fünfundvierzig

wenn ich dir sage wie sehr ich dich liebe
dann wär das ne lüge

JOLINE hält ihr Wort. Genau zwanzig Minuten nach unserem Telefonat hat sie Johnnys Anwesen erreicht und kommt mit schnellen Schritten auf mich zu. »Wo ist er?«

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden und deute auf die Tür an der ich lehne. Hinter mir ist Johnnys Zimmer, in das wir Yannik vor gut zehn Minuten unter Einsatz unseres Lebens gesperrt haben. Das Fenster dort kann man abschließen. Der Schlüssel dazu liegt im Badezimmer, damit Yannik nicht noch einmal auf die Idee kommt, aufs Dach zu klettern.

Joline bleibt dicht vor mir stehen, fährt sich durch die Haare und nickt. Ihre Wangen sind rot und als sie mir die Hand reicht, damit ich mich an ihr hochziehen kann, sehe ich, wie stark sie eigentlich zittert.

Der Schein trügt. Sie ist nicht ruhig, sie tut nur so.

Ich weiß, dass ich mich besser nicht einmischen sollte. Nicht jetzt, wo die Emotionen bei uns allen hochkochen und uns steuern. Aber ich kann mich einfach nicht länger zurückhalten.

»Was ist mit ihm?«, frage ich, greife nach ihrer Hand und stehe schwungvoll auf.

Meine Beine sind noch immer etwas wackelig, deshalb halte ich mich am Türrahmen fest.

Joline atmet hörbar laut aus. In ihren Augen tobt ein Sturm. Sie sieht ... überfordert aus.

Und mit ihrem panischen Blick wickelt sich das schlechte Gewissen enger und enger um mein Herz, wie eine Unkrautranke, bis meine Brust zu schmerzen beginnt. Eigentlich ist es total absurd. Ich habe keinen Grund mich schlecht zu fühlen, schließlich habe ich nichts getan. Aber vielleicht war genau das mein Fehler – dass ich nichts getan habe.

»Hat er Alkohol getrunken?«

Mit einer Gegenfrage habe ich nicht gerechnet. Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke. Daraufhin blitzt in Jolines karamellfarbenen Augen etwas auf. Etwas verletzliches, gar zerbrechliches, und plötzlich fühle ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen.

Verträgt Yannik keinen Schnaps und hat sich deshalb so daneben benommen? Blödsinn. So oft, wie wir schon zusammen getrunken haben, wäre mir das doch aufgefallen, oder?

»Joline, was ist hier los?«, frage ich erneut, dieses Mal mit Nachdruck. »Ich verstehe nur Bahnhof!«

Sie mustert mich angestrengt, bis die Stille zwischen uns beinahe unerträglich wird.

Es ist eigenartig ruhig im Haus. Die Party ist vorbei. Während Lennart, Jascha und ich Yannik im Zimmer eingeschlossen haben, haben Lana, Livi und Hanna die letzten Gäste rausgeschmissen. Die meisten sind sowieso freiwillig gegangen, nachdem das Schauspiel im Obergeschoss ein jähes Ende gefunden hat.

»Ich will doch nur helfen!«

Joline seufzt ergeben. »Du kannst nicht helfen, das ist ja das Problem, Raya. Hör am besten einfach auf es zu versuchen.«

Ich schüttele den Kopf. So leicht lasse ich mich nicht abspeisen. Wochenlang habe ich akzeptiert, was passiert ist. Pauls Briefe, die Sache mit dem Kran, die kaputte Bushaltestelle. Yannik hat mir nie Antworten gegeben. Ich habe versucht geduldig zu sein, doch nach seiner heutigen Aktion reicht es mir endgültig. Ich will endlich wissen, was hier vor sich geht!

»Ich weiß von Paul«, sage ich also. »Und daher weiß ich auch, dass ihr es in den letzten Monaten nicht leicht hattet. Aber das hier«, ich deute auf die Tür hinter der Yannik sich verbirgt. »Hat mit Trauern nichts mehr zu tun. Irgendetwas ist doch mit ihm!«

Bis eben gerade dachte ich noch, Joline könnte angespannter nicht sein, doch als ich sehe, wie sie ihre Schultern strafft, werde ich eines besseren belehrt.

