Alexander und die Geister der Vergangenheit
Es schneit. Es ist kalt und ich muss dringend auf die Toilette. Aber ich kann meine kleine Maus jetzt nicht alleine lassen. Gleich startet der Wettbewerb um den schönsten Schneemann. Charlotte ist sehr ehrgeizig, dass hat sie von ihrem Vater geerbt. Bereits kurz nach unserer Ankunft im Central Park und der ihnen zugewiesenen Fläche, hat sie die Kinder aus ihrem Team in Gruppen eingeteilt. Wer holt neuen Schnee? Wer formt das gefrorene Wasser zu ansehnlichen und vorallem stabilen Kugeln? Wer sammelt die schönsten Stücke schwarze Kohle aus dem bereitgestellten Eimer? Wer sucht die schönste Möhre aus einem Berg orangefarbigen Gemüses aus? Sie erinnert mich an Jace, wenn er seinen Soldaten Befehle erteilte. Ich schlucke trocken, holt mich die Erinnerung doch ausgerechnet jetzt wieder ein. Diese Zeit des Jahres ist eine der schönsten und mir mit am liebsten. Aber sie ist auch unglaublich schwer, beladen von Erinnerung aus vergangenen Zeiten, welche noch heute schmerzen. Dieser Schmerz wird mich für den Rest meines Lebens begleiten und ich frage mich oft, ob mein Herz jemals wieder lieben wird.
Vor Jace letzten Auslandseinsatz fuhren wir alle gemeinsam in die Nähe von Nirgendwo mitten in die Einöde von Jenseits und verabschiedeten zusammen mit anderen Angehörigen, hunderte Soldaten auf dem Weg in ein neues Einsatzgebiet. Clary, Charlotte, Steven und Celine Herondale, die Eltern von Jace und ich sahen dabei zu, wie die Truppe sich rüstete, Befehle wurden gebrüllt, Soldaten salutierten, die Band spielte die Nationalhymne und wir weinten dicke Tränen. Es war das letzte Mal das wir Jace lebend sahen und er hat nie stärker und anmutiger gewirkt als in diesem Moment. Es war immer schwer ihn gehen zu lassen. Und hätten wir gewusst, dass es ein Abschied für immer ist, wäre er ganz anders ausgefallen. Jedoch können wir nicht in der Zeit zurück reisen und Worte neu formulieren oder Gesten bedeutungsvoller gestalten.
"Hallo Alec", begrüßt mich meine Schwester und vertreibt mit ihrem strahlenden Lächeln sogleich die finsteren Gedanken.
"Entschuldige, aber ich habe es nicht eher geschafft. Die Geburt hat dann doch etwas länger gedauert", rechtfertigt sie ihr zu spät kommen.
"Wichtig ist, dass alles gut gegangen ist", sage ich und ziehe meine kleine Schwester in eine feste Umarmung. Ihr immerwährender Duft nach Jasmin liebkost meine Sinne und ich nehme den Geruch tief in mir auf. Es beruhigt mich und meine Gedanken. Das war schon immer so.
In den letzten Tagen habe ich mich oft dabei ertappt, einen anderen Geruch in meinen Gedanken zu formen. Mit den Bildern eines jungen Mannes, rabenschwarzes Haar, karamellfarbener Haut und wunderschönen geschwungenen Lippen.
"Was ist los Alec?", fragt Izzy und ich verdrehe genervt die Augen.
"Hör auf mich zu analysieren", sage ich ernst, aber es ist zwecklos.
"Du kannst kaum still stehen. Warum bist du so nervös?", fragt sie und ich nutze die Gelegenheit um ihr vom Beginn meines Tages zu erzählen und ein kleines Problem zu lösen.
"Ich war mit meinem Kollegen noch einen Kaffee trinken bevor ich Charlie abgeholt habe."
"Der Hübsche aus der Kinderklinik? Wie heißt er noch gleich? Victor? Ja er heißt Victor", sinniert sie vor sich her ohne auch nur ansatzweise zu bemerken, dass ich noch nicht fertig war. So ist meine Schwester. Kaum rede ich über einen interessanten Typen, verwandelt sich Isabell Santiago in Doctor Love.
"Ich war noch nicht fertig", sage ich gereizt und verschränke meine Arme vor der Brust. Izzy zieht entschuldigend die Schultern nach oben und holt ihren alles erweichenden Hundeblick hervor. Ich seufze und schüttele den Kopf. Sie ist meine kleine Schwester und ich liebe sie.
"Nicht Victor. Er küsst schrecklich. Außerdem habe ich ihn vor einiger Zeit im Pandemonium getroffen.... ach vergiss es. Es war Andrew. Aus der Notaufnahme", sage ich und registriere natürlich ihren fragenden Blick als ich Victor und das Pandemonium erwähnt habe. Es geht sie nichts an was ich mit dem überaus gutaussehenden Kinderarzt an diesem Abend zu bereden hatte. Obwohl reden ihm sehr schwer gefallen ist mit meinem Schwanz in seinem Mund. Und das geht sie erst recht nichts an. Viel zu oft musste ich mir eine Standpauke über mein Verhalten den Männern gegenüber abholen. Ein versehendliches Geständnis im Rausch der Gefühle und vom Wein schwerer Zunge offenbarte ihr ein Geheimnis meiner sexuellen Fantasien. Ich steh unheimlich darauf in der Öffentlichkeit den Schwanz gelutscht zu bekommen. Und damit bin ich nicht allein. Doch das war es nicht, was meine Schwester so erzürnte. Es war die Tatsache, dass ich zur Befriedigung meiner Lust immer einen anderen Kerl im Club oder einer Bar aussuchte.
