Magnus und Alexander und die Tücken des Alltags
Nicht Alexander suchte einen Weihnachtsbaum für das bevorstehende Fest aus, sondern ich. In Begleitung seines Schwagers, unter neugierigen Blicken und einem brüderlichen, Schulterverabschiedungsklopfen. Nachdem Alexander und ich uns minutenlang schweigend ansahen, sanfte Küsse austauschten und einfach den letzten Moment genossen, setzte er mich irgendwann in das versprochene Taxi. Der freundliche ältere Herr wechselte ein paar schnelle Worte mit meinem Freund, sprach über seinen Sohn und den Heilungsprozess des malträtierten Handgelenkes und brachte mich dann auf direktem Wege zum Restaurant von Alexanders Schwager. Raphael war leicht irritiert als er mich sah, erkannte aber bald worum es ging und winkte mich in das warme Innere seines schicken Restaurants. Das Alexander unerwartet einen Anruf vom Krankenhaus bekommt ist nicht ungewöhnliches.
Auf unserem Weg durch die verschneiten Straßen erzählte er von einigen Begebenheiten, in denen ein Anruf den Abend abrupt enden ließ oder auch erst gar nicht stattfand. Alexander ist Arzt mit Leib und Seele, das Wohl seiner Patienten liegt ihm am Herzen. Er gibt immer hundert Prozent, ist geschätzt bei den Kollegen, die Schwestern und Pfleger arbeiten gerne mit ihm zusammen. Raphael hatte einiges zu berichten. Über ihren gemeinsamen Trip nach Indonesien, wie sie um Jace bangten jedesmal wenn er zu einem Einsatz über den Ozean musste. Charlotte nach einer gefühlten Ewigkeit und einem raschen Kaiserschnitt endlich im Kreise der Familie begrüßen konnten. Raphael redete viel, übers kochen, das Essen in Indonesien, das kalte Wetter in New York und wie sehr er es hasste diesen monströsen Weihnachtsbaum jedes Jahr aufs neue in Alexanders Appartement zu schleppen. Erschrocken sah er mich an, versuchte eine geeignete Rechtfertigung zu erstammeln und ich versprach ihm nichts zu verraten. Erleichtert klopfte er mir auf die Schulter und sagte: "Du bist in Ordnung Magnus. Endlich mal jemand der Alec zum Lächeln bringt. Das habe ich vermisst. Und dieses Baumgeschleppe mache ich nur für meine bezaubernde Frau und ihren charmanten Bruder. Sie lieben Weihnachten und es bringt sie ihren Eltern näher. Weißt du das die beiden schon lange verstorben sind?" Ich nickte und erzählte ihm kurz von unserem Date. Keine Details, nur das wir auch über unsere Familien sprachen und einen wirklich tiefen Einblick in die Vergangenheit des jeweils anderen bekamen.
Das Grinsen welches ich seit Alexanders Worten auf meinem Gesicht trug wollte einfach nicht verschwinden. Raphael entging dies nicht und so wurde unser Ausflug in den Wald ein paar Straßen von Alexanders Appartement entfernt ein wahres Erlebnis. So viele Bäume. Klein, groß, noch größer. Dicker Stamm, spitze Nadeln, dünner Stamm und krumm wie eine Banane. Nachdenklich gingen wir zwischen den verschiedenen Bäumen hindurch. Analysierten gemeinsam, verwarfen synchron eine windschiefe Tanne und als ich schon glaubte, Alexander enttäuschen zu müssen, stand er plötzlich vor mir. Dunkles duftendes Tannengrün, dichter Bewuchs, verzweigte Äste und kerzengerade. Das war er. Ein Weihnachtsbaum wie er im Buche stand, wunderschön und kraftvoll. Spätestens da freute ich mich auf die geschmückte Pracht, die glitzernden Lichtpunkte und farblich abgestimmten Kugeln. Zuckerstangen und ein Stern auf der Spitze des Baumes. Raphael seufzte als er die kleinen Herzchen in meinen Augen sah. Der Baum hatte ein beachtliches Gewicht, eine stattliche Größe und ermöglichte mir einen kleinen Moment der Schadenfreude. Raphael fluchte auf spanisch, ich verstand nicht ein Wort. Doch nach Beendigung seiner Attacke dem Baum gegenüber sah er mich an und nickte. "Er ist perfekt. Aber du hilfst mir dabei das Ungetüm in die Wohnung zu bekommen. Ich hoffe Alec hat den Ständer bereits hingestellt. Dann können wir das Ding gleich zum aushängen aufstellen und ich muss ihn mir erst wieder geschmückt ansehen."
