dreiundvierzig
every truth every lie
ends with you
»Ich ... ich muss da hinterher«, bringe ich zwischen unregelmäßigen Atemzügen hervor.
Obwohl ich Yannik nicht ansehe – ich kann ihn nicht ansehen. Nicht nachdem, was gerade passiert ist – nehme ich aus dem Augenwinkel sein Nicken wahr.
Mehrere Male denke ich daran, aufzustehen, doch mein Körper will sich nicht aus seinem Sitzstreik lösen. Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb wie ein Presslufthammer. Würde ich mich nicht so taub fühlen, würde es vielleicht sogar wehtun.
Nach ein paar Sekunden kann ich mich dann doch dazu motivieren, aufzustehen. Meine Knie sind weich wie Wackelpudding. Klar, immerhin habe ich gerade fast Yannik geküsst.
Bei dem Gedanken daran, wie nah wir uns eben waren, flammt das Feuer in meiner Brust erneut auf und mir wird warm. Ich ersticke es, indem ich mich zwinge, an Livi zu denken, und was ich ihr damit antun würde, würde ich Yannik tatsächlich küssen.
Aber ich wollte es. Ich wollte es so sehr. Und ich würde es wahrscheinlich wieder wollen, würde ich ihm noch einmal so nahe kommen, wie eben gerade. Das weiß ich, und das kann ich auch nicht leugnen, als ich mir meinen Rucksack schnappe und schnellen Schrittes den Bandraum verlasse.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und für eine Millisekunde wünsche ich mir, ich hätte Yannik doch angesehen. Einfach um in Erfahrung zu bringen, wie es ihm mit der ganzen Sache geht.
Wollte er mich überhaupt wirklich küssen, oder hat er nur mitgemacht, weil ich mich ihm vor die Füße geworfen habe, wie ein verletztes junges Reh?
Gott, ich bin so bescheuert! Zum ersten Mal seit Monaten wollte er sich mit mir treffen, weil ihm danach war, und ich mache es kaputt, indem ich versuche, ihn zu küssen. Ihn – den Schwarm meiner ehemals besten Freundin.
Enttäuscht von mir selbst laufe ich durch den schmalen, grell beleuchteten Flur. Der blaue Teppichboden unter meinen Füßen dämpft meine Schritte.
Ich kann Jascha nirgends sehen. Gerade als ich mein Handy zücken und ihn anrufen will, fällt mir ein, was er vorhin zu uns gesagt hat.
›Ich habe mich wohl im Raum geirrt.‹
Ruckartig bleibe ich stehen und sehe mich um. Neben den schweren, weißen Türen, die vom Flur wegführen, hängt ein beleuchtetes Schild, auf dem eine Zahl steht.
Der Bandraum, den Yannik gemietet hat, trägt die Nummer 32.
Schnurstraks gehe ich auf die 33 zu. Ich klopfe an, bevor ich ohne zu zögern die Türklinke herunterdrücke. Es tut sich nichts. Abgeschlossen.
Seufzend drehe ich mich um und klopfe an die Tür gegenüber.
Ein gedämpftes »Ja?«, ertönt und mein Herz rutscht mir in die Hose. Das ist Jaschas Stimme.
Zum ersten Mal seit des beinahe-Kusses mit Yannik wird mir bewusst, dass ich absolut keine Ahnung habe, was ich Jascha eigentlich sagen will. Immerhin herrscht Funkstille zwischen uns, seit ich herausgefunden habe, dass er mich angelogen hat.
Behutsam und mit rasendem Puls drücke ich die Türklinke zum Bandraum herunter. Er sieht genauso aus wie der, in dem ich mich mit Yannik getroffen habe, nur spiegelverkehrt.
Jascha sitzt am Computerboard. Riesige Kopfhörer thronen auf seinen Ohren, doch er scheint mich trotzdem gehört zu haben, denn er dreht sich zögerlich zu mir um.
»Also ...«, beginne ich, mache einen Schritt auf ihn zu und schließe die Tür hinter mir. »Wegen dem, was du da gerade gesehen hast ...«
»Ich habe nichts gesehen«, entgegnet er schulterzuckend, bevor er sich wieder dem Computer widmet.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und lasse mich auf dem freien Stuhl neben ihm nieder.
