Kapitel 4 - Jeder blamiert sich so gut er kann


Kapitel 4 – Jeder blamiert sich so gut er kann


19.12.

„Ausrüstung könnt ihr alles leihen, ist kein Problem", erklärte Chris fröhlich beim Frühstück. „Das heißt, wir haben ohnehin schon einiges für euch bereitgestellt, nur wegen Hyunjin müssen wir nochmal gucken. Ich dachte du fährst Ski", wandte er sich entschuldigend an mich.

Ja, verdammt, ich wäre ihm blind jeden Berg hinab gefolgt, wenn mir die Vorstellung, dass er mich alle zehn Meter zusammensammeln musste, nicht vorab schon so beschämt hätte, dass ich gar nicht erst wollte, dass er mich auf der Piste sah. Yeji schien da weniger Bedenken zu haben. Sie hatte aber schon immer mehr Ehrgeiz besessen, was diesen Sport betraf und darüber hinaus hatte sie offenbar auch keine Angst, wie ein Schneetroll zu wirken.

Mom und ihre Flamme diskutierten eifrig diverse Pisten und Abfahrten und waren mit solcher Begeisterung dabei, dass ich den Eindruck gewann, sie waren einfach nur froh, uns los zu sein. Na gut, ließ ich ihr das mal durchgehen und gab ihr keine frechen Worte mit auf den Weg, während wir alle uns kurz absprachen, wann und wo wir uns zum Essen treffen wollten, bevor wir in Kleingruppen lostrabten.

Bereits nach 15 Minuten hatte ich Mom und Joonho aus den Augen verloren. Von Yeji bekam ich nur am Rande mit, wie sie sich mit ihren Skistiefeln plagte, während Jeongin und ich gerade eingekleidet wurden. Und obwohl für Snowboarder genau wie für Skifahrer Helme vorgeschrieben waren, blieben uns diese für den ersten Tag erspart. Entsprechend trug ich also nur eine schwarze Strickmütze und... blinzelte verwirrt, als sich Jeongin leise ächzend neben mich fallen ließ und an seinen Schuhen herumfummelte. Auf seinem Kopf saß eine quietschbunte Pudelmütze mit Bommel. Sie hatte außerdem ewig lange Bänder, die hinabbaumelten und deren Enden mit Quasten verziert waren. Was denn – so wollte er auf die Piste?!

Ich starrte wohl immer noch, als er plötzlich den Kopf hob und mich dabei erwischte. Erst grinste er, dann kräuselte er verlegen die Nase und sein Lächeln geriet schief.

„Was ist?"

Ich konnte nur den Kopf schütteln, aber ich konnte nicht wegsehen und zu allem Überfluss flog mein Blick jetzt wohl auch noch ein weiters Mal über die bonbonfarbene Strickmütze, die auf seinem Kopf saß.

Jeongin strich verlegen über die Quasten der Bänder. „Was? Ist das blöd?" Er wurde tatsächlich rot und oh mein Gott, Yeji hatte recht gehabt, er war wirklich knuffig.

„Ich mochte die Farben", nuschelte Jeongin gerade und ich konnte mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen.

„Nein, alles gut", murmelte ich und konnte es nun doch nicht lassen, hinzufassen und die Mütze auf seinem Kopf geradezuschieben. Da grinste er wieder, sah rasch weg und beschäftigte sich wieder mit seinen Schuhen.

Als wir endlich komplett angefrackt waren, entschlossen wir uns rasch noch zu ein paar Selfies, bevor es auf die Piste ging. Zumindest auf den Bildern – die Snowboards im Arm – sahen wir beide aus wie Vollprofis. Sicher war es klug, das festzuhalten, denn ich war mir ziemlich sicher, dass dieses Image bald die ersten Risse bekommen würde.

Endlich im Schnee sollten wir zunächst erst mal lernen, einfach stehenzubleiben, was lächerlich einfach klang und sich als gar nicht so einfach herausstellte, wenn man mit beiden Füßen an einem Brett festgetackert war und eben nur hilflos wie ein Tintenfisch mit den Armen rudern konnte. Unser Lehrer entpuppte sich als Lehrerin und Hannah erklärte zwar mit einer Engelsgeduld, stellte uns immer wieder aufrecht hin, korrigierte die Haltung, was nur bedingt was brachte, wenn Jeongin vor mir die ganze Zeit kicherte, quietsche, zappelte und mit dem Hintern wackelte, sodass ich ständig ungewollt in Gelächter ausbrach, dabei ebenfalls den Halt verlor und auf den Hintern plumpste.