"Aber natürlich", antwortete ich fröhlich und so kam es, dass zwei nicht gerade große starke Männer einen gigantischen Tannenbaum durch die Straßen von New York schleppten. Wir schwitzten und keuchten, Raphael fluchte und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen als der Baum endlich an seinen für ihn vorgesehenen Platz stand. Ich ging in die Küche, setzte Wasser auf, angelte zwei Tassen aus dem oberen Schrank und entschied mich für zwei Beutel fruchtigen Kirschtee statt Ingwer. Raphael beobachtete mich skeptisch. Ich spürte seine Blicke in meinem Rücken, aber er sagte nicht ein Wort. Der Anblick eines anderen Mannes welcher wie selbstverständlich in Alexanders Küche hantiert ist sicher ein seltener Anblick. Zumindest wenn ich dem Glauben schenke, was Alexander mir erzählt hat. Höflich bedankte er sich als ich ihm die dampfende Tasse entgegen hielt. Auch wenn die Schwere des Baumes und der Weg bis zu seiner Pracht unsere Leiber ziemlich erhitzte, so ist eine heiße dampfende Tasse Tee doch immer eine Wohltat. Ich hoffte Raphael sah das genauso. Oder trank er lieber Kaffee? Doch bevor ich ihm diese Frage stellen konnte, richtete sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich und dem schillernden Mal auf meiner Stirn.
"Was ist passiert? Als ihr gestern Abend das Restaurant verlassen habt, hattest du noch kein Pflaster", fragte er interessiert und ich stöhnte genervt.
"Ein Laterenpfahl hatte mich gern", war meine knappe Antwort und Raphael unterdrückte ein Lachen. Die Lippen fest aufeinander gepresst, das Beben seines Körpers zeigten das Scheitern seiner Bemühungen.
"Na los. Lass es raus. Ich habe das Einhorn Rosi getauft. Sag hallo Rosi." Und für Raphael gab es kein Halten mehr. Er prustete, hustete und verschluckte sich fast an seinem Lachen.
"Rosi?", fragte er und nun lachte auch ich.
"Ja Rosi. Rosi ist super lieb und begleitet mich ab sofort überall hin. Alexander findet es heiß", antwortete ich und ab da war das letzte Eis zwischen uns gebrochen. Eine Weile saßen wir in Alexanders Appartement und redeten, tranken Tee und ich bedankte mich für das äußerst wohlschmeckende Essen.
"Das Essen war sehr gut. Ich wollte mich noch bei dir dafür bedanken. Das ist nicht selbstverständlich", sagte ich und Raphael machte ein Handbewegung welche ich schon öfter gesehen hatte, aber nicht richtig einordnen konnte. Es sah aus, als würde er ein Insekt vertreiben.
"Kein Problem. Das habe ich gerne gemacht. Ich wusste das Alec jemand besonderen kennengelernt hatte. Izzy hat es mir erzählt. Alec rief mich an, bat um einen Tisch für ein Dinnerdate und erzählte mir, dass du aus Indonesien stammst. Das versetzte uns sogleich zurück in eine so weit zurückliegende Zeit. Wir schwelgten in Erinnerungen und ich bekam unheimlich Lust mal wieder indonesisch zu kochen. Es war also Zufall, dass ich alle passenden Zutaten im Restaurant hatte."
"Ich glaube nicht an Zufälle. Das sollte so sein. Und ohne es zu wissen, hast du mein Leibgericht gekocht. Das erinnerte mich an meine Heimat und die Vergangenheit. An Familienessen bei meinen Großeltern und wie sehr mir das alles doch fehlt", sagte ich seufzend und versank für einen kurzen Moment in der Vergangenheit. Ich sah Bilder vor meinen Augen ohne Hilfe eines Fotos, roch Gewürze und den Regen, fühlte die Hitze des Sommers und spürte die Geborgenheit meiner Eltern.
