dreißig

i think i'm losing my mind

DUNKELBLAU. Wenn Gefühle eine Farbe wären, würde ich mich dunkelblau fühlen. Unruhig, nervös, unsicher, kalt. Ich kann nicht aufhören an heute Mittag zu denken. Seit Stunden beschäftigt mich eine ganz bestimmte Frage: Wie ist Yannik an Pauls Brief gekommen? Und wieso hat er ihn in seinem Portmonee mit sich herum getragen?

Seufzend rolle ich mich auf den Rücken, schnappe mir mein Handy und beginne, eine Nachricht an Yannik zu schreiben. Das habe ich in der letzten halben Stunde schon öfters versucht. Jedoch wusste ich nicht, wie ich meine Frage formulieren sollte, und habe sie im Endeffekt jedes Mal wieder gelöscht.

Das bläuliche Licht meines Smartphones erhellt mein dunkles Zimmer mehr schlecht als recht und als ich mich flüchtig umsehe bemerke ich, dass die Silhouette meines Kleiderständers der Form eines Menschen ziemlich ähnelt. Bevor ich noch paranoid werde, wende ich mich ab und konzentriere mich wieder auf mein Handy. Meine Finger fliegen über die Tastatur. Dieses Mal drücke ich auf senden, ohne mir meine Frage noch einmal durchzulesen, damit ich es mir nicht noch einmal anders überlegen kann.

Wie bist du an den Brief gekommen?

Sieben simple Worte. Auf eine normale Frage gehört eine normale Antwort. Also wieso bin ich so nervös? Meine Finger kribbeln und während ich wieder und wieder die erste Nachricht überfliege, die ich Yannik je geschickt habe, beginnen sie, sich zu einem rhythmischen Takt zu bewegen. Manchmal, wenn ich nervös bin, fangen meine Hände von ganz allein an, ein Klavierstück in der Luft zu spielen. Die Musik ist schon immer mein sicherer Hafen gewesen. Ich finde Zuflucht in ihr, egal in was für einer misslichen Lage ich mich befinde und wenn ich falle, fängt sie mich auf. Bisher konnte mich das imaginäre Klavierspielen immer irgendwie beruhigen.

Während meine Finger nervös vor sich hin klimpern, versuche ich gekonnt, meinen Kleiderständer zu ignorieren. Ich könnte auch einfach das Licht anmachen und mich vergewissern, dass mein Kleiderständer wirklich ein Kleiderständer und kein fremder Unhold ist, aber dann kommen mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit achtzigtausend Insekten durch das offene Fenster in mein Zimmer geflogen, und darauf kann ich gut verzichten.

Stumm begutachte ich den leeren Chat, der mich von meinem Display aus anleuchtet. Ich habe Yannik noch nie eine Nachricht geschrieben. An seine Nummer bin ich durch die HamBÜRGER-WhatsApp-Gruppe gekommen, von der wir beide ein Teil sind. Wahrscheinlich hat er meine Nummer nicht einmal eingespeichert. Hoffentlich weiß er überhaupt, wer ich bin ...

Gerade als ich überlege, ob Yannik mein Profilbild sehen und mich anhand dessen identifizieren kann, oder nicht, vibriert mein Handy. Er antwortet schnell dafür, dass er nicht online war, als ich meine Nachricht abgeschickt habe.

Wie bist du auf Jascha gekommen?

Mit einer Gegenfrage habe ich nicht gerechnet. Das hätte ich vielleicht tun sollen, schließlich schreibe ich gerade mit Yannik – dem undurchschaubarsten Menschen den ich kenne.

Manchmal frage ich mich, ob er vor diesem Studium eine Ausbildung zum professionellen Gesprächsführer absolviert hat. Mit ihm habe ich die mit Abstand interessantesten Konversationen geführt. Und dafür musste er mir nicht einmal ein Geheimnis verraten!

