achtunddreißig

Triggerwarnung
In diesem Kapitel schreibe ich über Mobbing, Selbstverletzung und Suizidversuche. Du kannst diesen Teil einfach überspringen, wenn Du sensibel auf diese Themen reagierst.

don't you know you're queen?

WIR liegen auf meinem Bett und schweigen. Immer noch. Weder die Süßigkeiten, noch die Masken und den Nagellack haben wir bisher angerührt. Meine Schluchzer sind vor gut einer halben Stunde verebbt – seitdem liegen wir stumm in der Dunkelheit und lauschen unseren Atemzügen.

Ich fühle mich irgendwie ... leer. Jetzt, wo ich den Tränen freien Lauf gelassen habe ist es, als wäre da nichts mehr, was übrig geblieben ist. Nichts mehr, das ich geben kann. Doch auf der anderen Seite fühle ich mich auch unglaublich befreit. Der Knoten in meiner Brust, der sich von Tag zu Tag schwerer angefühlt hat, ist endlich geplatzt und ich kann wieder Atmen.

Dennoch will mir diese eine Frage nicht aus dem Kopf gehen. Warum ist ausgerechnet Lana hier? Hätten Hanna oder Livi vor der Tür gestanden, hätte mich das nicht überrascht. Denn Hanna habe ich die Crane-Climbing Geschichte anvertraut und Livi kenne ich seit der fünften Klasse.

Lana wirkte hingegen immer ... unantastbar für mich. Da war diese unsichtbare Mauer zwischen uns, die es einem nicht ermöglicht hat, ihr näher als ein paar Meter zu kommen.

Seit gut zehn Minuten überlege ich, wie ich sie auf ihr überraschendes Auftauchen ansprechen könnte. Ich habe mir die kompliziertesten Sätze zusammengereimt und bin sie inzwischen mehrfach gedanklich durchgegangen, doch alles, was ich letztendlich über die Lippen bringe ist ein schwaches »Wieso?«

Lana sagt eine Zeit lang gar nichts und ich vermute schon, dass sie eingeschlafen ist, doch dann raschelt meine Bettdecke, die Matratze wackelt und wenige Sekunden später geht die kleine Lampe an, die auf meinem Nachtschrank steht.

Ich blinzele, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Meine Lider sind geschwollen und brennen.

»Es hat angefangen, als ich elf Jahre alt war und auf das Gymnasium gewechselt habe«, flüstert sie, als ich schon nicht mehr damit rechne, eine Antwort auf meine Frage zu bekommen. »Erst waren es Kleinigkeiten. Du weißt schon, Schubsen in den Schulfluren, abwerfen mit Papierkugeln, Bücher klauen und verstecken. Die üblichen Scherereien eben.« Ihre Stimme klingt anders, kaum wie ihre. Fast schon ... zerbrechlich. »Aber je älter wir wurden, desto schlimmer wurde es. Sie klauten meine Hausaufgaben, sodass ich nachsitzen musste, und sperrten mich auf der Schultoilette ein.«

Ich setze mich aufrecht hin, um sie besser ansehen zu können. Mein Herz hat schon wieder begonnen, schneller zu schlagen, doch diesmal hat meine Aufregung einen anderen Grund. Ich habe noch nicht ganz durchschaut, was Lana versucht, mir zu sagen, und doch breitet sich allmählich ein ungutes Gefühl in meinem Bauch aus.

»Dann fingen die Beleidigungen an: ›Du willst ein Mädchen sein? Guck dich doch mal an, du siehst aus wie ein Junge!‹, haben sie gesagt und mich dabei mit diesem Blick angesehen, von dem ich noch heute träume.« Sie macht eine bedeutende Pause, in der sie versucht, sich zu sammeln, bevor sie schließlich mit zittriger Stimme fortfährt: »Sie haben mir auf dem Pausenhof die Hose runtergezogen, um zu gucken, ob ich nicht doch einen Penis darunter verstecke. Du musst wissen; ich war schon immer recht groß und dünn für mein Alter.«

Es gibt so unendlich viel, das ich sie in diesem Moment fragen möchte, doch ich traue mich nicht, sie zu unterbrechen. Sie wirkt abwesend. So als fiele sie unglaublich tief, würde ich sie jetzt aus ihrer Seifenblase zerren. Also bleibe ich still.

»Ich war so unfassbar dumm, Raya. Ich habe gewartet und gewartet, weil ich dachte, es würde irgendwann besser werden.« Sie schüttelt den Kopf und lacht heiser. »Natürlich wurde es nicht besser. Weil ich mich nicht wehrte, ließen sie sich immer schlimmere Dinge einfallen, mit denen sie mir das Leben zur Hölle machen konnten. In der achten Klasse ... fesselten sie mich an einen Stuhl und ... und ... « Sie senkt für wenige Sekunden den Blick und atmet hörbar laut aus, bevor sie mir schließlich fest in die Augen sieht. »Sie rasierten mir die Haare ab.«

Ich hänge an ihren Lippen, während sich die ganze Szene vor meinem inneren Auge abspielt, und kann nichts weiter tun, als zu denken, wie unglaublich stark sie ist. Das bildhübsche, selbstbewusste Mädchen, das vor mir sitzt, wurde jahrelang kaputtgemacht. Lana wurde gemobbt. Lana, unsere unverfrorene Einzelkämpferin.

