fünfzehn
i thought the future would be cooler
DEN Sonntag Nachmittag verbringe ich zusammen mit Hanna in einem der vielen Bandräume der Hochschule. Ich habe ein online-Forum entdeckt, das einem ermöglicht, die Räume für einen begrenzten Zeitraum zu mieten, und hatte Glück. Heute Morgen ist jemand abgesprungen. Ich habe schnell reagiert und mich in die freie Lücke zwischen sechzehn und zwanzig Uhr eingetragen.
Als Hanna und ich zum ersten Mal einen Fuß in einen der berüchtigten Hochschulbandräume setzen, machen wir große Augen. Er ist wirklich kein Vergleich zu dem mickrigen Bungalow neben Hannas Studentenwohnheim.
Der Raum ist trotz der vielen Schaumstoffschalen und Instrumente hell und geräumig. Die Wand neben der Tür wurde mit buntem Graffiti besprüht. Ich betrachte es eine Weile interessiert. Ganz unten in der Ecke stehen mehrere Namen. Wahrscheinlich war das Kunstwerk ein Projekt von Studenten, die sich dort verewigt haben.
Es gibt neben einem Holzklavier auch ein weiß lackiertes E-Piano und zwei Keyboards. Ich finde außerdem ein schwarzes, elektrisches Schlagzeug, verschiedene E-Gitarren, mehrere Trompeten, eine Harfe und zahlreiche Perkussionsinstrumente.
Der Raum wurde offenbar speziell für professionelle Aufnahmen eingerichtet, denn es gibt ein Computerboard mit mehreren Flachbildschirmen und als ich neugierig an einer ausfahrbaren Schublade ziehe, kommt ein weiteres angeschlossenes Keyboard zum Vorschein.
»Wow«, sagt Hanna beeindruckt. Sie steht seit fünf Minuten wie angewurzelt in der Gesangskabine hinter dem Computerboard. Dort gibt es einige Mikrofone in den verschiedensten Ausführungen, und mehrere bunte Kopfhörer hängen von einzelnen Notenständern.
Ich bin mit dem Vorhaben, heute eine Probeaufnahme von meinem Refrain zu machen, hergekommen. Weil ich die Produktion alleine nicht bewältigen kann, ist Hanna nun an meiner Seite.
Ich habe ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte Livi heute neben mir stehen. Seit Yannik gestern Abend mit ihr Schlussgemacht hat, hat sie sich bei niemandem von uns gemeldet. Die Trennung nimmt sie offensichtlich ziemlich mit.
Ich sollte für sie da sein. Aber wir haben uns nach unserer Auseinandersetzung vor dem Wohnzimmer immer noch nicht ausgesprochen. Eigentlich ... haben wir uns generell nie ausgesprochen. Seit ich Australien verlassen habe, hat eiserne Funkstille zwischen uns geherrscht. Ich bin wahrscheinlich die letzte, mit der sie gerade reden möchte.
Um mein Gewissen zu beruhigen, stelle ich mich hinter eines der Keyboards und schalte es an. Zahlreiche Knöpfe beginnen in Sekundenschnelle, zu leuchten und ich beobachte fasziniert jedes einzelne Flackern der verschiedenen bunten Lichter.
»Die Keyboards haben wahnsinnig viele Modi«, sage ich begeistert. Ich könnte wahrscheinlich die ganze Nacht damit verbringen, die verschiedenen Einstellungen zu durchforsten.
Aber dafür sind wir heute nicht hier. Wir wollen keine professionelle Aufnahme starten, sondern einfach ein bisschen drauflos arbeiten und schauen, ob sich meine Rohfassung überhaupt sehen lassen kann.
»Echt?«, Hanna tritt aus der Gesangskabine. Ihre Augen leuchten und sie strahlt von einem Ohr bis übers andere. Ein Schwall an Freude überkommt mich und auch ich kann mein Grinsen nicht länger unterdrücken. Wir sind in unserem Element. Dieser Bandraum ist unser kleiner, persönlicher Himmel und in Momenten wie diesen bin ich unglaublich froh, diesen Schritt gegangen zu sein. Hier in Hamburg, mit meinen neunzehn Jahren, habe ich zum ersten Mal so richtig das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Ich nicke. »Schau.«
Sofort werde ich nervös. Ich habe noch nicht oft vor anderen Menschen gespielt. Um genau zu sein, eigentlich bloß vor meinem ehemaligen Klavierlehrer Vitali, meiner Schwester Aleah, Livi und der Jury der Hochschule.
Ich versuche, mich auf die Melodie zu konzentrieren und mein klopfendes Herz zu ignorieren. Es ist nur ein Refrain. Zehn Sekunden. Meine Finger zittern sogar ein wenig und ich bete innerlich, dass Hanna davon nichts mitbekommt, als ich die erste Taste drücke.
Ich zwinge mich dazu, mich auf die Musik zu konzentrieren und alles andere um mich herum auszublenden, so wie Vitali mir immer geraten hat.
»Jetzt weiß ich, warum du hier angenommen wurdest«, sagt Hanna beeindruckt, als ich fertig bin.
Ich schenke ihr ein schüchternes Lächeln und widme mich im Anschluss wieder dem Instrument vor mir.
»Ich liebe Keyboards mit Aufnahmefunktion«, verkünde ich, sobald ich herausgefunden habe, was das Gerät sonst noch alles kann.
Hanna teilt meine Euphorie. »Das sehe ich«, entgegnet sie grinsend und schaut mir dabei zu, wie ich die einzelnen Modi durchforste.
Die Stimmung ist ausgelassen und mit der Zeit werde ich immer lockerer. Irgendwann fällt es mir nicht mehr schwer, vor Hanna zu spielen und so probieren wir nacheinander alle Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, aus.