"Alles okay Magnus?", fragte Raphael vorsichtig. Seine Hand lag beruhigend auf meinem Unterarm und ich fühlte eine feuchte salzige Träne über meine Wangen laufen.
"Ich habe meine Familie seit zwei Jahren nicht gesehen", sagte ich. Warum ich ihm das erzählte? Ich weiß es nicht. Und es war auch nicht wichtig. Raphael verstand mich und erzählte mir, dass sein Vater in Spanien lebte und er ihn nur selten sah. Seine Mum dagegen war sehr präsent und Izzy das eine oder andere Mal kurz vorm durchdrehen. Wieder verfiel er in einen Redeschwall, erzählte von seiner Befürchtung, dass seine Mum das baldige Enkelkind mit ihrer Liebe erdrücken wird, Izzy dann wohl oder übel schreiend das Weite suchen wird und plötzlich stockte er. Ich lächelte und freute mich sehr für die beiden.
"Das darfst du niemanden erzählen. Noch nicht mal Alec weiß davon. Es ist noch zu früh. Izzy ist Hebamme und leicht paranoid seitdem sie es weiß." Ich gab ihm mein Versprechen es für mich zu behalten und Raphael entspannte sich wieder. So verging der Tag und Raphael verabschiedete sich irgendwann um hungrige New Yorker mit seinen kulinarischen Köstlichkeiten zu begeistern. Ich stand unschlüssig in einem fremden Appartement, starrte minutenlang auf den Weihnachtsbaum und dachte darüber nach ob ich bleiben oder gehen sollte. Ich entschied mich zu gehen, nachdem ich unsere benutzten Tassen abspülte und einen Zettel für Alexander hinterließ.
Die Tage vergingen schleppend, waren vollgestopft mit schweißtreibender Arbeit, viel zu raschen Abgabefristen und absolut keine Zeit um meine jungfräuliche Beziehung gebührend zu würdigen. Alexander und ich telefonierten jeden Abend und schrieben kurze Nachrichten. Immer dann wenn es seine Zeit ermöglichte. Die Schichten im Krankenhaus sind lang, folgen keinem Zeitplan sondern den Bedürfnissen der Patienten. Eine lebensnotwendige Operation forderte seine gesamte Aufmerksamkeit und leider auch unsere Verabredung für einen romantischen Besuch im Kino. Das Popcorn schmeckte fad und öd, die Cola war zu warm und der Platz neben mir gähnend leer. Seufzend ließ ich die zusammenhanglose Story über mich ergehen. Es war mir egal ob die schlecht gefärbte Blondine ihren besten Freund davon überzeugen konnte nicht die verhasste Cheerleaderqueen aus der Highschool zu heiraten. Ebenso interessierte es mich herzlich wenig was auf einem Junggesellenabschied in Las Vegas geschah und ob die Mutter des Bräutigam mit ihrem viel zu jungen Lover auf der Hochzeitsfeier Sex hatte oder nicht.
Alexander hatte den Film für uns ausgesucht. Ich langweilte mich zu Tode, sah mich im dunklen Kinosaal um, hörte leise Stimmen und das eine oder andere schmatzende Geräusch. Irgendwann dämmerte es mir, der Film war so grottenschlecht und die Paare zum rummachen hier. Beschämt sank ich tiefer in den Sitz, nahm mein Handy zur Hand und schrieb Alexander eine Nachricht. Es dauerte keine zwei Minuten und ein lautes Piepen durchdrang die Stille. Auf der Leinwand vor mir war soeben Todenstille eingekehrt als eine aufgelöste Blondine keuchend und mit hochrotem Gesicht in die Kirche stürzte. Der Bräutigam sah erschrocken, die Braut wütend und der Pfarrer genervt aus. Ich hatte die Aufmerksamkeit des Paares vor mir und der bärtige stämmige Mann sah alles andere als begeistert aus. Als wenn es ihn gestört hätte, dass mein Signalton den Film unterbricht. Seine Begleitung kicherte und nahm sogleich seine Lippen in Beschlag. Ich weiß nicht wie der Film endete, denn ein Blick auf das leuchtende Display genügte um meinen trägen Leib aus dem Kinosaal zu befördern. So schnell mich meine Beine trugen sprintete ich in die nächstgelegene U-Bahnstation und saß dreißig Minuten später in einem kleinen Cafe mit schummrigen Nischen, gedämpftem Licht und jede Menge Kaffeeverschlingenden Blaukitteln, gegenüber des Krankenhauses.