»Aber du-«
»Hör mal, Raya. Ich war in den letzten Wochen nicht gerade fair zu dir und das weiß ich auch. Wenn du an dein Handy gegangen wärst, hätte ich dir das auch schon früher sagen können – Es tut mir leid. Alles.«
Überfordert sehe ich ihn an.
Er starrt weiterhin stur auf den Computer, hat eine Seite mit digitalen Notenblättern geöffnet. Doch er liest nicht, denn nach ein paar Sekunden, in denen niemand etwas sagt, begutachtet er noch immer denselben Absatz.
»Du hast was gut bei mir«, fährt er fort. »Also wenn du hier bist, um mich zu bitten, die Klappe zu halten – ist gebongt. Von mir erfährt niemand etwas.«
Mit großen Augen und offenem Mund sitze ich neben ihm und habe absolut keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll.
»O-okay«, stottere ich. »Es ... gibt sowieso nicht viel, das du da verraten könntest. Was du gesehen hast ...«
Er wirft mir einen mahnenden Seitenblick zu.
»Ich meine natürlich, was du nicht gesehen hast«, verbessere ich mich artig. »Ist zum ersten und letzten Mal vorgekommen.«
Jascha zuckt mit den Schultern. »Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen, Raya. Wenn jemand weiß, wie beschissen Gefühle sein können und wie machtlos man gegen sie ist, dann ich. Glaub mir.«
Nachdenklich mustere ich ihn. Was hat das zu bedeuten? Ist Jascha etwa auch unglücklich verliebt? Moment mal. Was heißt hier auch? Ich bin nicht verliebt. Und schon gar nicht in Yannik!
»Dass ich mich in den letzten Wochen nicht gemeldet habe tut mir leid«, gestehe ich. »Ich hatte selbst viel um die Ohren. Und ... ja, okay, ich war sauer, weil du mich angelogen hast. Aber inzwischen habe ich eine andere Sicht auf die Dinge. Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen. War klar, dass die Situation früher oder später eskaliert.«
Ruckartig hebt er den Kopf und sieht mich an. Er wirkt überrascht.
»Ist okay, ich kann dich verstehen«, entgegnet er, nachdem er mich einen Moment lang nachdenklich gemustert hat. »Ich gebe zu, ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht. Du warst wochenlang nicht erreichbar und weder Hanna, noch Valentina, Livi oder Lana wollten mir sagen, was es damit auf sich hat. Aber inzwischen habe ich es verstanden. Ich hätte dich nicht anlügen dürfen. Tut mir leid.«
Einen Moment lang ist es still zwischen uns.
Als ich schließlich versöhnlich nicke, atmet Jascha hörbar laut aus.
Er fährt sich durch die Haare. Seine Augen überfliegen die Umgebung, sehen überall hin, nur nicht zu mir.
»Also ... ich gehe mal davon aus, dass du ... mit Yannik geredet hast. Sonst wüsstest du schließlich auch nicht, dass ich dich angelogen habe.«
Ich nicke erneut.
Schlagartig beginnen meine Gedanken wieder um Jaschas Geheimnis zu kreisen. In den letzten Wochen konnte ich ganz gut verdrängen, dass sich hinter all seinen Lügen eine Geschichte verbirgt. Eine Geschichte, vor der er so viel Angst zu haben scheint, dass er alles dafür tut, um sie weiterhin verleugnen zu können.
Er seufzt, beißt sich auf die Innenseite seiner Wange und scheint mit sich zu hadern. Abwartend sehe ich ihn an. Ich bin hin und hergerissen. Soll ich ihn in Ruhe lassen, oder ihm anbieten, erneut mit mir zu reden? Diesmal ohne Lügen, versteht sich.
»Ich hab echt nicht geplant, dich zu verarschen. Das musst du mir glauben. Aber du ... du hast mir so eine gute Vorlage geboten!«
»Eine Vorlage?«, wiederhole ich verwirrt. »Was für eine Vorlage?«
Meine Finger bewegen sich rhythmisch gegen meinen Oberschenkel, obwohl ich krampfhaft versuche, sie still zu halten.