Weil sie nicht mehr weiterredet, werfe ich ihr einen besorgten Seitenblick zu – und ziehe im nächsten Moment scharf die Luft ein, als ich die Tränen sehe, die ihr in aller Seelenruhe über die Wangen laufen.

Mein Herz macht ein Salto nach dem anderen und vielleicht sollte ich etwas sagen. Doch ich bin viel zu überrascht, um auch nur einen einzigen sinnvollen Satz zu bilden. »Hattest du ... hattest du denn ... niemanden? Ich meine ... gab es ... gab es nie eine Freundin, die dich in Schutz genommen hat?«

Lana fängt an zu lachen. »Eine Freundin gab es. Rhea. Aber in Schutz genommen hat sie mich nicht. Sie war die Schlimmste von allen.«

Was?

»Meine beste Freundin war gleichzeitig meine größte Peinigern. Sie war ein furchtbar egoistischer Mensch, doch das habe ich erst so richtig gemerkt, als es schon zu spät war. Am Anfang der Schulzeit, als es noch nicht so schlimm war, haben wir uns ganz gut verstanden. Doch das änderte sich mit der Zeit. Sie sagte mir immer öfter, wie hässlich und maskulin ich doch sei. ›Schneewittchen‹ hat sie mich genannt. ›Kein Arsch und kein Tittchen.‹ Ständig musste ich mir ihre Probleme anhören, aber wenn ich mal etwas auf dem Herzen hatte, hieß es, ich solle mich nicht so anstellen.« Mein Blick wandert zu ihren Handgelenken. Wie sooft ist sie damit beschäftigt, an den Haargummis, die ihre Arme ummanteln, zu ziehen. »Einmal hat sie mir während eines Streits ein Buch ins Gesicht geklatscht. Ich hatte furchtbar Nasenbluten und musste nach Hause gehen. Da dachte ich – und es mag sich vielleicht dumm anhören, doch für mich war es damals das einzig sinnvolle – ich habe sie lieber zur Freundin, als zur Feindin.«

Einen Moment lang ist es still zwischen uns. Ich lausche gebannt meinem rasenden Herzen und warte wie sooft darauf, dass mich jemand weckt und ich diesen schrecklichen Traum so schnell wie möglich wieder vergessen kann. Doch ich wache nicht auf. Stattdessen sagt Lana: »Ich war fünfzehn, als ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen.«

Jetzt bin ich diejenige, die Tränen in den Augen hat. »Oh mein Gott, Lana, du –«

Sie unterbricht mich, indem sie sich aufrecht hinsetzt und in einem Zuge die Haargummis von ihren Handgelenken streift. »Ich habe mir den Wodka geschnappt, den mein Vater von seinen Handballkumpels zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, mich betrunken und mir in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten.«

Je eine lange, waagerechte Narbe ziert die Innenseite ihrer schmalen Handgelenke. Die zwei fleischfarbenen Linien sind ein eigenartiger Kontrast zu ihrer sonst so hellen, cremefarbenen Haut und wirken wie ein Fremdkörper, obwohl sie sich mit den blauen Venen vermischen, die sich wirr durch Lanas Arme ziehen.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch mir fehlen die Worte.

»Ich hatte großes Glück. Meine Mutter ist früher von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hat mich gefunden und einen Krankenwagen gerufen. Ich kam erst ins Krankenhaus und anschießend in Therapie. Zwei Jahre vor dem Abi wechselte ich die Schule und verstand in meiner neuen Klasse zum ersten Mal, was Freundschaft und Zusammenhalt wirklich bedeutet.«

Ich beobachte sie dabei, wie sie mit dem Zeigefinger behutsam die Spur ihrer Narben nachfährt bevor sie sich zusammenreißt und die Haargummis wieder um die Handgelenke wickelt. »Was ich damit sagen will: Ich habe dich in der Hochschule weinen sehen. Ich kenne den leeren Ausdruck in deinen Augen – ich habe ihn jahrelang im Spiegel gesehen.«

Erneut öffne ich den Mund, diesmal mit der festen Intention, etwas zu sagen, doch sie legt ihre Hand auf meinen Arm und bittet mich somit still, abzuwarten.

»Ich weiß, dass du dir nicht das Leben nehmen wirst, Raya. Aber das hätte ich damals auch nicht getan, hätte ich jemanden an meiner Seite gehabt, der mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles wieder gut werden wird. Ich ... ich verlange gar nicht von dir, dass du dich mir anvertraust. Ich möchte ... « Sie holt kurz tief Luft, während sich eine weitere Träne aus ihrem Auge löst und langsam, beinahe wie in Zeitlupe, über ihre Wange rollt. »Ich möchte dir einfach nur ans Herz legen, mit irgendjemandem zu sprechen. Das ist wichtig. Und es wird helfen. Glaub mir.«

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