ihm hinterherzulaufen, mich in seine Arme zu schmeißen und ihn nie wieder loszulassen. Das Verlangen nach seiner Berührung in meiner Brust schmerzt so sehr, dass mir ganz schwindelig wird. Trotzdem bleibe ich regungslos sitzen und lausche meinen rasenden Gedanken und dem Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.

Ist das das Ende? Einfach so? Kann das überhaupt das Ende sein, wenn es nicht mal einen richtigen Anfang gab? Nein. Lauf ihm nach! Tu was! Sag was! Aber was?

Und dann entscheidet mein Herz, bevor mein überforderter Kopf Zeit hat, zu reagieren.

»Ich weiß es!« Ich überschlage mich fast beim Sprechen, so groß ist meine Angst, dass er geht und nie wiederkommt. »Ich habe mit Joline gesprochen.«

Yannik bleibt stehen und wirbelt ruckartig herum. In seinen Augen tobt ein Sturm, den ich so noch nie zuvor gesehen habe. Und für einen kurzen Augenblick bilde ich mir ein, er würde verletzt aussehen.

»Herzlichen Glückwunsch«, entgegnet er mit gebrochener Stimme. »Ein weiterer Zuschauer im Publikum meines erbärmlichen Lebens. Mach's dir nicht zu gemütlich, die Show ist sowieso bald vorbei.«

Ein dickes, unsichtbares Seil wickelt sich um mein Herz und zieht sich zusammen, bis es schmerzt. Egal was ich heute zu ihm sage, ich werde nicht zu ihm durchdringen können. Er hat dicht gemacht. Ein für alle Male.

»Aber –«

»Hör zu, Soraya«, unterbricht er mich. Das verletzliche Schimmern verschwindet aus seinen Augen und er schaut mich mit harter Miene an. »Dass ich deinen Song beendet habe war ein Fehler. Du darfst den Text und die Musik gerne behalten. Ich werde meine eigene Komposition kreieren. Du kannst kein Teil meines Lebens sein. Lass mich ... lass mich bitte in Ruhe.« Und mit diesen Worten dreht er sich um, steckt die Hände in die Hosentaschen seiner ausgewaschenen, schwarzen Jeans und geht. Und ich hasse es, das zu denken, doch es fühlt sich an, als wäre er für immer gegangen.

Das ist sie – die Stelle des Sees an der ich einbreche und ertrinke. 

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