Wir waren definitiv die Helden in unserem Kurs. Das ganze coole Outfit verlor gänzlich an Wirkung, wenn man vom ständigen Umkippen schon einen nassen Arsch hatte, wie ein Kleinkind. Hielt uns aber nicht auf, noch nicht.

Wild entschlossen, meine bisher unentdeckten Snowboardskills zu präsentieren, gab ich alles – und verlor auch alles. Zweimal das Snowboard, die Mütze so oft, dass meine Haare am Ende ganz nass waren und der Schnee in meinen Kragen rutschte, wo er langsam schmolz und nicht zuletzt meine Würde, als ich es endlich schaffte, die ersten wunderschönen Schwünge zu fahren und ein fröhliches „Jinnie!", von rechts mich aus der Konzentration riss.

„Jinnie!" Erst war es noch heiter und ich hob automatisch den Kopf, dann geschah irgendwie alles gleichzeitig. Das Board stellte sich gerade, die Geschwindigkeit nahm zu und ich verlor zuerst den Fokus, dann die Kontrolle. Das Board ließ sich nicht mehr steuern, alles was ich von Gewicht verlagern gehört hatte, war weg und ich stand immer noch auf dem verdammten Ding!

Das zweite „Jinnie!", klang irgendwie panisch, vielleicht nicht zu Unrecht. Nun, ich glaubte nicht, dass ich wirklich so schnell dran war, also war es womöglich einfach meine eigene Panik die die Kettenreaktion auslöste. Da das verdammte Snowboard plötzlich zum Leben erwacht war, wie der Besen im Zauberlehrling, dabei den Hang hinunterschoss als wolle es sich an mir rächen und ich es wohl auch mit Zaubersprüchen nicht hätte stoppen können, tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich ließ mich fallen.

Das hatte zur Folge, dass meine kopflose Fahrt noch unkontrollierter ad hoc zum Stillstand kam. Ich schlug auf der harten Piste auf, das Board wurde von meinen Füßen gefetzt, überschlug sich und krachte irgendwo neben mir auf den Schnee, wo es sich endgültig hügelabwärts verabschiedete. Ich selbst hatte immerhin noch genug Beschleunigung, um ebenfalls noch zwei wenig elegante Purzelbäume zu schlagen, bevor ich wie eine fette Raupe herumkullerte und schließlich liegenblieb.

Einen Moment rührte ich mich nicht und atmete nur, froh, dass das ohne Probleme funktionierte, bevor ich mich zum Sitzen aufhievte. Mein Herz wummerte wie verrückt und ich fühlte mich ganz benommen. Als ich mich umsah, konnte ich feststellen, dass ich eine Spur der Zerstörung gelegt hatte, in gerader Linie lagen auf einer Strecke von gut und gern zehn Metern, hinter mir meine Handschuhe, meine Schneebrille, meine Mütze und der abgerissene Skipassjojo.

Scheiße.

„Um Himmelswillen – Hyunjin! Ist alles okay?!"

Verwirrt hob ich den Kopf und blinzelte im grellen Gegenlicht in das Gesicht von...

„Chris?", krächzte ich dümmlich.

Der klickte soeben die Bindung seiner Skier auf, im selben Moment stoppte Hannah völlig atemlos neben mir und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Großer Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt, ist alles in Ordnung?"

Und dann kam Yeji angestolpert – warum waren die beiden auch da? – überfiel mich mit einem Wortschwall, den ich gar nicht verstand und hockte dabei neben mir auf Knien und strich mir unablässig durch meine mittlerweile recht feuchten Haare.

Jeongin war der Einzige, der mich einfach nur erschrocken musterte und dabei kein Wort sagte. Er hatte alle meine Sachen eingesammelt und hielt sie krampfhaft fest.

„Es geht mir gut", murmelte ich, wollte aufstehen, doch als ich mich mit der linken Hand im Schnee aufstützte, plumpste ich mit einem schmerzerfüllten Aufschrei wieder zurück.

„Oder..." Fuck! Ich biss die Zähne zusammen und wollte die Finger bewegen, was mir sofort die Schweißperlen auf die Stirn trieb. „... es ist doch nicht alles so ganz in Ordnung. Shit!"

„Was ist passiert?"

„Lass mal sehen."

Beide Skilehrer hockten jetzt neben mir, hatten dazu selbst Yeji verscheucht und Chris war es, der meine Hand behutsam abtastete.

„Tut das weh?"

Er drückte vorsichtig hier und dort und da, während ich nichts anderes tun konnte, als ihn anzustarren. Ob er auch nur im Ansatz ahnte, was er gerade anrichtete?

„Nein." Meine Stimme war ganz rau.

„Und hier?"