»Nicht so laut!«, zischt sie und sieht sich zeitgleich prüfend um, um sich zu vergewissern, dass wir alleine im Obergeschoss sind.

»Yannik darf nichts trinken«, fährt sie dann mit gesenkter Stimme fort. »Er ist krank, okay? Eigentlich hat er sich unter Kontrolle, aber manchmal kann er einfach nicht die Finger vom Alkohol lassen.«

Was?

»Krank? Meinst du etwa alkoholsüchtig?«

Ein trauriges Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. »Schön wärs.«

»Aber was –«

»Hör zu, Raya. Ich hatte eine wirklich beschissene Nacht. Ich will einfach nur meinen Bruder abholen und nach Hause fahren. Verstehst du das?«

Ich halte inne und erwidere ihren Blick. Sie wirkt abgekämpft. Mehrere blonde Haarsträhnen haben sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und hängen ihr in die Stirn. Ihre Augen sind klein, glasig und von dunklen Schatten gezeichnet. Und dann fällt mir auf, wie jung sie eigentlich aussieht. Älter als sechzehn dürfte sie nicht sein. Sie ist wahrscheinlich selber noch ein Kind, hat gerade erst ihren Bruder verloren und muss sich nun auch noch um Yannik kümmern. Aber wer kümmert sich um sie?

Ergeben seufzend deute ich auf das Badezimmer. »Der Schlüssel für die Tür liegt auf der Fensterbank. Wenn du Hilfe brauchst sag Bescheid.«

Joline nickt. Sie hält einen Moment lang inne und ich bilde mir ein, sie würde noch etwas sagen wollen, doch dann schüttelt sie kaum merklich den Kopf und verschwindet ohne ein weiteres Wort im Badezimmer.

xxx

Vier Tage. Vier Tage halte ich durch. Samstag, Sonntag, Montag und Dienstag Mittag. Okay, wenn man es genau nimmt, sind es dreieinhalb Tage.

Um dreizehn Uhr, direkt nach den Vorlesungen, mache ich mich auf den Weg zu Yannik. Er war weder gestern, noch heute da. Sogar die Pflichtveranstaltung bei Frau Dr. Rauch hat er geschwänzt.

Sein Absturz war natürlich das Thema Nummer eins in der Mensa. Johnny hat uns erzählt, dass die Flasche, die Yannik geworfen hat, die Scheibe des Autos seiner Nachbarin zertrümmert hat und er für den Schaden aufkommen muss. Er hat mehrfach versucht Yannik zu erreichen, um ihm dies mitzuteilen, allerdings vergeblich.

Der Vormittag war deshalb die reinste Hölle für mich. Ich saß auf heißen Kohlen, war unruhig und hatte die ganze Zeit über fürchterliche Bauchschmerzen.

Ich verstehe nicht, wie meine Freunde so gelassen bleiben können, nach allem was passiert ist. Sogar Livi wirkt einigermaßen gefasst. Neben ihnen fühle ich mich wie eine überfürsorgliche Helikoptermutter.

Seufzend fahre ich mir durch die Haare. Der Himmel ist bewölkt, die Luft drückend und passt somit hervorragend zum Tag. Wie immer, wenn ich nachdenken muss, bin ich zu Fuß unterwegs. Ich laufe an der U-Bahnstation vorbei, an der ich normalerweise aussteigen würde, wäre ich mit der Bahn zu Yannik gefahren.

Den Weg von der Haltestelle bis zu seiner Wohnung kenne ich mittlerweile in- und auswendig, daher finde ich die Hochhaussiedlung, in der er wohnt, ohne Probleme.

Angespannt drücke ich die schwere, rostige Tür zum Treppenhaus auf und als mich stickige Luft und Zigarettenrauch im Flur begrüßen, habe ich ein Déjà vu.

Zielstrebig laufe ich auf Yanniks Wohnung zu und drücke auf die Klingel. Es läutet im Inneren. Der schrille Ton vermischt sich mit meinem rasenden Herzen und ich verschränke automatisch meine Finger miteinander, damit sie nicht wieder anfangen, ein Klavierstück auf meinem Oberschenkel zu spielen.