»Okay. Also, Raya ich ... ich fange lieber von vorne an: Eigentlich bin ich ein Freund davon, Probleme so lange zu ignorieren, bis sie von selbst wieder verschwinden. Aber manchmal ... manchmal sind sie zu riesig, um sich in Luft aufzulösen, und je mehr Zeit verstreicht, desto größer werden sie. Als wir Eis essen waren, habe ich dir einen kleinen Einblick in mein Leben gewährt, weil ich sonst geplatzt wäre. Ich ... ich musste mit irgendwem reden.«
Ich weiß wie es sich anfühlt, von seinen eigenen Geheimnissen erdrückt zu werden. Es ist ein ziemlich beschissenes Gefühl. So als würde sich eine unsichtbare Kraft in der Brust ausdehnen und alle Gefühle, alle Gedanken, alles, was sonst noch da ist, vertreiben. Bis man sich gleichzeitig leer und voll fühlt, so als würde man von innen ertrinken. Und dann kann man nicht mehr essen, und nicht mehr denken, und nicht mehr atmen. Und egal was man tut – das Gefühl verschwindet nicht. Es ist da wenn man aufsteht und wenn man ins Bett geht, wenn man wach liegt und auch, wenn man es schafft, einzuschlafen.
Ich habe mich schon daran gewöhnt, habe es als einen Teil von mir akzeptiert, bis ich mich das erste Mal jemandem geöffnet habe. Es ist nicht sofort verschwunden, aber es wird besser, von Tag zu Tag.
Jascha reißt mich aus meinen Gedanken, indem er mit seiner Geschichte fortfährt: »Versteh das nicht falsch – ich habe nicht einfach willkürlich den erstbesten Menschen zum Reden gewählt. Ich mag dich, Raya, und ich habe mich bei dir sicher gefühlt. Deshalb habe ich dir von meinen Eltern erzählt. Eigentlich dachte ich, es wäre eine einmalige Sache gewesen – du hörst mir zu und vergisst es danach wieder. Aber plötzlich hast du mir immer öfter versichert, für mich da zu sein und ... das hat mich irgendwie erdrückt.«
»Moment mal«, unterbreche ich ihn. »Mein Angebot, für dich da zu sein, hat dich erdrückt?«
Er beißt sich auf die Unterlippe. »Na ja ... nicht das Angebot selbst, sondern die Tatsache, dass du anschließend immer und immer wieder darauf beharrt hast.«
Vielleicht sollte mich diese Offenbarung überraschen, doch das tut sie nicht. Denn das Gespräch mit Yannik hat mir gezeigt, wie befreiend es sein kann, jemanden zu haben, der einen akzeptiert, mit all seinen Geheimnissen. Der einen nicht dazu zwingt, zu reden. Der einfach nur da ist.
Du kannst die Menschen nicht dazu zwingen, mit dir zu sprechen. Wenn sie wollen, kommen sie von selbst zu dir. Wenn nicht, musst du das akzeptieren, sonst erdrückst du sie.
»Du hast mich mit deiner Fürsorge ziemlich in die Enge getrieben. Auch wenn du es nur gutgemeint hast.« Jascha klingt nicht vorwurfsvoll. »Als du dann auch noch behauptet hast, mein Geheimnis zu kennen, bin ich aus allen Wolken gefallen.«
Das habe ich gemerkt. Seine ängstliche Reaktion hat mich zu keinem Zeitpunkt an der Vermutung, er sei WHY, zweifeln lassen.
»Ich ... ich habe Panik bekommen. Mir war so schlecht, ich schwöre, ich war kurz davor, mich zu übergeben.« Ein tonloses Lachen entfährt ihm. »Entsprechend erleichtert war ich, als du mir offenbart hast, dass du mich für den Bruder von irgendjemandem hältst. Ich war so glücklich, dass ich einfach mitgespielt habe. In diesem Moment hätte ich wahrscheinlich alles gesagt, um mein Geheimnis zu ... zu wahren.«
Ich überlege, wie ich reagiert hätte, hätte mich jemand, den ich kaum kenne, so unverfroren und direkt damit konfrontiert, über Australien Bescheid zu wissen.
