neunzehn

love is like a party

NEUGIERIG sehe ich mich im Flur um. Ich weiß nicht genau wonach ich suche, ob ich überhaupt nach etwas suche, als mein Blick die zahlreichen Gesichter abscannt, die ich überwiegend Studenten aus meinem Semester zuordnen kann.

Es riecht nach Gin Tonic, Zitronen und Rauch. Das ganze Anwesen ist abgedunkelt. Irgendwo steht eine Diskokugel, die die gesamte Atmosphäre in buntes, zitterndes Licht taucht. Aus irgendeinem Zimmer dröhnt laut Musik, die in jeder noch so kleinen Nische des Hauses zu hören ist.

Wir sind auf einer weiteren Studentenparty von Johnny Eilers, der uns vor gut zehn Minuten mit einem Cocktail und den Worten »Was geht, meine alkoholsüchtigen Freunde. Bitte passt dieses Mal auf den Fußboden im Wohnzimmer auf. Der war bei Porta im Sonderangebot. Normalerweise ist der Scheiß echt teuer und ich habe keinen Bock, wegen eurer Sauerei professionelle Ausbesserungen bezahlen zu müssen«, begrüßt hat.

Es ist spät. Zu spät, um an einem Mittwoch Abend noch nicht im Bett zu liegen. Doch das stört uns nicht im Geringsten. Hannas neuer Freund Julian ist Medizinstudent und hat uns zu Beginn des Abends, während des Vortrinkens, mehrere hilfreiche Tricks verraten, um einen lästigen Kater nach durchzechter Nacht erfolgreich zu bekämpfen.

Wir kennen Julian seit unserer ersten Party im Wohnzimmer, wo er vor ein paar Wochen seine Nummer mit schwarzem Edding auf Hannas unteren Rücken gekritzelt hat. Die beiden verstehen sich seither außergewöhnlich gut. Es ist beinahe unheimlich, wie nah sie sich in den letzten Tagen gekommen sind. Inzwischen können sie sich sogar ohne Worte verständigen. Ein Blick von Hanna und Julian weiß sofort, was sie will.

Ich wende mich von den beiden Turteltauben ab und konzentriere mich stattdessen auf das Geschehen in der Runde. Gerade wird diskutiert, wie wir den restlichen Abend verbringen wollen.

Lana streicht sich ihre perfekt geglätteten Haare hinters Ohr, bevor sie einen Vorschlag macht: »Wollen wir ich hab noch nie spielen?«

Ich möchte gerade verneinen, als Hanna begeistert in die Hände klatscht. »Au ja, super gerne!«

Nachdem auch der Großteil unserer Gruppe zugestimmt hat, werde ich von meinen Freundinnen ins Wohnzimmer geschleift, das auf den ersten Blick größer ist, als die WG, in der ich lebe.

Der Raum ist mit einer Fensterfront ausgestattet, die sich vom Boden bis hoch zur Decke zieht. Man hat einen sehr guten Ausblick auf einen Teil der Elbe und ich frage mich plötzlich, was Johnnys Eltern beruflich machen, um sich so ein pompöses Anwesen leisten zu können.

Der Fußboden, der bei Porta im Sonderangebot war, ist mit cremefarbenen Fliesen bedeckt. In der Mitte des Raumes liegt ein rundlicher orientalischer Teppich in weinrot, auf dem wir es uns nach kurzem Überlegen im Kreis bequem machen.

Ich setze mich neben Can, ziehe die Beine an und lege mein Kinn auf die Knie. Als ich heute morgen von Johnnys Feier erfahren habe, habe ich meine beiden Mitbewohner sofort eingeladen. Sowohl Can als auch Noel können definitiv ein wenig Ablenkung von ihren Beziehungsproblemen gebrauchen. Und für mich sind jegliche Arten von Partys eine gute Gelegenheit, um meine Recherche voranzutreiben und WHY auf die Spur zu kommen. Er hat einen Bruder namens Paul, Zugang zu den Bandräumen der Hochschule und kennt mich. Wie sonst soll er an meine Adresse gelangt sein und von dem Genre wissen, das mir für meine Komposition zugeteilt wurde? Mehr Infos konnte ich bisher leider nicht zusammenkratzen. Heute wird es Zeit, das zu ändern.