Erst jetzt fange ich an, mich so richtig mit seiner Frage auseinanderzusetzen. Worauf bezieht er sich überhaupt? Möchte er, völlig aus dem Kontext gerissen wissen, wie ich Jascha kennengelernt habe? Oder fragt er sich, wieso ich mir so sicher bin, dass er WHY ist? Bin ich mir überhaupt sicher? In den vergangenen Wochen hat Jascha kein einziges Wort über Paul verloren, obwohl ich mehrfach versucht habe, unsere Konversation in die richtige Richtung zu lenken. Generell hat er meinen Verdacht nie wirklich bestätigt. Ich habe ihn noch nie die Worte ›ich bin WHY‹ sagen hören. Stattdessen habe ich ihn einfach vor vollendete Tatsachen gestellt, behauptet, Bescheid zu wissen und für ihn da zu sein. Er wirkte überrumpelt. Aber eben auch ertappt.

Ich beschließe, mich blöd zu stellen, schließlich ist das Schwerste zu schlucken bekanntlich der Geschmack der eigenen Medizin.

Ich bin im Wohnzimmer auf ihn gekommen. Er hat dort getanzt. Ziemlich gut, wohlgemerkt.

Stolz auf meine freche Antwort grinse ich in mich hinein. So lange, bis Yannik mir zurückschreibt.

Dann frag deinen tänzerisch begabten Freund, wieso er dich angelogen hat.

Mit großen Augen starre ich das Display an. Ich lese seine Nachricht mindestens viermal, lausche meinem laut klopfenden Herzen und kann nicht glauben, dass Yannik mir tatsächlich mit so einem miesen Cliffhanger geantwortet hat. Rasend vor Wut tippe ich meine Antwort ins Handy und wenn meine Finger dabei etwas zittern liegt das mit Sicherheit nicht daran, dass ich ihm irgendwie ein ganz kleines bisschen glaube.

Jascha hat mich nicht angelogen.

Aufgebracht warte ich auf seine Antwort. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Doch die heiß ersehnte Antwort kommt nicht. Nach einer halben Stunde halte ich es nicht mehr aus und wähle Jaschas Nummer. Schließlich habe ich mir heute Mittag erst vorgenommen, ihn bald zur Rede zu stellen, sollte er sich mir nicht von selbst anvertrauen. Dann ist bald eben jetzt. Die Finger meiner freien Hand trommeln einen unruhigen Rhythmus auf meinen linken Oberschenkel, während das Freizeichen ertönt. Mein Herz schlägt mir bis zum Halse als ich realisiere, dass ich absolut keine Ahnung habe, was ich sagen soll, sollte Jascha tatsächlich abnehmen. Aber er nimmt nicht ab.

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Lauwarmer Wind weht mir durchs Haar, als ich aus der U-Bahn trete und mich orientierungslos am überdachten Bahnsteig umsehe. Die Deckenlampen sind kaputt und flackern stetig vor sich hin, wie Stroboskoplichter im Club. Vielleicht war es keine besonders schlaue Idee, im frühen Morgengrauen aufzubrechen, um Yannik zur Rede zu stellen, aber ich konnte einfach nicht länger warten. Die ganze Nacht über lag ich wach. Als die ersten Vögel angefangen haben, zu zwitschern, habe ich es nicht länger ausgehalten und mich auf den Weg gemacht.

Ich vergrabe meine Hände in den Taschen der Strickjacke, die ich mir hastig übergeworfen habe, bevor ich überstürzt aus der WG geflüchtet bin, und setze mühsam einen Fuß vor den anderen. Irgendwo hinter einem Hochhaus geht die Sonne auf und taucht die Umgebung in warmes, orangefarbenes Licht. Tau glitzert auf den wenigen Rasenflächen, an denen ich vorbeilaufe und ein paar Nebelschwaden hängen schwer in der Luft.

Jascha wird mir keine Antworten geben, das habe ich nun endlich verstanden. Also muss ich zu härteren Maßnahmen greifen.