Ich zähle die Sekunden. Bei vierundvierzig klingele ich erneut. Und dann direkt noch einmal. Doch es tut sich nichts. Wenn Yannik nicht in der Hochschule ist, und auch nicht zu Hause, wo ist er dann?

›Es gibt Tage, an denen ist er unauffindbar‹, hallen mir Jolines Worte durch den Kopf. Scheiße.

Ich atme kurz tief durch, dann starte ich einen letzten Versuch, klopfe laut gegen die Tür und lehne meine Stirn dagegen.

»Ich bin's, Raya. Ich wollte bloß wissen, ob du in Ordnung bist.« Dumm. Natürlich ist er das nicht.

›Er ist krank, okay?‹

»Ich mache mir Sorgen um dich. Das am Freitag ... das war ... keine Ahnung ob ... ob dir das hilft, aber ich bin für dich da. Ich will nur, dass du das weißt. Niemand ist wütend auf dich, weil du die Flasche geworfen hast. Die Meisten können sich nicht mal daran erinnern, weil sie zu betrunken waren. Du kannst also ruhig wieder zu den Vorlesungen kommen.« Ich mache eine kurze Pause. »Wenn du willst.«

Obwohl ich mir eigentlich ziemlich sicher bin, dass er nicht da ist, fahre ich fort. Vielleicht, um mir endlich alles von der Seele zu reden. Vielleicht, um mich selbst zu beruhigen. Vielleicht, um das komische Gefühl loszuwerden, das mich verfolgt, wann immer Yannik unangekündigt von der Bildfläche verschwindet. Aber vielleicht ist ›vielleicht‹ auch einfach nur ein sehr bedeutungsloses Wort.

»Ich verstehe das einfach nicht, Yannik. Ich verstehe dich nicht. Du bist so ... undurchschaubar. Auf den ersten Blick wirkst du wie ein offenes Buch, aber insgeheim weißt du, dass niemand deine Sprache lesen kann.«

Irgendwo auf der Etage über mir geht eine Haustür auf. »He Mädchen, halt endlich den Rand, sonst zeigt dir meine Faust gleich eine Sprache, die selbst du verstehst!«

Erschrocken schaue ich nach oben, doch ich sehe nichts außer meilenweites, dunkelgrünes Treppengeländer und dreckige Wände.

»Sorry«, nuschele ich kaum hörbar, stecke meine Hände in die Taschen meiner Strickjacke und mache mich vom Acker, bevor ich zu allem Überfluss auch noch verprügelt werde.

Mit hängendem Kopf laufe ich die schmalen Gassen zwischen den Hochhäusern entlang. Mein Gehirn rattert auf Hochtouren. Wo könnte Yannik nur sein?

Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, noch einmal beim Bandraum vorbeizuschauen, in dem ich ihn letztes Mal gefunden habe, höre ich Schritte.

Ich hebe den Kopf und blicke in Jolines Gesicht. Als sie mich sieht, spannt sie sich sichtlich an, verlangsamt aber trotzdem ihr Tempo. Zögerlich laufen wir aufeinander zu, bis wir uns direkt gegenüber stehen.

»Du schon wieder«, begrüßt sie mich. »Was willst du hier?«

Unsicher trete ich von einem Fuß auf den anderen. »Wo ist Yannik?«

»Ist das dein Ernst?«

Stumm nicke ich, während mein Herz ein Salto nach dem anderen macht.

Joline schüttelt den Kopf. Einen Moment lang sagt niemand etwas. Doch nach ein paar schweigsamen Sekunden fasst sie sich schließlich ein Herz und fängt notgedrungen ein Gespräch mit mir an: »Yannik ist nicht der unkomplizierte Engel, für den du ihn hältst. Menschen wie er passen nicht in dein Leben. Sie sind Weltenzerstörer, lassen dich untergehen, mit einem einzigen Fingerschnipsen. Darum solltest du dich lieber von ihm fernhalten. Du wirkst, als würdest du dich liebend gern von ihm kaputtmachen lassen. Aber glaub mir, das ist es nicht wert.«

Ihre Worte treffen mich wie ein Pfeil, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, wiederholen sich immer und immer wieder, wie ein kaputter CD-Player. Wie mein CD-Player, der WHYs Song in Dauerschleife abspielt.

