neun
i keep dancing on my own
»KOMMT ihr heute Abend mit ins Wohnzimmer?«, fragt Lana am Mittwoch Vormittag. Wir sitzen wieder auf der kaputten Backsteinmauer vor der Uni, unter dem großen Kirschbaum und schaufeln haufenweise Waffeln in uns hinein, die Hanna für uns mitgebracht hat. »Lennart bringt seinen Kumpel mit. Er studiert mit uns. Die beiden gehen immer zusammen ins Fitnessstudio. Logischerweise ist er deshalb auch sehr gut gebaut.« Sie lässt ihren Blick erwartungsvoll durch die Runde wandern. Auf mir bleibt er schließlich ruhen. »Wäre das nicht was für dich, Raya?«
Ich schüttele belustigt den Kopf.
»Gib ihr nicht gleich so viele relevante Informationen auf einmal«, sagt Valentina lachend.
Lana schnaubt verächtlich, als könnte sie unsere Zweifel nicht im Geringsten verstehen. »Was möchtest du denn sonst noch wissen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Eigentlich nichts. Ich mag mein single-Leben echt gerne.«
Die einzige Blondine in unserer Runde verdreht ihre Augen so stark, dass ich befürchte, sie würden gleich herausfallen. Dann sieht sie mich wieder an. »Ich habe auch nicht gesagt, dass du ihn gleich heiraten musst. Unverbindlicher Spaß würde dir bestimmt nicht schaden. Nicht wahr Mädels?« Hilfesuchend wendet sie sich an die anderen.
»Das ist eine gute Gelegenheit, um dich auszuprobieren«, sagt Hanna. »Aber nur, wenn du wirklich willst. Du wirkst nicht sonderlich überzeugt.« Das bin ich auch nicht.
»Warum möchtest du ausgerechnet mich verkuppeln?«, frage ich genervt.
»Weil die anderen Mädels vergeben sind«, erklärt Lana entschieden und deutet erst auf Hanna, die seit unserer ersten Nacht im Wohnzimmer mit dem Jungen schreibt, der seine Telefonnummer auf ihren Rücken gekritzelt hat, und anschließend auf Valentina, die laut eigener Aussage schon seit zwei Jahren mit ihrem festen Freund zusammen ist.
»Was ist mit Livi?«, hake ich nach.
Lana macht eine abwinkende Handbewegung. »Die hängt doch mit Yannik ab. Hast du das etwa vergessen?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schüttele den Kopf. Yannik. Sofort fällt mir wieder ein, wie merkwürdig er sich gestern im Hochschulcafé benommen hat.
»Wo waren wir? Ach ja, richtig. Du wolltest mehr über Lennarts Freund wissen.«
»Eigentlich -« beginne ich, werde jedoch unterbrochen, noch bevor ich einen sinnvollen Satz zu Stande bringen kann.
»Er heißt Jascha, ist zwanzig Jahre alt, durchtrainiert, sieht gut aus ... « Von diesem Punkt an schweife ich ab. Ich behalte lieber für mich, dass mich jetzt, wo ich schon dazu gezwungen werde, zuzuhören, eher interessieren würde, welche Musik er hört, wie er zu Sexismus, Homophobie und Rassismus steht und wie lange er morgens im Badezimmer braucht. Noch einen weiteren verständnislosen Blick von Lana möchte ich nicht ernten.
xxx
Ich weiß nicht, warum ich mich am gleichen Abend dann doch im Wohnzimmer, zwischen zahlreichen betrunkenen Studenten wiederfinde. Ich weiß nur, dass ich meine Entscheidung definitiv bereue.
»Er ist dunkelhaarig, muskulös, sieht gut aus -«
»Das weiß ich bereits«, unterbreche ich Lana genervt. »Weil du seit heute Mittag über nichts anderes mehr sprichst.«
Man könnte meinen, ihre Stimmbänder wären durch einen alten Kassettenrekorder ersetzt worden, der nun immer und immer wieder dasselbe Tonband spielt.
