achtundzwanzig
i need you like a heart needs a beat
IN den nächsten zwei Wochen spricht Jascha nicht mit mir. Na ja, sprechen tut er schon. Sehr viel sogar. Nur nicht über Paul. Er hält sogar sein Wort – wir lassen es langsam angehen. Wir treffen uns zwar sehr oft, gehen nach der Uni spazieren, Eis essen, oder schwimmen, küssen uns allerdings kein zweites Mal.
Wann immer wir alleine sind keimt in mir die Hoffnung auf, dass heute der Tag ist, an dem er mit mir reden wird. Doch Jascha blockt ab, sobald sich unser Gespräch auch nur ansatzweise in Richtung seines Geheimnisses bewegt, und der heiß ersehnte Tag kommt nicht.
Und allmählich werde ich ungeduldig. Vielleicht bin ich egoistisch, aber Jascha ist nunmal nicht der einzige, den die ganze Situation belastet. Ich habe so viel über Pauls Tod erfahren. So viel und doch irgendwie nichts. Unzählige Fragen tummeln sich in meinem Kopf. Fragen, die nur Jascha beantworten kann, aber nicht beantworten will.
Trotz meiner aufkeimenden Ungeduld versuche ich weiterhin für ihn da zu sein und seine Verschwiegenheit zu respektieren, denn es ist ganz offensichtlich, dass ihn irgendetwas belastet. Früher oder später wird er reden müssen. Wenn man ihn besser kennenlernt, fallen einem gewisse Dinge auf. Zum Beispiel, dass er jedes Mal aufs Neue panisch zusammenzuckt, wenn sein Handy klingelt. Oder, dass er seine apfelgrünen Augen verdreht, wann immer die Themen Glaube und Gott aufkommen. Und seit neustem bemerke ich auch seine eben erwähnte Anspannung, wenn es um Geheimnisse geht. Kurz gesagt: Jascha hat etwas zu verbergen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich mich nicht geirrt habe. Er muss Pauls Bruder sein. Weshalb sollte er sonst so schreckhaft und unruhig sein?
»Bierchen?« Hanna legt ihre braungebrannte Hand auf meine Schulter, während sie mir mit der Anderen eine Flasche Astra reicht.
Es ist halb zwölf, nachts, und wir stehen im Hof vor ihrem Studentenwohnheim. Ursprünglich wollten wir später noch feiern gehen, doch der Abend in Hannas Wohnung war irgendwie so gemütlich, dass niemand so recht aufbrechen wollte.
Inzwischen haben wir uns allerdings nach draußen verzogen, da eine besonders warme Sommernacht die Temperaturen im Wohnheim auf unmenschlich heiße Grade hat ansteigen lassen.
Dankend nehme ich das Getränk an. Im Gegensatz zu meinen Freunden bin ich wirklich erschreckend nüchtern. Zeit, das zu ändern. In den vergangenen Tagen habe ich eindeutig zu viel nachgedacht. Ich habe das Gefühl, dass ich es damit nur noch schlimmer mache. Je öfter ich mich mit Jascha und seinen Problemen beschäftige, desto besorgter werde ich. Aber ich kann ihn nicht dazu zwingen, mit mir zu reden.
Frustriert setze ich das Bier an meine Lippen und trinke es in einem Zuge aus. Hanna beobachtet mich mit großen Augen.
»Wow«, sagt sie, als ich die leere Flasche auf dem Boden neben uns abstelle.
Ich verziehe das Gesicht. Eigentlich bin ich kein Fan von Getränken mit Kohlensäure, denn ich bekomme meistens Bauchschmerzen, wenn ich sie zu schnell trinke. Doch heute Abend ist mir das egal. Irgendwie bin ich wütend. Wenn Jascha so ungern mit mir über seinen Bruder spricht, warum hat er sich dann überhaupt die Mühe gemacht, meinen Song zu beenden? Niemand hat ihn dazu gezwungen, sich mir anzuvertrauen!
Suchend sehe ich mich um. Ich entdecke meinen Freund auf der anderen Straßenseite. Er unterhält sich angeregt mit Can und Johnny. Ob er ihnen von seinem Geheimnis erzählt hat? Weil er mir den Rücken zugewandt hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als seinen Hinterkopf anzustarren.
Lennart kommt mit einer Flasche Jack Daniels aus dem Keller und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Entschlossen fange ich ihn auf halbem Wege ab, reiße das Getränk an mich und nehme fünf große Schlücke.
Der Alkohol brennt in meinem Mund und ich schneide eine Grimasse, höre aber trotzdem nicht auf, zu trinken.
»Du hast es aber eilig«, murmelt Lennart überrascht, während er mich verwundert beobachtet.