Ich habe Livi monatelang ignoriert, wollte Lana die Tür vor der Nase zuknallen und Hanna anlügen. Ich bin selbst nicht besser als Jascha.
»Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon du da gesprochen hast. Ich schwöre dir Raya, hätte ich früher gewusst, was für eine tragische Geschichte hinter Pauls Tod steckt, hätte ich nie behauptet, sein Bruder zu sein!«
»Du weißt Bescheid?«, hake ich nach.
Jascha nickt. »Inzwischen schon.«
Dann kommt mir ein Gedanke und ich zähle eins und eins zusammen.
»Yannik hat dir den Brief nicht wirklich zurückgegeben, oder?«
Jascha schüttelt langsam den Kopf. »Er hat mich zur Rede gestellt. Wir haben uns lange unterhalten. Yannik hat da so eine Art Spiel. Antwort für Antwort, nennt er es.«
Ich muss lächeln. Dieses Spiel kommt mir mehr als nur bekannt vor.
»Ich habe ihm einen Teil meiner Geschichte erzählt – den, den ich auch dir erzählt habe – und im Gegenzug hat er mir etwas über sich verraten. Da wurde mir erst so richtig bewusst, was hinter eurem Song steckt.«
Das ist ... ziemlich groß von Yannik. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie sehr es ihn verletzt haben muss, zu hören, dass jemand behauptet, seinen Song geschrieben und seinen Bruder verloren zu haben. Und trotzdem hat er Jascha zugehört.
»Er hat gesagt, er würde mir ein paar Stunden Zeit geben, um mit dir zu sprechen. Sollte ich es nicht gebacken kriegen, würde er es tun.« Er macht eine bedeutende Pause. »Ich hab's nicht gebacken gekriegt. Also hat er das für mich übernommen. Und ich kann es ihm nicht mal übel nehmen, schließlich war es sein Geheimnis. Nicht meins.«
»Wow«, mache ich.
Jascha lacht. Er klingt so anders als Yannik – seine Stimme ist heller und weniger rau. Und genau in dem Moment erkenne ich plötzlich, dass das, was ich für die beiden empfinde, unterschiedlicher nicht sein könnte. Jascha ist wie ein Bruder für mich, während die Schmetterlinge in meinem Bauch bereits zu tanzen beginnen, wenn ich Yanniks Namen höre.
Scheiße.
»Weißt du Raya, es gibt Dinge in meinem Leben, über die ich nicht bereit bin, zu sprechen. Manchmal, wenn alles zu viel wird und der Knoten in meiner Brust zu platzen droht ... dann muss ich etwas sagen. Irgendwas. Aber ... alles? Alles kann und will ich dir nicht erzählen. Du ... du würdest das nicht verstehen.«
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Ich wusste, dass er etwas vor mir geheim hält, was ihm sehr zu schaffen macht, aber dass er es nun so offen zugibt, nachdem er wochenlang keinen Ton gesagt hat, überrascht mich.
Er wirkt völlig aufgelöst. Die Panik in seinen Augen ist unverkennbar und als mein Blick zu seinen Händen wandert sehe ich, dass sie zittern.
Oh Mann, Jascha, was ist nur los mit dir?
»Ich kann dich nicht dazu zwingen, mit mir zu reden. Das habe ich inzwischen verstanden. Trotzdem verspreche ich dir, immer für dich da zu sein, wenn du mich brauchst, Jascha«, versichere ich ihm ehrlich. »Dass ich dich in den letzten Wochen ignoriert habe tut mir leid ... Wir haben beide Fehler gemacht.«
Nickend stimmt er mir zu. »Ja. Das haben wir. Vielleicht sollten wir noch mal von vorne anfangen.«
Ich halte ihm versöhnlich die Hand hin. »Freunde?«
Ein Grinsen schleicht sich auf seine Lippen, während mir zur selben Zeit ein Stein vom Herzen fällt.
»Freunde.«
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