Sie seufzt theatralisch. »Ich versuche nur, dich an den Mann zu bringen.«
»Ich möchte aber nicht an einen Mann gebracht werden, den ich nicht einmal kenne«, protestiere ich. Leidend werfe ich einen Hilfesuchenden Blick zu Hanna und Valentina rüber, die an der Bar sitzen und angeregt quatschend auf ihren Cocktail warten. Doch zu meinem Leidwesen nehmen sie mich nicht wahr.
»Das ist der Sinn eines blind Dates.«
Ich hätte verdammt nochmal zu Hause bleiben sollen.
»Was, wenn ich nicht warm mit ihm werde?« Ich schüttele mich bei dem Gedanken an nervigen Smalltalk und unangenehme Pausen im Gespräch.
»Du sollst auch nicht warm, sondern intim mit ihm werden. Lass mal ordentlich Dampf ab, für 'ne Nacht. Das wird dir guttun.«
Zweifelnd sehe ich sie an.
Sie erwidert meinen Blick, nimmt mein Gesicht in beide Hände und kommt mir gefährlich nahe, sodass ich den Erdbeerkaugummi in ihrem Mund riechen kann. »Sei nicht immer so oberflächlich, Soraya.« Dann lässt sie mich los und verschwindet ebenfalls in Richtung Bar. Fassungslos schaue ich ihr hinterher. Dass sie mich zu allem Überfluss auch noch Soraya genannt hat, ist ein bitterer Beigeschmack dieses fragwürdigen Abends.
»Genau, sei nicht immer so oberflächlich.« Ich zucke zusammen, wirbele ruckartig herum und blicke in glasige, bernsteinfarbene Augen. »Nimm dir stattdessen lieber ein Beispiel an deiner überhaupt nicht oberflächlichen Freundin.«
»Ha ha«, mache ich und fahre mir durch die Haare. »Manchmal frage ich mich, wie ein Mensch so wenig Selbstreflexion haben kann.«
Yannik zuckt mit den Schultern. »Jeder hat eine unterschiedliche Sicht auf das Leben.« Offenbar ist er heute besser gelaunt, als am Dienstag. Trotzdem spanne ich mich an. Irgendwie habe ich unser eigenartiges Gespräch noch nicht ganz verdaut.
Ich lege den Kopf schief und nehme ihn genauer unter die Lupe. »Sag mal, hast du getrunken?«
Ein Grinsen schleicht sich auf seine Lippen. »Vielleicht habe ich das, Soraya. Vielleicht.«
»Nicht Soraya«, verbessere ich ihn, wobei mir auffällt, dass ich zum ersten Mal meinen Namen aus seinem Munde höre. Wir haben uns nie vorgestellt, wahrscheinlich kannte er ihn nicht einmal. »Nur Raya, bitte.«
»Was immer du willst, Raya.« Er macht eine überschwängliche Geste mit seiner linken Hand, in der er ein halb-volles Cocktailglas hält. Die orangefarbene Flüssigkeit darin droht überzuschwappen, weshalb ich mit dem Gedanken spiele, ihm seinen Drink abzunehmen. Aber Yannik ist alt genug. Und ich bin nicht seine Mutter.
»Da bist du ja, Yanni.« Livi taucht aus dem Nichts vor uns auf und schlingt ihre Arme um ihn. Yanni? »Ich habe dich überall gesucht.« Ihr Blick wandert zu mir. »Hi Raya. Hast du Spaß?«
Ich nicke. »Und gleich werde ich noch mehr Spaß haben«, sage ich, während ich die Bar ins Visier nehme.
Aufmerksam folgt Yannik meinem Blick. Dann grinst er anerkennend. »Vorbildlich.«
»Wollen wir raus, eine rauchen?«, erkundigt sich Livi bei ihm, während sie ihn verträumt ansieht. Noch immer hat sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen, was ihn völlig unbeeindruckt lässt.