»Ich bin zu nüchtern«, entgegne ich bloß, nachdem ich den letzten Schluck genommen habe, gebe ihm die Flasche zurück und mache mich vom Acker. Weniger nachdenken, mehr trinken, Raya.
Ich weiß nicht, wieso ich plötzlich so wütend bin. Wahrscheinlich verstehe ich bloß einfach nicht, wieso Jascha mir erst sein Herz in Form eines Songs ausgeschüttet hat und nun partout nicht mehr darüber reden will.
Unsicher wie ich bin, fange ich allmählich an zu glauben, es würde an mir liegen. Vielleicht hat er – jetzt wo wir uns besser kennen – gemerkt, dass er mich gar nicht so sehr mag, wie er am Anfang dachte. Vielleicht bin ich nicht hübsch genug, oder ein beschissener Gesprächspartner. Ich überlege. Eigentlich kann ich gut zuhören. Früher haben mich meine Freunde oft um Ratschläge gebeten und mir gesagt, ich wäre ein Ass im argumentieren. Aber früher war früher und heute ist heute. Viele Dinge haben sich verändert. Allen voran ich selbst.
xxx
Später am Abend spaltet sich die Gruppe, wobei mich das nicht sonderlich stört, schließlich habe ich die letzte halbe Stunde damit verbracht, mich alleine in einer Ecke zu betrinken.
Hanna und Julian sitzen dicht nebeneinander auf der untersten Treppenstufe des Eingangs und gönnen sich ein Bier. Livi und Valentina verschwinden gerade Hand in Hand im Wohnheim, um dort auf die Toilette zu gehen. Noel hat sich Mut angetrunken, zur Bushaltestelle am Ende der Straße verzogen und versucht nun seit geraumer Zeit, Cherry auf dem Handy zu erreichen. Seit einem besonders heftigen Streit von vor drei Tagen hat er nämlich nichts mehr von ihr gehört.
Lana und Lennart hocken irgendwo im Gebüsch und tasten gegenseitig ihre Mandeln mit den Zungen ab.
Can, Johnny und Jascha haben inzwischen einige Meter vor mir am erloschenen Einweggrill platzgenommen und zünden sich gegenseitig die Zigaretten an. Obwohl mein Freund ganz in der Nähe ist, oder vielleicht gerade deshalb, bleibt mein trotziger Blick an Yannik hängen. Er sitzt auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf einer Mauer und raucht. Die ruhige und abgelegene Stelle, die er sich zum entspannen ausgesucht hat, scheint mich magisch anzuziehen.
Automatisch sehe ich mich nach Livi um. Noch ist sie nicht wieder aufgetaucht.
Ich fühle mich, als würde ich ein Verbrechen begehen, als ich den geschützten Innenhof verlasse, die menschenleere Straße überquere und schließlich keine Minute später vor Yannik zum Stehen komme.
»Warum rauchst du nicht mit den anderen?«, frage ich, um mich von meinen düsteren Gedanken rund um Jascha abzulenken.
Er zuckt mit den Schultern. »Muss 'n bisschen runterkommen.«
Obwohl ich Yannik genauso lange kenne, wie die anderen, kann ich ihn absolut nicht einschätzen. Anfangs war ich felsenfest davon überzeugt, dass er Livi nicht guttut. Wir haben uns oft gestritten und angeschwiegen, doch seit ich mich nach Johnnys letzter Hausparty für mein Verhalten entschuldigt und ihn nach Hause gebracht habe, verstehen wir uns eigentlich ganz gut. Inzwischen gefällt es mir sogar, mit ihm zu reden. Die letzten Gespräche, die ich in den vergangenen Tagen mit ihm geführt habe, waren locker und witzig. Was er wohl sagen würde, würde ich ihm verraten, dass ich Jascha geküsst und dabei an ihn gedacht habe? Wahrscheinlich würde er bloß mit den Schultern zucken und lachen. Mit ihm wirken alle Probleme irgendwie ... einfach. Und vielleicht ist genau das der Grund, wieso ich mich nun zu ihm gesellt habe. Gott, bin ich betrunken!
Der Alkohol in meinem Blut macht mich leichtsinnig. Darum schwinge ich im nächsten Moment auch schon ein Bein über die Mauer und sitze keine Minute später neben ihm.
Er hat sich einen guten Platz ausgesucht. Auch, wenn wir nicht sonderlich hoch sitzen, können wir das Gelände gut überblicken. Die Straßenlaternen erhellen die weit entfernte Bushaltestelle und den Innenhof des Wohnheims, während die Mauer, auf die wir uns zurückgezogen haben, vom Schatten der Nacht versteckt wird.