Zu meinem Leidwesen gab es keinen Ingwertee, die Bedienung war schlecht gelaunt und aus den Boxen über mir dudelte Countrymusik. Ich fand das mehr als verstörend, in einer Stadt wie New York war es das letzte was ich zu hören vermutete. Auch passten die weißen Spitzendeckchen und die kleine Vase mit einer einzelnen Blume darin nicht zur ausgewählten Musik. Die Karte war überschaubar, nichts außergewöhnliches aber ich erinnerte mich daran, dass Alexander mir zwei Tage vorher von diesem Cafe erzählte. Die Inhaber, ein Ehepaar im höheren Alterssegment, legten Wert auf einen freundlichen Umgang und das immer genügend frisch gebrühter Kaffee für das Personal des Krankenhauses zur Verfügung stand. Aber auch verängstigte Angehörige mit den Nerven ziemlich nah am Rande eines Zusammenbruchs waren gern Gesehene Gäste. Nach seiner Aussage hatten sie immer ein offenes Ohr für jeden, Kaffee so schwarz wie die finsterste Nacht und den leckersten Käsekuchen der Welt.
Seine Erzählungen passten so gar nicht zu der Bedienung welche Kaugummikauend und gelangweilt mit der Spitze ihrer rotlakierten Krallen auf den kleinen Block in ihren Händen hämmerte. Ihre Haare erinnerten mich an die arme Schauspielerin welche so verzweifelt um die Liebe eines anderen Mannes bettelte. Blonde Locken unrahmten ein rundliches Gesicht. Ihren blauen Augen fehlte jegliche Leidenschaft und das grelle Make-up blendete mich wie der erste Sonnenstrahl des Tages einen aus dem Schlaf reißt. Schade, sie war ein hübsches Ding. Aber die enge rot-karierte Bluse spannte so dermaßen über ihrem üppigen Busen und mit den blauen Shorts passte sie eher zu einem Rodeo in Kentucky als in ein New Yorker Cafe. Das arme Kind wirkte so Fehl am Platz und ich erlöste sie aus ihrer Warterei. Kurzerhand entschied ich mich für eine heiße Schokolade mit Sahne und einem Stück Käsekuchen. Es dauerte nicht lange und ein ziemlich müde wirkender Alexander setzte sich an den kleinen Tisch, zog mich stürmisch in eine feste Umarmung und murmelte tausende entschuldigende Worte.
Ich hatte Alexander schon längst vergeben, genoß seine Nähe und den letzten Hauch des Shampoo welches in seinen chaotischen Haaren verweilte. Der Geruch nach Meer und Alexander vernebelte mein Denken und das wir uns in einem sanften Kuss befanden nahm ich wie durch einen Schleier war. Ich fühlte mich leicht, umgeben von flauschig weichen Wolken, einer sanften Brise welche kitzelnd meine Haut liebkoste. Doch es waren Alexanders Lippen auf meinen, seine Finger welche zärtlich über die Muskelstränge meines Halses streichelten. Das Blut rauschte in meinen Ohren, ein leises Keuchen verließ meinen Mund, vermischte sich mit Alexanders heißen Atem als seine Zunge die meine umschlang. Rasch breitete sich die Erregung aus, nahm mich gefangen und wie ein Ertrinkener klammerte ich mich in den blauen Stoff seines Oberteil. Drei Tage hatten wir uns nicht gesehen, drei Tage welche für unsere frische Liebe unendlich lang waren.
"Hi", hauchte Alexander gegen meine Lippen als er zu meinem Bedauern unseren Kuss löste. Verträumt blickte ich in seine Augen, sah das strahlende Blau und die funkelnden Lichtpunkte. Wortwörtlich schmolz ich in seiner Umarmung und den allesverschlingenden Iriden.