Ich folge den Straßen, die um diese Uhrzeit wie leergefegt sind und versuche, mich zu erinnern. Es war dunkel und ich war müde, als ich Yannik vor einigen Wochen nach Hause gebracht habe. Außerdem sind wir eine halbe Stunde lang im Kreis gelaufen, weil er partout nicht Heim wollte und mich deshalb in die falsche Richtung gelotst hat.

Ich durchquere eine Sackgasse, erkenne aber erst, dass es sich um eine solche handelt, als ich am Ende angekommen bin. Frustriert mache ich auf dem Absatz kehrt und irre weiter umher. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich so genervt, dass ich mein Handy aus der Hosentasche fische und erneut eine Nummer wähle. Dieses Mal ist es allerdings die von Yannik.

Ich bleibe stehen, lausche dem Freizeichen, das in regelmäßigen Abständen ertönt, und lasse meinen Blick wandern. Gerade als der Anrufbeantworter angeht, entdecke ich einen Wohnblock, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Obwohl ich nicht genau sagen kann woher, vertraue ich meinem Bauchgefühl, stecke mein Handy wieder weg und laufe in die Richtung, in der ich Yanniks Wohnung vermute.

Fünf Minuten später stehe ich dann tatsächlich bei ihm vor der Tür. Der Eingangsbereich und das Treppenhaus wirken alt, ungepflegt und es stinkt nach Rauch. Ich rümpfe die Nase und starre das vergilbte Klingelschild an, auf dem in dunkelblauer Tinte und unlesbarer Schrift ein Name geschrieben steht. Jetzt erinnere ich mich wieder. Hier bin ich definitiv richtig. Unsicher werfe ich einen Blick auf mein Handy. Halb sieben.

Zögerlich drücke ich auf die Klingel und warte. Ich höre es im Inneren läuten. Hoffentlich wecke ich niemanden auf.

»Bin gleich da!«, ruft eine weibliche Stimme und reißt mich aus meinen panischen Gedanken. Es war eine hirnrissige Idee, herzukommen. Seine Eltern denken doch, ich bin bekloppt, einfach so um diese Uhrzeit hier aufzuschlagen!

Ich starre auf meine Schuhe und spiele mit dem Gedanken, auf dem Absatz kehrt zu machen und zu verschwinden, noch bevor die Tür aufgeht. Erst dann bemerke ich, dass ich schon wieder angefangen habe, mit meinen Fingern ein Klavierstück auf meinem Oberschenkel zu spielen. Genervt vergrabe ich meine Hände wieder in den Taschen meiner Strickjacke.

Ich zwinge mich dazu, tief durchzuatmen. Es gibt absolut keinen Grund, abzuhauen. Seine Familie ist bestimmt schon auf den Beinen. Vielleicht wohnt er auch mit ein paar Freunden zusammen. Die würden mir mein frühes Aufschlagen bestimmt nicht ganz so übel nehmen. Sobald mir jemand die Tür öffnet, frage ich nach Yannik, stelle ihn zur Rede, habe Gewissheit, dass er mich bloß ärgern wollte, und kann in Ruhe nach Hause fahren. Was auch immer er mit seiner eigenartigen Nachricht gemeint hat, wird sich nun aufklären. Außerdem bin ich felsenfest davon überzeugt, dass Jascha mich nicht angelogen hat.

Und warum stehst du dann hier, um diese Uhrzeit?