Als Antwort greift er hinter sein Ohr, wo eine Zigarette thront, und legt sie sich zwischen die Lippen. »Man sieht sich, nicht-Soraya.«
Ich bleibe mitten auf der Tanzfläche zurück. Und während ich Yanniks breiten Rücken anschaue und das unangenehme Brennen zu ignorieren versuche, das mein voller Vorname in mir auslöst, frage ich mich plötzlich, seit wann Livi raucht. Ich kenne sie beinahe mein ganzes Leben lang. Ein Leben lang ohne Kippen. In der vierten Klasse haben wir sogar eine Urkunde ausgefüllt, in der wir an unser älteres Ich aus der Zukunft appellieren, die Finger von Drogen, Alkohol und Zigaretten zu lassen. Ich habe das ganze nicht so ernst genommen. Livi schon. Also was hat sich verändert, in der Zeit, in der ich weg war?
»So trifft man sich wieder.« Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mir jemand auf die Schulter tippt.
Überrascht wirbele ich herum und schaue in vertraute, apfelgrüne Augen. Mein Herz setzt freudig einen Schlag aus.
»Hi«, nuschele ich und streiche mir verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Ich habe gehofft, dich hier noch einmal zu treffen«, sagt der Junge, mit dem ich mich vor einigen Tagen an der Bar betrunken habe.
Ich verschränke meine Arme vor der Brust und ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach, echt?«
Er grinst mich frech an. Dann nickt er. »Irgendwie bin ich beim letzten Mal nicht auf den Gedanken gekommen, dich nach deinem Namen zu fragen.«
»Dann frag mich jetzt.«
Wir stehen noch immer neben der Tanzfläche, da wo Lana mich vorhin zurückgelassen hat, werden regelmäßig von Ellenbogen gerammt und durch die Gegend geschoben, doch das scheint weder ihn, noch mich sonderlich zu stören.
Im Hochschulgebäude habe ich vergeblich Ausschau nach ihm gehalten. Lustig, dass ich ihm ausgerechnet hier erneut begegne.
»Verrätst du mir deinen Namen?«
Ich nicke enthusiastisch. »Raya. Und wie heißt du?«
»Jascha«, entgegnet er. Wenn er lacht, bildet sich ein Grübchen über seinem linken Mundwinkel, was wirklich verdammt niedlich aussieht.
Ich brauche ein paar Sekunden, in denen ich bloß gebannt seine Lippen anschaue, bis ich bemerke, dass mir der Name bekannt vorkommt.
»Bist du zufällig mit Lennart befreundet?« Natürlich ist er mit Lennart befreundet. Vor einigen Tagen, als wir schon einmal hier waren und ich ihm leidend gestanden habe, eine Freundin von Lana zu sein, hat er mir ebenso leidend gestanden, ein Freund von Lennart zu sein. Dann haben wir den beiden eine Weile beim knutschen zugeschaut und uns dabei betrunken.
»Ja, das bin ich.«
Lana wird sich ein zweites Loch in den Bauch freuen, wenn sie herausbekommt, dass ich Jascha bereits kennengelernt habe.
»Alles okay bei dir? Du wirkst gestresst.«
Ich fahre mir durch die Haare. Das hat er bemerkt?
»Die Sache mit der Komposition nervt mich ziemlich«, lüge ich. Eigentlich mache ich mir viel mehr Gedanken um Livi, als um meinen blöden Song. Aber das muss er ja nicht wissen.
»Frau Dr. Rauch hat uns vor eine ziemlich große Herausforderung gestellt.« Er nickt mitleidig. »Wenn du Hilfe brauchst, melde dich ruhig bei mir. Ich bin ziemlich gut im Mischen.«
»Mischen?«, wiederhole ich irritiert.
»Du weißt schon. Beats und so.« Ah. Ein DJ also. »Was ist denn dein Genre?«
Ich seufze theatralisch. »Rap.«
Er macht den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch dazu kommt er nicht. Lana packt mich von hinten an beiden Schultern und brüllt in mein Ohr: »Wir müssen los. Valentina hat sich abgeschossen und kotzt seit einer halben Stunde die Damentoilette voll.« Dann hebt sie den Kopf und sieht geradewegs in Jaschas Augen. Ein Grinsen bildet sich auf ihren Lippen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du mal auf mich hörst, Raya.«
Ja, das hätte ich auch nicht gedacht.
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