"Selber hi", antwortete ich. Alexander platzierte einen kleinen Kuss auf meine Nasenspitze und sofort schoß Hitze durch meinen Leib. Das klappernde Geräusch von Porzellan auf Porzellan und die süßlich klebrige Stimme der Bedienung verwandelte unsere Wolke in steinharten Beton.
"Hallo Alec. Schön dich zu sehen", säuselte sie und höflich wie mein Freund nunmal ist, drehte er sich ihr zu und lächelte freundlich.
"Hallo Heidi. Bringst du mir bitte einen Kaffee? Schwarz?"
"Aber natürlich. Noch mehr von den heißen Sachen? Oder etwas Süßes?" Ihre Stimme triefte vor gespielter Erotik, die Tatsache das Alexander noch vor zwei Sekunden seine Zunge tief in meinem Mund hatte ignorierte sie einfach. Übelkeit überkam mich, wurde begleitet von heißem Zorn als ihr Zeigefinger langsam über Alexanders Unterarm strich. Der Lack auf ihrem Nagel erinnerte mich an blutiges rot, die kleinen goldenen Punkte sahen den Kugeln welche zur Dekoration im Schaufenster hingen verdammt ähnlich und am liebsten hätte ich ihr den Hals umgedreht. Schon der zweite Mensch der ungeniert mit meinem Freund flirtete. Er ist ein schöner Mann, keine Frage. Aber muss es ausgerechnet in meiner Gegenwart sein? Warum passiert uns das? Was ist mit den Menschen in New York los, dass sie den Körper meines Freundes als Spielwiese ansehen?
"Lass das bitte Heidi. Ich bin schwul. Und es ist meinem Freund gegenüber nicht fair", sagte er in einem strengen Ton und der lüsterne Blick in ihren Augen verwandelte sich in Zorn und Abscheu. Diese richtete sich allerdings gegen mich. Wütend funkelte sie mich an, knallte den Teller mit dem köstlich duftenden Stück Kuchen auf den Tisch und legte einen ebenso dramatischen Abgang wie der schmierige Kellner hin. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihre langen Haare verdächtig nah an Alexanders Gesicht entlang streiften.
"Wow. Ich dachte der Kellner deines Schwagers ist unfreundlich. Aber sie toppt alles", sagte ich und blickte der schlechtgelaunten Bedienung hinterher. Schmollend machte sie sich daran eine große Tasse mit auffälligem Muster, tanzende dunkle Schatten auf weißem Grund, unter die gurgelnde zischende Maschine zu stellen. Dampfend floß die tiefschwarze belebende Flüssigkeit in die Tasse. Alexander umfasste mein Kinn, zwang mich ihn anzusehen und musterte eindringlich mein Gesicht.
"Wie geht es dir?", fragte er liebevoll.
"Ganz gut. Ich habe heute meine Projektarbeit zum Winterwunderland abgegeben. Ich hoffe es genügt den Anforderungen meines Professor. Er ist sehr kritisch und ich bin nicht ganz zufrieden mit der Auswahl der Bilder. Jetzt ist es zu spät und egal."
"Was meinst du?", fragte er irritiert. Bei der Auswahl der Bilder war ich noch so euphorisch, doch das änderte sich ziemlich bald als ein Foto meine Aufmerksamkeit erhaschte. Sofort sah die Bearbeitung, Filter, Schattenspiel und Licht. Ein strahlendes Gesicht, ein sanfter Hintergrund und viel zu wenig Zeit um meine Gedanken zu sortieren und diese in der Dunkelkammer umzusetzen. Und da ich keine Zeit mehr hatte um gewisse Personen um ihre Erlaubnis zu bitten die Bilder verwenden zu dürfen, habe ich mich für die sichere Variante entschieden.
"Ich hätte gerne das eine oder andere Bild deiner Familie mit dabei gehabt", sagte ich.
"Wo ist das Problem?", fragte er, bedankte sich nebenbei für den gereichten Kaffee und sah mich abwartend an.
"Ich hätte deine Freundin, wie heißt sie nochmal? Die Mama von deinem Patenkind?"
"Clary", antwortete er.