Um fünf Uhr widmen wir uns dann dem Ernst des Lebens. Bevor ich mich in die Gesangskabine verziehe, nehmen wir die Melodie, die ich mir für meinen Refrain überlegt habe, auf dem Keyboard auf, das an die Computer angeschlossen ist.
Im Gegensatz zu Hanna kenne ich das Programm zur Musikproduktion, das man hier nutzt nicht, aber solange meine Freundin damit umgehen kann, bin ich beruhigt.
Ich habe einen USB-Stick dabei, auf dem ich meine Aufnahmen später speichern möchte.
Wir brauchen mehrere Anläufe, bis alles richtig klappt. Vielleicht hätte ich meine Stimme vorher aufwärmen sollen, denn sie bricht einige Male und wir müssen wieder von vorne anfangen.
Nach zwei Stunden kann ich die Lyrics in- und auswendig und sehe sie vor mir, wann immer ich die Augen schließe.
»Ich glaube, ich habe einen Ohrwurm«, sagt Hanna lachend, als sie mir am Ende des Tages meinen USB-Stick zurückgibt, auf dem sich die Datei des fertig produzierten Probe-Refrains befindet. »Ich wünschte, ich würde auch so gut vorankommen, wie du.«
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass uns noch eine Dreiviertelstunde bleibt. »Was hältst du davon, wenn wir die letzten fünfundvierzig Minuten brainstormen?«, frage ich, lege den USB-Stick zurück auf den Tisch und klatsche motiviert in die Hände.
Hanna vergräbt ihr Gesicht in den Händen. »Ich sehe es schon kommen; meine Komposition wird schlimmer als Valentinas«, stöhnt sie. »Wenn ich überhaupt eine Komposition zustande bringe.«
Ich setze mich neben sie auf einen freien Drehstuhl und lege meine Hand auf ihre Schulter. »Mach dich nicht verrückt«, sage ich, weil ich aus Erfahrung weiß, wie sehr es einen mitnimmt, mitten in einer Schaffenskrise zu stecken. Es gibt nichts Schlimmeres, als mit seinem Projekt auf der Stelle zu stehen, obwohl man eigentlich liebend gern daran arbeiten möchte. »Wir schaffen das. Hast du dich schon über dein Genre informiert?«
Sie nickt stumm.
»Welche Instrumente brauchen wir denn?«, frage ich weiter.
Hanna zuckt mit den Schultern. »Genretypisch für Indie-Rock sind Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboard und Gesang. Die Klassiker eben.«
»Wenigstens muss niemand Trompete spielen«, sage ich und entlocke ihr somit ein Lachen.
Endlich nimmt sie die Hände aus dem Gesicht und schaut mich an. »Danke, dass du mir hilfst.«
Ich mache eine abwinkende Handbewegung. »Nicht der Rede wert. Außerdem hast du mir doch auch geholfen!«
Sie nickt. »Wie hast du dich eigentlich inspirieren lassen?«, möchte sie anschließend wissen.
Ich zucke mit den Schultern. »Erst habe ich es mit Musik versucht und mir die verschiedensten Rapsongs angehört. Später habe ich mich dann einfach ans Klavier gesetzt und drauflos gespielt. Den Refrain habe ich auch nur so schnell zu Stande bekommen, weil er in die Pop-Richtung geht. Ich habe mich informiert. Viele Rapper arbeiten mit einem solchen Refrain.«
»Okay.« Hanna wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir haben eine halbe Stunde, um zu genretypischen Bands zu tanzen und uns inspirieren zu lassen. Was sagst du?«
Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich meinen Blick auf die fette Musikanlage richte, die neben der Tür steht. Ich willige begeistert ein.
»Darf ich?« Hanna deutet auf mein Handy, das ich vorhin auf dem Computerboard neben der Tastatur abgelegt habe. »Ich habe leider kein Spotify.«
Ich nicke.
Bereitwillig greift sie nach meinem Smartphone - und runzelt gleich darauf die Stirn. »Drei verpasste Anrufe von Jascha.«
Ich rümpfe die Nase und nehme ihr mein Handy aus der Hand. Eine Weile starre ich stumm die Benachrichtigungen an, so als könnte ich sie allein mit meinem finsteren Blick verschwinden lassen.
»Willst du ihm nicht antworten?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich bin kein Fan davon, wichtige Dinge per SMS zu klären. Wenn man sich nicht traut, es jemandem ins Gesicht zu sagen, sollte man es am besten gar nicht sagen.«
Hanna nickt verständnisvoll. »Das ist eine gute Einstellung, Raya. Trotzdem solltest du ihm wenigstens ein Lebenszeichen von dir geben.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Als ich zusammen mit Yannik in Johnnys Garten saß und mich betrunken habe, wollte ich die Angelegenheit zwischen Jascha und mir sofort klären. Doch jetzt habe ich Angst. Was, wenn ihm aufgefallen ist, dass er mich eigentlich gar nicht mag? Bestimmt hat er sich deshalb aus dem Staub gemacht. Aber würde er mich dann überhaupt noch anrufen?
Ich seufze ergeben. Das werde ich nur herausfinden, wenn ich mit ihm spreche. »Also schön. Ich schreibe ihm.«
Können wir reden? Morgen, halb acht, vor den Vorlesungen.
Stolz halte ich Hanna das Handy vor die Nase. »Erledigt!«
Ihre Augen überfliegen meine Nachricht. Dann zeigt sie mir einen Daumen nach oben. »Super, dann können wir uns ja jetzt inspirieren lassen!«
Tja, und so kommt es schließlich dazu, dass wir keine fünf Minuten später, im hochschuleigenen Bandraum, zu den verschiedensten Songs der Arctic Monkeys und den Killers tanzen.
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