Direkt gegenüber von mir sitzt Yannik. Wie immer steckt eine Zigarette hinter seinem Ohr und ein schwarzes Basecap thront auf seinem Kopf, unter dem ein paar straßenköterblonde Locken hervorlugen. Er hat die Augen geschlossen, wippt mit seinem Fuß zum Takt der Musik auf und ab und pult an dem Becher in seiner linken Hand herum.

Rechts von ihm, mit gehörig Sicherheitsabstand, sitzt Livi und starrt ihn an. Die Blicke meiner ehemals besten Freundin können sich nicht entscheiden, ob sie böse oder anhimmelnd sein wollen und wechseln von Minute zu Minute. Ob er sich beobachtet fühlt? Schnell wende ich mich ab.

Yannik und Livi haben kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen, seit er ihr auf Johnnys letzter Party eine Abfuhr erteilt hat. Bei dem Gedanken daran zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen und ich nippe geistesgegenwärtig an dem Cocktail, den Johnny mir vorhin zur Begrüßung in die Hand gedrückt hat, um mein schlechtes Gewissen zu ertränken.

Ich glaube nicht wirklich, dass Yannik sein Verhältnis zu Livi tatsächlich wegen dem, was ich zu ihm gesagt habe, beendet hat. Wieso sollte er auch? Ich kann ihn nicht einmal sonderlich gut leiden! Und er mich mit Sicherheit auch nicht, nachdem ich ihm grimmig befohlen habe, sich von meiner ehemals besten Freundin fernzuhalten.

Trotzdem fühle ich mich mies. Vielleicht hätte ich Livi gestern Abend doch anrufen sollen, einfach, um ein bisschen zu quatschen und unsere Auseinandersetzung von vor ein paar Tagen endlich zu klären. Stattdessen habe ich Jascha angerufen - und die Mailbox erreicht.

»Okay ihr Wichser, es geht los!« Johnny quetscht sich dreist und ungefragt zwischen Lana und Lennart und ignoriert dabei geflissentlich die giftigen Blicke der beiden. Ich muss mir ein Lachen verkneifen und lasse meinen Blick weiter durch die Runde schweifen, um mich abzulenken.

Neben Can schweigen sich Noel und Cherry an. Seit ich in die WG gezogen bin, umgibt die beiden eine düstere, angespannte Stimmung. Warum sind sie überhaupt zusammen, wenn sie sich augenscheinlich nicht ausstehen können? Und warum hat Noel sie heute mitgebracht? Haben sie sich vor wenigen Stunden nicht erst gestritten?

Valentina hat es sich neben Hanna und Julian bequem gemacht und tippt abwesend auf ihrem Handy herum. Gleich zu Beginn des Abends hat sie uns erzählt, dass sie noch immer verzweifelt nach einer guten Idee für ihren Song sucht und hofft, ihre Kreativität würde durch den Alkohol aufblühen, wie eine Knospe im Frühling.

Lennart zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er aufsteht und um Johnny herumläuft, damit er sich auf der anderen Seite wieder neben Lana setzen kann. Jascha, der zu meinem Leidwesen ebenfalls Teil unserer Runde ist, mustert das Treiben belustigt. Den ganzen Abend schon habe ich seine Blicke gemieden, einfach, weil mich das ganze Hin und Her mit ihm überfordert. Wir haben uns immer noch nicht ausgesprochen. Und die Tatsache, dass ich ihn in den letzten Stunden nicht erreichen konnte, macht die Situation nicht unbedingt besser. Inzwischen hat sich der Gedanke, er könnte nicht an mir interessiert sein, in meinem Kopf festgesetzt und lässt mich nicht mehr los.

Nervös trommele ich mit meinen Fingern auf dem Teppich herum. Wann habe ich das letzte mal ein Trinkspiel gespielt? In der zehnten Klasse.