"Ja genau. Ich hätte Clary um Erlaubnis fragen müssen. Und auch dich und deine Schwester. Es gibt ein wunderschönes Foto von euch zwei. Und eines von den beiden Damen auf dem Eis. Das wäre perfekt gewesen. Stattdessen habe ich mich gegen Menschen und für Objekte entschieden. Auch schön, aber eben nicht perfekt und mein Professor steht auf Perfektionismus", gab ich seufzend von mir und das einzige was Alexander tat war mich sanft zu küssen. Erst das Kinn, dann die Wangenknochen und meine Stirn. Zum Schluss glitten seine weichen Lippen hauchzart über meine geschlossenen Augenlider. Mit flatternden Wimpern empfing ich die Bekundung seiner Zuneigung. Ich seufzte wohlig, erinnerte mich an den Morgen nach unserem ersten Mal und diesmal war es Alexander welcher mir signalisierte, dass alles bestens war.
"Ich bin mir sicher, deine Arbeit ist perfekt", hauchte er gegen meine Lippen und ich grinste.
"Du hast noch kein einziges Foto von mir gesehen. Vielleicht bin ich auch der schlechteste Student den die Akademie je gesehen hat und spiele dir nur etwas vor? Damit der große und geschätzte Doktor Alexander mich nicht fallen lässt wie eine heiße Kartoffel." Etwas unglücklich sah er mich an, ich biss mir verlegen auf die Unterlippe und bereute meine Worte. 'Hält er mich jetzt für einen Betrüger?' Das dachte ich in dem Moment und die wohlige Wärme um uns herum begann sich aufzulösen. Frost zog durch die Nischen des kleinen Cafes. Eine leichte Schicht Eis bedeckte bereits den Boden, kroch unaufhaltsam näher.
"Nein", sagte er, verzog den Mund zu einem zauberhaften was auch immer es für eine Geste war und schüttelte mal wieder energisch den Kopf.
"Dein Professor hält viel von dir", sagte er ernst. Ich starrte ihn an, minutenlang und versuchte seine Mimik zu lesen. Doch es gelang mir nicht.
"Das kannst du nicht wissen", antwortete ich irgendwann schnaubend.
"Er beachtet mich nicht, verteilt nie ein Lob oder auch nur den Funken eines guten Wortes. Ich reiße mir seit zwei Jahren den Arsch auf. Geh zu jedem Seminar, sogar wenn ich krank bin. Und seit dem überaus eklig nassen Wetter in New York weiß nun auch ich wie sich eine Triefnase anfühlt und Husten und Heiserkeit dir die Luft zum atmen nehmen und du das Gefühl hast, jedes schlucken verbrennt deine Kehle. Ich mache alles was er sagt. Lese die Fachbücher. Auch die schlechten. Stehe mir stundenlang die Beine in den Bauch für das perfekte Foto. Meine Arbeiten gebe ich immer rechtzeitig ab. Aber er hat nicht ein Wort mit mir gewechselt. In zwei Jahren nicht. Ich glaube, er weiß gar nicht wer ich bin." Ich war frustriert und traurig. Das Hochgefühl Alexander doch noch an diesem Abend gesehen zu haben war so schnell zerplatzt wie ein Luftballon hoch oben über den Wolken.
"Er findet, du hast ein riesen Talent. Und weißt du woher ich das weiß?" Ich verneinte und war gespannt auf seine Antwort. Woher sollte er meinen Professor kennen? Etwa aus dem Pandemomium? Diesem Schwulenclub in dem mein Freund reihenweise Männern den Kopf verdrehte?
"Ich kenne seine Tochter Cat. Sie ist die gute Seele der Notaufnahme. Und ihr alter Herr schaut gerne vorbei, bringt Donuts und Kaffee mit. Manchmal auch Eis wenn es im Sommer so richtig schwitzig heiß draußen ist. Ich kenne ihn seit drei Jahren. Solange ich hier arbeite. Er ist ein wirklich netter Kerl. Privat. Aber ich weiß, dass er bei den Studenten gefürchtet ist. Nun ist es so, dass er niemanden bevorzugen kann. Daher verhält er sich so neutral wie möglich. Es würde einen schlechten Eindruck machen wenn er immer wieder die gleichen Studenten in den Himmel loben würde. Seine Kritik ist eine Auszeichnung. Denn er will das beste aus euch herausholen. Und vielleicht war er gestern in der Notaufnahme und wir waren in meiner Pause hier im Cafe und ich habe ihm das Christstollenrezept meiner Großeltern verraten. Vielleicht haben wir da auch über meinen Freund gesprochen. Und eventuell erzählte er von einem begabten Studenten aus Indonesien." Ich war überrascht, überwältigt, vollkommen verwirrt. Versuchte seine Worte zusammen zu fügen und irgendwann ergab sich ein für mich stimmiges Bild.
