achtzehn

there was a thunder inside of my heart

ICH sitze auf dem Fußboden. Der cremefarbene, flauschige Teppich unter mir ist der einzige Gegenstand, den ich aus Australien mitgenommen habe. Ich wollte in Hamburg einen Neuanfang starten. Aber man kann keinen Neuanfang starten, wenn man sich mit alten Dingen beschäftigt.

An jedem einzelnen Möbelstück, das ich in meiner ehemaligen WG zurückgelassen habe, hängen Erinnerungen. Doch ich will mich nicht erinnern.

Meine Hände streichen abwesend durch die Kunstfasern des Teppichs, während ich meinen USB-Stick anstarre. Als würde ich Antworten auf meine Fragen finden, wenn ich ihn lange genug ansehe.

Ich habe den Liedtext genauestens analysiert und bin inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass er nicht von diesem ominösen Paul selbst, sondern definitiv von seinem Bruder, WHY, geschrieben wurde.

Draußen im Flur poltert es. Keine drei Sekunden später reißt jemand meine Zimmertür auf. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich beinahe nach hinten umfalle. In letzter Minute schaffe ich es, mich mit den Händen abzustützen.

Zu meiner großen Überraschung steht ein fremder Junge vor mir. Vielleicht hätte ich meine Tür abschließen sollen, immerhin schmeißt Can gerade eine Party. Unsicher lässt er die Hände in seinen Hosentaschen verschwinden. »Sorry, ich dachte, das wäre das Bad.«

Ich setze mich wieder aufrecht hin und verschränke die Arme vor der Brust. »Eine Tür weiter rechts.«

Er nickt und verschwindet im Flur. Doch noch bevor er die Tür hinter sich zuzieht, überlegt er es sich anders und dreht sich wieder zu mir um. »Beschwörst du da gerade jemanden?« Er deutet mit seiner Hand auf den USB-Stick, der noch immer vor mir auf dem Teppich liegt.

Erst jetzt bemerke ich, wie eigenartig die Situation auf ihn wirken muss. Ich sitze alleine mit meinem Datenträger auf dem Fußboden meines Zimmers, während in unserer WG eine Party steigt.

»Nein«, lache ich gezwungenermaßen. »Ich denke nur über etwas nach.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Bei dem Lärm?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Lass sie in Ruhe, Niklas! Sie will deine Büroklammer-Männchen nicht sehen.« Can taucht neben dem fremden Jungen im Flur auf und lehnt sich gegen den Türrahmen meines Zimmers.

»Ich habe sie noch gar nicht danach gefragt!«, verteidigt Niklas sich, doch gegen ein Wort des Gastgebers kann er sich nicht durchsetzen und so räumt er schließlich mit hängendem Kopf das Feld.

Ich winkele die Beine an und lege mein Kinn auf den Knien ab. Dann muss ich lachen. »Büroklammer-Männchen? Das klingt nach einem aufregenden Hobby.«

Can schaut mich mit einem ich-bin-älter-und-weiser-als-du-Blick an. »Glaub mir, das willst du dir nicht antun. Niklas hat sich die letzte halbe Stunde betrunken und seither redet er von nichts anderem mehr.«

»Wow, das klingt ja äußerst spannend«, sage ich mit sarkastischem Unterton. »Offenbar war es keine schlechte Idee von mir, heute in meinem Zimmer zu bleiben und nicht mitzufeiern.« Dann kommt mir plötzlich ein Gedanke. »Apropos nicht-mitfeiern: Wo ist eigentlich Lion?«

Can beißt sich schuldbewusst auf die Unterlippe und zuckt mit den Schultern.

Stöhnend vergrabe ich das Gesicht in den Händen. »Echt jetzt, Ken?« Entstanden ist der Spitzname am Tag meines Einzuges, weil die Möbelpacker Cans Namen nicht aussprechen konnten. Und geblieben ist er, weil er ein Gigolo ist und ›Ken‹ daher hervorragend zu ihm passt.

Mein Mitbewohner verdreht die Augen und fährt sich durch die dunklen Locken. »Ich schätze, ich hab's verkackt, Raya.«

»Schade«, schmolle ich. »Ich mochte Lion.« Er hat die Schüssel zwar auch nie getroffen, aber wenigstens hat er seine Sauerei beseitigt, wenn man ihn darum gebeten hat.

»Ich nicht«, überrascht Can mich mit seinen Worten.

Ich schüttele den Kopf, stehe auf und lege einen Arm um ihn. »Ob ich es wohl noch erlebe, dass du dich auf jemanden festlegst?«

Lachend erwidert er meine Umarmung. Ich kann verstehen, warum die Frauen und Männer auf ihn fliegen, wie die Motten zum Licht. Wenn er will, kann er unglaublich witzig und charmant sein. Außerdem sind seine dunklen, vollen Haare und die leuchtenden, braunen Augen Grund genug, ihm hoffnungslos zu verfallen. Und von seinen Muskeln will ich gar nicht erst anfangen! Aber Can ist erstens nur am männlichen Geschlecht und zweitens an unkomplizierten Schäferstündchen interessiert.

»Dafür müsstest du seeeehr alt werden«, entgegnet mein Mitbewohner belustigt.

Niklas kommt aus dem Bad getorkelt. Als er mich sieht, schenkt er mir ein Grinsen, was ich über Cans Schulter hinweg erwidere.