»Die Regeln sind bekannt?«, fragt Johnny in die Runde. Alle nicken. Ich versuche mich zu erinnern. Jemand dreht eine leere Flasche. Der, auf den der Flaschenhals zeigt, muss sich eine Situation ausdenken, in der er selbst schon einmal gewesen ist und sie dann in einen ich-hab-noch-nie-Satz verpacken. ›Ich hab noch nie Angst gehabt, dass mich ein Typ nicht mag, weil er nicht an sein Handy geht‹.

Jeder aus der Runde, der ebenfalls schon in einer solchen Situation war, muss trinken. Wer seinen Becher zuerst geleert hat, hat gewonnen.

Ich bemerke erst, dass Johnny die Flasche schon gedreht hat, als die Jungs laut zu grölen beginnen. Ich hebe den Kopf und richte meine Aufmerksamkeit auf das Spiel.

»Ich hab noch nie zwei Beziehungen gleichzeitig gehabt«, sagt Lennart, auf den der Flaschenhals zeigt.

Ich verdrehe die Augen. Habe ich erwähnt, dass sich ab einem gewissen Pegel beinahe alles um Sex dreht?

Interessiert mustere ich Lanas Reaktion. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und lehnt entspannt an Lennarts Schulter. Auch, als er trinkt. Genau wie Cherry. Ich rechne fest damit, dass Noel aufspringt und geht, oder eine Szene macht. Aber er scheint Bescheid zu wissen, denn auch er starrt weiterhin ausdruckslos die Flasche in der Mitte des krüppeligen Kreises an, in dem wir sitzen.

Ich frage mich plötzlich, ob tatsächlich alle die Wahrheit sagen, auch wenn das Regel Nummer eins des Spiels ist.

Lennart dreht die Flasche. Bei Valentina bleibt sie stehen. Hanna rammt ihr den Ellenbogen in die Seite, damit sie von ihrem Handy aufsieht. Verständnislos schaut sie sich um. Es dauert einen Moment, bis sie begreift, dass sie an der Reihe ist.

»Ich hab noch nie eine Idee für Frau Dr. Rauchs Projekt gehabt«, seufzt sie theatralisch. Ich muss lachen. Offenbar lag ich mit meiner Vermutung richtig und sie versucht gerade, an ihrem Song zu arbeiten.

Yannik, Lana, Jascha und ich trinken.

»Das ist unfair«, beschwert sich Can. »Wir gehen nicht auf dieselbe Hochschule.« Trotz seiner Aussage umspielt ein Grinsen seine Lippen. Die beiden kennen sich erst einige Stunden und dennoch verstehen sie sich blendend.

Valentina verzieht das Gesicht und hält meinem Mitbewohner den Mittelfinger vor die Nase. »Heul doch«, entgegnet sie trotzig. Für einen kurzen Moment bilde ich mir sogar ein, ein gestresstes, aber leises »Vaffanculo« aus ihrem Munde zu hören.

Sage ich doch. Die beiden verstehen sich blendend.

Ich muss einen Seufzer unterdrücken. Valentina erinnert mich ein bisschen an mich. Vor wenigen Tagen noch war ich selbst ein Wrack, weil ich Angst um meinen Studienplatz hatte. Doch jetzt muss ich mir darum keine Sorgen mehr machen. Sofort fällt mir mein fertiger Song wieder ein. Mein fertiger Song, den ich nicht geschrieben habe.

Als meine Beine bereits lange eingeschlafen sind und mein Hintern schmerzt, kommt mir eine Idee. Meine Freunde nutzen die Gelegenheit, um sich über ihr Sexleben auszutauschen. Ich nutze die Gelegenheit, um herauszufinden, ob der mysteriöse WHY vielleicht in unserer Runde sitzt. Fest nehme ich mir vor, eine Fangfrage zu stellen, sobald die Flasche auf mich zeigt. Doch sie zeigt nicht auf mich, sondern auf Johnny.