"Meine Noten sind ziemlich gut", sagte ich leise.
"Genau. Weil du gut bist. Und weil der gute Professor Loss über Noten zeigen kann wer Potenzial hat und wer eher bei Familienfotos bleiben sollte. Seine Worte. Nicht meine", sagte er entschuldigend. Wir lachten beide und eine Last viel von mir ab.
"Du hast also auf mein Urteil vertraut. Käsekuchen."
"Wann hast du das Letzte mal etwas gegessen?", fragte ich. Alexanders Sabbern war kaum zu übersehen. Seine Augen funkelten als er das köstliche Stück Kuchen so anmutig vor sich liegen sah.
"Keine Ahnung. Welcher Tag ist heute?" Ich fand die Aussage nicht lustig, er schon. Ich wusste das seine Woche lang und anstrengend war. An manchen Abenden schaffte er es gerade so ein Stück Pizza oder eine Gabel voll Nudeln zu sich zu nehmen bevor er auf dem Sofa einschlief. Der Schneefall und die frostige Glätte auf den Straßen von New York brachten diverse Knochenbrüche und so manche Prellung in die Notaufnahme. Neben den alltäglichen Beschwerden und Unfallopfern eine wahre organisatorische Meisterleistung.
"Na los. Du kannst nicht nur von Kaffee leben. Ich brauche meinen Freund gesund und ausgeschlafen. Und deine Patienten aus." Auffordernd schob ich den Teller näher zu Alexander und prompt kam ein grollendes Geräusch aus seiner Magengegend. Lächelnd verschlang er den Kuchen, seufzte wohlig beim ersten Bissen und auch ich kam in den Genuss der cremig-süßen Köstlichkeit. Wir aßen abwechselnd, Alexander fütterte mich. Die heiße Schokolade schmeckte genauso himmlisch, dunkel und kräftig, vollmundig aromatisch. Viel zu schnell war unsere innige Zeit vorbei. Laut und schrill verkündete der Pieper an seiner Hose den nächsten Notfall. Seufzend blickte er auf das kleine schwarze Teil und entschuldigende Worte floßen schwallartig aus seinem Mund empor.
"Wir sehen uns Heiligabend. Spätestens, okay?", sagte ich und Alexander nickte.
"Ich freue mich drauf. Der Baum ist toll. Ich habe ihn bereits geschmückt. Hoffentlich gefällt es dir."
"Ganz sicher. Ich freue mich auch. Sehr sogar." Alexander verabschiedete sich mit einem zarten Kuss. Ein Versprechen nach mehr zu einer anderen Zeit. Und diese Zeit ist heute, am heiligen Abend.
Nervös stehe ich mit Geschenken bepackt vor der Tür zu Alexanders Appartement. Gedämpfte Musik dringt durch das dunkle Holz, ein vorfreudiges Kitzeln legt sich auf meine Haut. Ich bin aufgeregt, seine Familie ist bereits da und wartet gespannt auf den neuen Freund. Nur Raphael habe ich bereits näher kennengelernt. Für alle anderen bin ich ein Name, eine Erzählung, ein Fremder. Ich hoffe auf das Wohlwollen seiner Liebsten und meinen unwiderstehlichen Charme. Mein aufgeregt schlagendes Herz pulsiert bis hoch in meiner Kehle. Es schnürt mir die Luft ab und ich atme mehrmals tief ein und wieder aus. Eine Panikattacke ist das letzte was ich jetzt brauche und so bringe ich das unvermeidliche einfach schnell hinter mich. Noch bevor mein Finger die weiße Platte der Klingel verlassen hat und das Geräusch verklungen ist, öffnet ein halbnackter Alexander schwungvoll die Tür. Mir stockt der Atem und ich unklammere die Pakete mit der wertvollen Fracht um nicht auf der Stelle über ihn herzufallen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top