»Ich möchte nur helfen«, bringe ich hervor, um überhaupt etwas zu sagen. Und damit unser Gespräch nicht zu einem eintönigen Monolog wird.

»Du kannst Yannik nicht helfen. Niemand kann ihm helfen. Wie denn, wenn er sich nicht mal selbst helfen kann?« Sie hält inne und legt den Kopf schief. Könnte man das glasige Schimmern in ihren Augen nicht sehen, würde man denken, sie sei einfach nur verdammt arrogant. »Hat er dir denn gar nichts erzählt?«

Stumm schüttele ich den Kopf.

Sie hadert mit sich. Scheint abzuwägen, was sie mir verraten kann und was nicht.

»Hör zu, Raya. Ich sage dir das nur, weil mein Bruder dir aus irgendeinem Grund zu vertrauen scheint. Er redet ziemlich oft von dir, weißt du?«

Sie unterbricht sich selbst, schaut auf ihre Hände. Zu erst denke ich, sie hätte es sich anders überlegt, aber dann öffnet sie den Mund und haut mich um, mit den Worten, die ihre Lippen verlassen, wie der Wind ein Kartenhaus: »Er ist krank, genau wie sein Bruder. Yannik hat eine bipolare Störung.«

Einen Moment lang ist es unzumutbar still und ich bilde mir ein, dass sogar die Vögel auf den Baumkronen um uns herum aufgehört haben zu zwitschern.

»Bipolare Störung ...« wiederhole ich leise. Nicht als Frage, einfach so, für mich, um das scheinbar Unmögliche zu begreifen.

Joline mustert mich angestrengt. »Du hast keine Ahnung was das ist, hab ich Recht?«

Ich schüttele betreten den Kopf.

»Und wie willst du ihm dann helfen?«

Stille.

»Lass es einfach gut sein, Raya. Mach dich nicht für jemanden kaputt, der dich nicht wieder zusammenflicken kann. Er ist nicht alleine. Er hat mich. Ich habe ihn am Samstag ins Asklepios gebracht. Das wird ihm guttun.«

Ich ziehe scharf die Luft ein. Das Asklepios ist eine Psychiatrie.

»Wer weiß, vielleicht geht es ihm irgendwann besser und wenn das Leben euch in einem Jahr noch eine Chance gibt, kannst du sie ergreifen, ohne daran zugrunde zu gehen.«

Sie schenkt mir ein schmales Lächeln, steckt ihre Hände in die Taschen ihrer mausgrauen Strickjacke und verschwindet in einer dunklen Gasse zwischen zwei Hochhäusern.

Sie weiß ganz genau, dass ihre Worte Spuren hinterlassen haben. Und darum geht sie wahrscheinlich auch, ohne meine Antwort abzuwarten. Wäre sie geblieben, hätte ich ihr vielleicht gesagt, dass ich Yannik jetzt sehen will, und nicht erst in einem Jahr.

A/N: Endlich wissen wir, was Yannik seit Monaten vor allen geheim hält: Er ist bipolar!
Wenn ihr nicht mit dem Thema vertraut seid ist das kein Problem! In den nächsten Kapiteln wird Raya sich Stück für Stück mit Yannik und seiner Krankheit auseinandersetzen, das heißt ihr werdet – genau wie sie – langsam lernen, die bipolare Störung zu verstehen.

Wenn ihr euch anderweitig informieren wollt, ihr aber ungern stumpfe online-Artikel mit vielen Fachbegriffen lest, kann ich euch die dritte Staffel der Serie SKAM und dessen französische Version SKAM France (gibt's auf DailyMotion mit englischem Untertitel), oder das Video zur bipolaren Störung vom YouTube-Kanal Psychologeek empfehlen.

Obwohl ich durch mein Studium und meinen Bekanntenkreis schon mehrfach mit der bipolaren Störung konfrontiert wurde, bin auch ich immer noch dabei, sie zu verstehen. Wenn ihr also Erfahrungen oder Anmerkungen habt, schreibt mir gerne und wir quatschen ein bisschen :) xx

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