»Ich stand noch nie auf eine Person in diesem Raum.« Er überrascht mich, als er einen großzügigen Schluck von seinem Wodka-E nimmt. Neugierig suche ich die Runde nach potentiellen Liebhabern für ihn ab, kann mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, auf wen er es abgesehen haben könnte.

Lana und Lennart grinsen sich breit an, während sie ihre Arme ineinander verknoten und jeweils aus dem Becher des anderen trinken.

Hanna und Julian trinken ebenfalls, genau wie Livi.

Sogar Noel und seine Freundin Cherry setzen ihre Gläser an die Lippen, auch wenn ich glaube, dass sie das nur tun, um einer hitzigen Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Ich spüre Jaschas Blick auf mir. Er schaut mich an, während er einen großzügigen Schluck von seinem Gin Tonic nimmt. Nervös rutsche ich auf dem unbequemen Teppichboden hin und her. Was soll das bedeuten? Möchte er damit andeuten, dass er wegen mir trinkt? Aber wieso hat er dann meine Anrufe ignoriert? Das ergibt alles absolut keinen Sinn.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine weitere Bewegung wahr. Yannik. Doch als ich ihn unauffällig mustere, lässt er seinen Arm bereits wieder sinken. Hat er getrunken? Hm. Wenn er doch auf Livi steht, wieso hat er ihr dann gesagt, dass sie sich von ihm fernhalten soll? Ich bezweifele stark, dass ihn allein meine leere Drohung dazu bewegt hat. Und wenn doch? Schlagartig fühle ich mich schlecht.

Es steht mir überhaupt nicht zu, mich in ihre Beziehung einzumischen. Ich habe absolut keine Ahnung, was da überhaupt zwischen den beiden ist. Und trotzdem habe ich es kaputtgemacht.

Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe. Vielleicht ist es an der Zeit, über meinen Schatten zu springen und einen Schritt auf Yannik zuzugehen. Er hat mir schließlich nichts getan. Und Livi ist alt genug, um selbst zu entscheiden, was richtig für sie ist. Wenn sie rauchen will, dann wird sie sich ihre Zigaretten auch ohne Yannik beschaffen.

Jemand tippt mir auf die Schulter. In Gedanken versunken habe ich nicht mitbekommen, dass die Flasche erneut gedreht wurde und nun auf mich zeigt. Ich habe auf Johnnys Aussage nicht getrunken und somit allen Anwesenden indirekt zu verstehen gegeben, dass ich an niemandem in diesem Raum interessiert bin. Als ich zu Jascha sehe, schaut er schweigend auf seine Hände. Mein Herz rutscht mir augenblicklich in die Hose. So ein Mist! Was mache ich denn jetzt?

»Ich hatte noch nie einen Bruder«, spreche ich automatisch den Satz laut aus, den ich mir vorhin im Kopf zurechtgelegt habe, um die abwartende Stille in unserer Runde zu überbrücken.

Hanna lacht. Lana verdreht die Augen. »Normalerweise ist Livi doch das Unschuldslamm in unserer Runde.«

Ich ignoriere die belustigten Kommentare, die auf mich niederhageln und konzentriere mich stattdessen auf die Jungs, die trinken. Lennart setzt seinen Becher an die Lippen, doch er steht nicht auf der Liste der Bandräume des online-Forums, die ich heute Morgen überprüft habe. Jascha hingegen schon, und auch er nimmt einen kräftigen Schluck, genau wie Johnny. Sogar Noel hebt prostend den Arm. Can trinkt nicht und auch Yannik und Cherry regen keinen Muskel. Gedanklich streiche ich die letzten drei von meiner Liste und muss mir ein zufriedenes Lächeln verkneifen. Meine Taktik geht auf. Wenn das so weitergeht, habe ich den geheimnisvollen Unbekannten vielleicht bald gefunden.

»Ich hatte noch nie Sex im Fahrstuhl«, sagt Lana, als die von mir gedrehte Flasche schließlich auf sie zeigend zum Stehen kommt, und schon heben die Meisten wieder grölend ihre Becher.

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