Stumm schüttelte ich den Kopf. Lieber nicht sprechen, bevor jeder mitbekam, was los war.

„Und was ist mit bewegen?"

Sehr langsam drückte er meine Finger nach unten und ich ruckte der Bewegung mit einem dumpfen Laut hinterher. Der Schmerz jagte abrupt durch meine Hand und den halben Arm hinauf.

„Shit", hörte ich ihn murmeln. „Hyunjin, das sieht nicht gut aus. Ich glaube du musst ins Krankenhaus und das röntgen lassen."

Was?! Nein! „Aber... ich... bin doch gerade erst...", stammelte ich, da mischte sich auch Yeji ein.

„Denk nicht mal daran. Wenn du dir was gebrochen hast..."

Gebrochen?! Irgendwie wurde mir jetzt schlecht. Ich hatte mir noch nie was gebrochen und ich hatte nicht vorgehabt, ausgerechnet jetzt diese Erfahrung nachzuholen.

„Und wenn ich einfach ein bisschen Eis draufpacke?"

„Nein." Hannah war schon am Handy. „Das geht nicht. Das muss aus versicherungstechnischen Gründen von einem Arzt untersucht werden. Ich informiere das Hotel, die rufen einen Krankenwagen."

„Ich brauche doch keinen Krankenwagen!", begehrte ich auf und kam mühevoll, mit Hilfe von Chris und Yeji, auf die Beine. „Es sind nur meine Finger. Ich kann auch mit einem Taxi..."

„Nein", wurde ich wieder rigoros unterbrochen. „Da geht es um den Versicherungsschutz. Tut mir leid, wir haben unsere Vorgaben."

30 Minuten später saß ich also in einem Krankenwagen, neben mir meine überbesorgte Mutter, die es sich nicht hatte nehmen lassen, mich – ihr armes kleines Baby – zu begleiten und fühlte mich einfach nur dämlich, wie ich da auf der Pritsche hockte. Meine ganze Hand war hübsch eingepackt und Mom warf abwechselnd mir besorgte Blicke zu oder diskutierten mit dem Rettungspersonal. Als könnten die irgendwas an der Situation ändern.

Dass ich mehrfach betont hatte, dass mich niemand begleiten musste, hatte sie nicht interessiert und wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass Yeji nicht auch noch dabei war. Eine ganze Eskorte, für zwei angeknackste Finger oder so.

Am Ende stellte sich heraus, dass ich mir tatsächlich Ring- und Mittelfinger der linken Hand angeknackst hatte, oder auch nur verstaucht. Keine Ahnung. Der Arzt erklärte was von Kapselverletzung, aber da ich ohnehin keine Ahnung von dem allen hatte, zählte für mich eigentlich nur eins: Es war nichts gebrochen, ich brauchte keinen Gips. Mit einem todschicken und ultramodernen Verband mit Schiene, durfte ich also das Krankenhaus wieder verlassen doch auf der Rückfahrt mit dem Taxi, war Mom ungewöhnlich schweigsam. Erst als wir bereits fast am Hotel waren kam jedoch auf, welche Gedanken sie umtrieben.

„Ich werde Yeji sagen, dass sie dir packen helfen soll und morgen nach dem Frühstück fahren wir nach Hause."

Es dauerte einen Moment, bis ich auch begriff, dann ruckte mein Kopf herum und ich starrte sie völlig entgeistert an.

„Nach Hause? Aber – warum denn?"

Entrüstet wandte sich meine Mutter mir zu. „Ja glaubst du denn wir genießen hier fröhlich jeden Tag unseren Skiurlaub und ich lasse dich den ganzen Tag allein im Hotel sitzen?"

Ich verstand es echt nicht. „Ja und warum jetzt nicht? Ich bin doch keine Acht mehr. Ich werde mir nicht die Augen aus dem Kopf heulen, weil niemand da ist. Mom! Komm schon! Du hast dir das so sehr gewünscht und es sind doch nur ein paar Tage. Ich komm schon klar." Ich grinste. „Ich hab ein Handy, WLAN, ich werde garantiert nicht vereinsamen."

„Du wirst dich langweilen."

Da hätte ich beinahe prustend gelacht, stattdessen fügte ich todernst an. „Aber unten im Aufenthaltsraum ist eine Bücherwand. Ich kann mir wir was zu lesen holen, mich in die Sonne setzen..."

Meine Mutter sah mich skeptisch an. „Ich kann gerade nicht sagen, wann ich dich das letzte Mal mit einem Buch gesehen habe. Ich meine, richtige Bücher, ohne Bilder, keine Mangas."