In dem Moment wird die Tür aufgerissen und ein zierliches Mädchen erscheint im Rahmen. Sie sieht jung aus, trotz der seriösen Aufmachung. Ich schätze sie auf sechzehn oder siebzehn. Ihre dunkelblonden Haare hat sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, der einem Facelifting gleichkommt. »Hatten wir nicht acht Uhr vereinbart? Sie waren noch nie so früh ... « Sie hält inne und beobachtet mich einen Augenblick lang schweigend. »Bist du nicht noch ein wenig jung, um beim Jugendamt zu arbeiten?«

Irritiert ziehe ich eine Augenbraue hoch. Es ist still, während wir uns ausgiebig mustern. Sobald ich zum ersten Mal in ihre bernsteinfarbenen Augen mit den langen, dunklen Wimpern schaue, weiß ich, dass sie Yanniks Schwester sein muss. Die beiden sehen sich so ähnlich, dass sie glatt Zwillinge sein könnten, wäre da nicht der offensichtliche Altersunterschied.

Das Mädchen seufzt, reißt mich damit aus den Gedanken und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du arbeitest gar nicht beim Jugendamt, oder?«

Ich setze ein unsicheres Lächeln auf und schüttele anschließend den Kopf. »Nein ... ich wollte eigentlich mit Yannik sprechen.«

Jetzt ist sie diejenige, die die Augenbrauen hochzieht. »Freiwillig?«

»Äh ... «, mache ich verwundert. »Ja.« In meiner Jackentasche bewegen sich meine Finger. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, Raya. Reg dich ab!

Das Mädchen verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse und schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, der ist nicht da. Wie immer eigentlich.«

Enttäuscht fahre ich mir durch die Haare. Mein Herz klopft laut und hektisch gegen meinen Brustkorb. Ich muss diese Angelegenheit klären, sonst werde ich noch verrückt! Innerlich verfluche ich Yannik dafür, dass er mir erst so eine verwirrende Nachricht schreibt und dann wie vom Erdboden verschluckt ist.

»Weißt du zufällig, wo er ist?«

Ich muss wohl ziemlich verzweifelt aussehen, denn schon nach kurzer Zeit seufzt sie ergeben und wendet ihren Blick ab. »Das Wohnheim gegenüber hat einen Bandraum. Da verkriecht er sich immer, bevor die blöde Ziege vom Jugendamt kommt. Aber ich garantiere für nichts. Es gibt Tage, an denen ist er unauffindbar.«

Ich bedanke mich für ihre Hilfe, sie beschreibt mir den Weg zum Bandraum, und keine Minute später bin ich auch schon unterwegs.

Während ich den holprig gepflasterten Weg entlang laufe, frage ich mich, was Yanniks Familie mit dem Jugendamt am Hut hat. An ihm kann es nicht liegen, schließlich ist er – soweit ich weiß – einundzwanzig Jahre alt. Da bleibt eigentlich nur seine Schwester.

In Gedanken versunken merke ich erst spät, dass ich angekommen bin. Der Bandraum befindet sich in einem kleinen, hölzernen Bungalow. Die Fenster sind mit dunklen Schaumstoffschalen eingekleidet, weshalb man nicht ins Innere sehen kann. Zögerlich drücke ich die Türklinke herunter. Abgeschlossen.

Irritiert mache ich einen Schritt nach hinten. Hier scheint er nicht zu sein. Mein Herz macht einen enttäuschten Hüpfer, während mir die Worte von Yanniks Schwester im Kopf herumschwirren. ›Es gibt Tage, an denen ist er unauffindbar.‹

Na toll. Wahrscheinlich werde ich mich ewig fragen, was er mit seiner Nachricht gemeint hat.

»Wer ist da?«

Erschrocken zucke ich zusammen. Mein Puls beginnt zu rasen. Die gedämpfte Stimme kam eindeutig aus dem Bungalow.

Unsicher lehne ich mich vor und presse mein Ohr gegen die Tür. »Yannik?«

Einen Moment lang ist es still.

»Raya?«

Er klingt ungläubig. Und irgendwie ... heiser. Zu meiner großen Überraschung höre ich, wie er von Innen den Schlüssel im Schloss umdreht. Gleich darauf öffnet sich die Tür und enthüllt Yannik – mit zerzausten Haaren, roten Augen und Tränen im Gesicht.

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