»Lass mich raten; mit Lion ist es nur vorbei, weil du nicht versucht hast, es zu retten.« Sein ertapptes Grummeln entgeht mir nicht. »Ich kenne dich zwar erst seit knapp zwei Monaten, aber ich weiß trotzdem ganz genau, dass du die Beine in die Hand nimmst, bevor es ernst wird. Ich bin mir sicher, Lion wird es sich noch einmal anders überlegen, wenn du mit ihm redest.«

»Hey, ich habe dich nicht darum gebeten, mich zu therapieren!«, sagt er ernst, aber als er mich von sich drückt, kann ich ein Lächeln auf seinen Lippen entdecken.

»Du hast geradezu danach geschrien«, entgegne ich grinsend. »Und wenn du morgen deinen Rausch ausgeschlafen hast, nimmst du das Telefon in die Hand und bittest Lion um ein Treffen.«

Er öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich bin noch nicht fertig. »Sonst verstecke ich morgen früh das Aspirin.«

Seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. »Das wagst du nicht!«

»Finds heraus«, entgegne ich frech. Genau in diesem Moment öffnet sich Noels Zimmertür und seine hochrote Freundin rauscht in Windeseile an uns vorbei, schnappt sich die schwarzen Doc Martens aus dem Schuh-Meer, das im Laufe des Abends neben der Tür entstanden ist und zwängt eilig ihre Füße hinein.

»Cherry!« Noel hat nun ebenfalls den Flur betreten. Er bleibt einen guten Meter vor ihr stehen, öffnet den Mund und schließt ihn wieder, so als wüsste er nicht, was er sagen sollte.

Nach zwei Monaten höre ich zum ersten Mal den Namen seiner Freundin.

»Du trennst dich von Lion, aber die beiden sind immer noch zusammen«, raune ich Can kopfschüttelnd zu. »Da läuft doch was schief.«

»Hast Recht, Doktor Love«, entgegnet er, während er unseren Mitbewohner mit zusammengezogen Augenbrauen mustert. Noel sieht fertig aus. Seine leuchtend blauen Haare, die ich sonst nur als perfekt gerichteten Irokesen zu Gesicht bekomme, hängen ihm matt in die Stirn. Seine Augen sind von dunklen Schatten gezeichnet. Die schmalen Lippen sind blass und seine Mundwinkel hängen herunter.

»Wenn du nichts zu sagen hast, halt am besten einfach den Mund«, faucht Cherry und knallt im nächsten Moment auch schon die Haustür hinter sich zu.

Wir stehen eine Weile stumm beieinander, während die Partygäste im Nebenzimmer den Refrain von Mi Gente mitsingen.

»Stress?«, stellt Can schließlich eine völlig überflüssige Frage. Natürlich haben die beiden Stress. Das war kaum zu übersehen.

Noel zuckt mit den Schultern. Sein Blick ist stur gen Boden gerichtet, während er mit der linken Hand eine von vielen Ketten, die seine schwarze Hose schmücken, befummelt.

Es ist eigenartig, wie gut ich mich mit Can verstehe, und wie fremd Noel und ich uns sind, obwohl ich die Jungs zur gleichen Zeit kennengelernt habe.

Mein Mitbewohner aus der Punkszene zieht sich meistens zurück, wenn wir da sind. Ich sehe ihn eigentlich nur, wenn wir zur gleichen Zeit aus dem Haus müssen und morgens unser Frühstück zubereiten. Dafür höre ich ihn umso öfter, wenn er mit Cherry streitet. So oft sehen sie sich gar nicht. Wo nehmen sie also den ganzen Zündstoff für die hitzigen Diskussionen her?

Can wirft mir einen vielsagenden Blick zu, dann legt er seinen Arm um Noel und schiebt ihn behutsam auf sein Zimmer. Die Tür fällt wenige Sekunden später hinter ihnen ins Schloss. Die beiden kennen sich seit der Grundschule, und obwohl sie äußerlich unterschiedlicher nicht sein können, verbindet sie innerlich so viel, dass ich glatt etwas neidisch werde. Ich hätte auch gerne eine beste Freundin. Sofort kreisen meine Gedanken um Livi. So waren wir auch mal; unzertrennlich und nah. Vielleicht sollten wir reden. Das Schicksal möchte unserer Freundschaft offenbar eine zweite Chance geben, sonst hätte es uns nach Australien nicht noch einmal zusammengeführt. Warum also sollten wir diese nicht nutzen?

Ganz einfach: Wir sind beide nicht bereit dazu, mit unserer Vergangenheit konfrontiert zu werden. Und eine Aussprache würde genau das bedeuten - Konfrontation.

Seufzend schlürfe ich zurück in mein Zimmer, verkrieche mich in meinem Bett und schnappe mir mein Handy.

Dann erstarre ich.

Vier verpasste Anrufe von Jascha.

Oh nein! Das habe ich in dem Trubel um WHY und mein Musikprojekt total vergessen! Wir wollten uns gestern vor den Vorlesungen treffen und reden. Als wir uns verabredet haben wussten wir noch nicht, dass diese besagten Vorlesungen ausfallen würden.

Hoffentlich denkt er nicht, ich hätte ihn absichtlich versetzt!

Stöhnend vergrabe ich mein Gesicht in den Kissen. Was mache ich denn jetzt?

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