Da war was dran und ich grinste spitzbübisch. „Aber in die Sonne setzen kann ich mich trotzdem und... Mom, ernsthaft. Ich will nicht, dass du das hier abbrichst wegen mir. Und Yeji hat doch auch Spaß, also machen wir keine große Sache draus, okay?"

Sie seufzte, atmete tief durch, dann nickte sie langsam. „Na schön", sagte sie und lächelte angespannt. „Ich überlege es mir und ich spreche noch mit Yeji, was sie dazu sagt."

Damit erklärte ich mich erst mal einverstanden, zückte aber sofort mein Handy und schrieb eine SOS Nachricht an meine Schwester, deren Inhalt so knapp wie möglich das Wichtigste zusammenfasste. Egal zu was Mom dich überreden will – sag nein. Ich war mir sicher, dass meine Schwester, sobald unsere Mutter auch nur einen Satz gesagt hätte, sofort wissen würde, was ich meinte.

Zurück am Hotel, warteten Joonho und Jeongin bereits auf uns, sie waren es auch, die uns mitteilten, dass Yeji und Chris nochmal mit der Gondel hochgefahren waren.

„Für eine letzte Abfahrt", erklärte Joonho lächelnd und ich fragte mich unwillkürlich, ob er echt so gutgläubig war. War doch immerhin sein Schlitzohr von einem Sohn, der da gerade mit meiner Schwester abgetaucht war. Okay, vielleicht nicht abgetaucht, aber – na, er wusste auf alle Fälle, wie man unter dem Radar der Eltern blieb.

Mein Blick huschte vom Onkel zum Neffen und ich musste feststellen, dass der Kleine mich beobachtet hatte. Jetzt zuckte jedenfalls seine Augenbraue und ich wusste, er hatte es verstanden. Passte mir nur irgendwie auch nicht. Unbehaglich trat ich auf der Stelle, dann wandte ich mich an meine Mutter. „Ich bin im Zimmer okay? Ich will endlich duschen, ich hab noch den halben Berghang in den Klamotten."

„Okay", sagte sie, strich über meinen unverletzten Arm und betrachtete mich wieder so mütterlich-besorgt. Herrje. „Aber pass mit deinen Fingern auf..."

Ich warf ihr einen warnenden Blick zu und sie verstummte. Wir hatten das schon vor Jahren geklärt, dass ich ihr zwar immer noch das Privileg einräumte, dass sie mich Jinnie-Schatz nennen durfte, aber niemals und unter keinen Umständen vor anderen! Sie war meine Mutter, sie würde mich bis auf die Knochen blamieren. Aber scheinbar hatte es gewirkt, denn jetzt nickte sie mir nur zu ich solle gehen.

Ich holte den Schlüssel an der Rezeption ab, ging zu meinem Zimmer und war froh, als ich endlich allein war. Wenn Yeji also wirklich noch mit Chris unterwegs war, würde es sicher noch eine Weile dauern und ich konnte mal durchatmen und ganz für mich grübeln, duschen, ohne Rücksicht auf andere.

Am Ende war ich dann doch eher genervt, weil ich so einarmig richtig Probleme mit meinen Klamotten hatte und schon ewig brauchte, bis ich mich endlich ausgezogen hatte. Duschen und dabei die Schiene nicht ins Wasser halten ging gerade noch so, abtrocknen war schon wieder eine Herausforderung. Wie ätzend. Ich schlüpfte in den Hotelbademantel, rubbelte genervt mit einer Hand meine nassen Haare, als es an der Tür klopfte.

Yeji. Na wenigstens war ich schon halbwegs fertig, auch wenn sie sich wieder elend über das Chaos aufregen würde, dass ich im Badezimmer hinterlassen hatte. Zumindest hatte ich heute dafür eine Entschuldigung.

Ich rief „Moment!", tappte in Hotelschlappen und Bademantel zur Tür, wobei ich immer noch mit dem Gürtel kämpfte. Dann riss ich die Tür auf, die nassen Strähnen rutschen mir ins Gesicht und ich strich sie zurück, bevor ich erkannte, wer dort wirklich stand.

Dümmlich starrte ich auf Jeongin, der nervös vor meiner Tür herumtippelte und dessen Blick zuerst über meinen Bademantel und dann überall hinhuschte, weil er wohl vor Verlegenheit nicht wusste, wo er hingucken sollte.

„Oh", machte ich.

„Hi", kiekste Jeongin. „Ich... hab deine Sachen?"

Dabei drehte er all mein Zeug, dass ich auf dem Hang verloren hatte, krampfhaft in den Fingern. Seine Worte hatten trotzdem wie eine Frage geklungen.

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