»Ich weiß nicht so recht, was ich von den beiden halten soll.« Neugierig folge ich Yanniks Blick, um zu sehen, von wem er spricht. Ich erkenne Lana und Lennart, die sich zwischen den Büschen versteckt innig küssen und muss lachen. »Nun hab dich nicht so. Die sind halt verknallt.«
»Das ist ja das Problem.«
Verwundert hebe ich meinen Kopf, um ihn ansehen zu können. Ist er etwa eifersüchtig? Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Steht er auf Lana? Hat er deshalb die Beziehung mit Livi beendet? Kann man ihr kurzes, ehemaliges Verhältnis überhaupt eine Beziehung nennen?
Er zieht an seiner Zigarette. »Ich mache mir Sorgen um Lennart.«
Erleichtert atme ich aus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Nicht auszudenken was passiert wäre, wäre Yannik wirklich in Lana verliebt! Umso beruhigter bin ich, zu wissen, dass er sich bloß Sorgen um seinen Kumpel macht.
»Weißt du Raya, Liebe ist wie das Meer. Solange du aufpasst, ist alles gut. Aber wenn du leichtsinnig wirst, ertrinkst du.«
Mit offenem Mund und großen Augen starre ich ihn an. Was?
»Jetzt guck nicht so«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Ich kann auch poetisch.« Er begutachtet eine Weile stumm die Stelle seiner schwarzen Boots, an der sich die Sohle vom Rest ablöst. »So ein Scheiß. Und dafür habe ich sechzig Euro bezahlt.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und ignoriere sein Schuh-Problem. »Dann gib mir poetisch, Schreiber«, fordere ich, in der Hoffnung, ihm ein paar weitere Informationen bezüglich seiner Angst um Lennart entlocken zu können.
Yannik mustert mich einen Moment lang überrascht, dann setzt er sich aufrecht hin, räuspert sich und hebt sein Basecap an, um sich durch die dunkelblonden Haare zu fahren, als wäre eine gute Frisur essentiell für einen Zweimann-Poetry-Slam.
»Als ich das erste Mal in deine Augen blickte, glaubte ich, das Universum mit all seinen unzähligen Sternen hätte sich in ihren untergründlichen Tiefen verirrt«, spricht Yannik mit theatralisch verstellter, tiefer Stimme. »Als ich das zweite Mal in deine Augen sah, erkannte ich die Trostlosigkeit und die Einsamkeit, die sie schürten.« Während er redet, wippt die Zigarette, die in seinem linken Mundwinkel baumelt und unbemerkt vor sich hinqualmt, langsam auf und ab. »Als ich das dritte Mal in deine Augen sah, traf mich plötzlich die Erkenntnis. Wie ein Blitz schlug sie in meinem Herzen ein, schüttelte meine Knochen und brachte jede Zelle meines Körpers zum Beben. Die Erkenntnis, dass es nicht deine Augen waren, die einsam waren. Es war bloß das Spiegelbild der meinen.« Er springt von der Mauer und verbeugt sich, als würde ein Millionenpublikum vor ihm stehen, das nur für ihn applaudiert.
Auch, wenn das, was er gesagt hat, eigentlich ziemlich traurig klingt, kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Art und Weise, wie er sich darüber lustig gemacht hat – übertrieben seriös und mit verstellter Stimme – ist einfach urkomisch.
»Und ... beschäftigst du dich auch mit fröhlicher Poesie?«, frage ich, nachdem wir eine Weile gelacht haben.
Er lehnt sich gegen die Mauer und überlegt. Seine Schulter berührt mein Knie, aber ich bezweifele, dass er das überhaupt wahrnimmt. Die betroffene Stelle wird warm und ich muss mich dazu zwingen, sie nicht zu betrachten.
Irgendwann schüttelt Yannik den Kopf. »Ne. Dafür müsste ich fröhlich sein.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Und das bist du nicht?«
Er öffnet gerade den Mund um etwas zu erwidern, da taucht Hanna plötzlich vor uns auf und klopft mir ungeduldig mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Was macht ihr denn hier? Und wieso trinkt ihr nicht? Kommt, Juli und ich haben eine neue Palette Krombacher aus der Gemeinschaftsküche geholt.« Und schon ist sie wieder verschwunden. So schnell, wie sie gekommen ist.
»Ich kann Krombacher nicht ausstehen«, seufze ich, springe aber trotzdem ergeben von der Mauer. Automatisch lasse ich meinen Blick wandern. Livi ist noch nicht zurück.
»Frag mich mal«, höre ich Yannik noch sagen, bevor ich mich schweren Herzens wieder zu den anderen geselle.
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