"Spar es dir Izzy", sage ich streng.
"Ich war mit Andrew einen Kaffee trinken um mich zu bedanken, weil er letztens meine Schicht übernommen hat. Aus einer Tasse wurden drei. Er ist wirklich nett. Nur leider redet er ohne Punkt und Komma. Ich schaffte es gerade so rechtzeitig Charlie abzuholen. Und nun muss ich dringend aufs Klo", sage ich mit leiser werdender Stimme und sehe die Erkenntnis in ihren Augen aufblitzen.
"Oh. Geh ruhig. Ich bleib hier und feuere Charlotte an", antwortet Izzy sanft und ich danke ihr stumm. Manchmal sind keine Worte notwendig. Da genügt schon ein Blick. Und genau das ist es, was ich an unserer Verbundenheit so liebe.
In der Nähe des Wettkampfplatzes steht eine kleine Holzhütte. Weihnachtlich geschmückt mit Girlanden aus sattem Tannengrün verziert mit bunten blinkenden Lichterketten. Dicke Tannenzapfen und weiß-rote Zuckerstangen säumen das dunkle Holz und verströmen weihnachtlichen Glanz. Der Geruch nach Apfelpunsch und gebrannten Mandeln liegt in der Luft. Weiße gefrorene Sternen fallen aus den Wolken. Der Tanz von Schneeflocken begleitet die weihnachtliche Atmosphäre, taucht die Landschaft des WinterWunderLandes in eine einzigartige Schönheit. Ich liebe den Winter.
Hinter der kleinen Hütte befindet sich meine favorisierte Örtlichkeit und ich bin sehr erleichtert, dass gerade kein großer Andrang herrscht. Denn mein Drang ist eindeutig nicht mehr wegzulächeln. Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal, friere mir fast wichtige Organe ab und war selten so schnell von meinem Drang erlöst. Das Wasser aus der provisorischen Leitung ist eiskalt und fast rechne ich damit, dass Eiswürfel aus dem Hahn fallen. Das klackernde Geräusch bleibt aus, stattdessen überdeckt sanftes Plätschern die aufgeregten Stimmen von Charlotte und ihren Mitstreitern. Mit klammen Fingern verlasse ich die Örtlichkeit und reihe mich in die kurze Schlange vor der Hütte ein. Zwei Becher dampfenden Apfelpunsch wandern alsbald in meine Hände und ich beeile mich zurück zu meiner Schwester zu kommen.
"Was habe ich verpasst?", frage ich und halte Izzy einen der herrlich duftenden Becher Apfelpunsch entgegen. Dankbar lächelt sie mich an und ich lasse meine Lippen von der wunderbar heißen fruchtig-zimtigen Note umspielen. Heiß dringt die wohlschmeckende Flüssigkeit in meinen Mund vor, brennt in der Kehle und wärmt die steifen Glieder.
"Nicht viel. Der Startschuss war kaum gefallen, da sind die kleinen Geister wie eine Armee Ameisen ausgeströmt um ihrer zugewiesenen Aufgabe nachzugehen. Charlie macht das echt gut. Ich bin begeistert", antwortet sie und lässt sich ebenfalls den Punsch schmecken. Schweigend sehen wir dabei zu, wie kleine Bälle zu ansehnlichen Kugeln geformt und in Form gebracht werden. Der Ehrgeiz zu gewinnen ist groß. Es geht immerhin darum, einen Tag die Helferelfen von Santa Claus zu sein. Und welches Kind möchte das nicht? In der Mall sitzt jedes Jahr Santa Claus auf einem riesigen Thron aus rotem Samt und goldenen Armlehnen. Umgeben von echten Tannenbäumen geschmückt mit allem möglichen Glitzerwerk und einer Decke aus Kunstschnee. Zwischen den Bäumen lugt ein neugieriges Rehkitz hervor und die Mutter steht mit Argusaugen beschützend hinter ihrem Kind. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um echte Tiere. Aber die Szenerie ist wirklich traumhaft und jedes Kind der Stadt darf sich zu Santa auf den Thron setzen und von seinen Wünschen erzählen. Das hätte ich mir als Kind auch gewünscht.
Wie jedes Jahr darf eine Klasse an den Wochenenden vor den Weihnachtstagen, in das begehrte Elfenkostüm schlüpfen. Zwölf Geister hüpfen alsbald aufgeregt in dunkelgrünen Kleidern mit roten Verzierungen und klingenden Glöckchen auf den spitzen Schuhen um Santa Claus herum und erleuchten mit ihrem glockenhellen Lachen die Dunkelheit so manch trister Dezembertage. Seit Wochen spricht Charlotte von nichts anderem. Seit meinem Umzug nach New York nehme ich mir einen Tag im Dezember frei und verbringe diesen mit meinem Patenkind in der Mall. Wir kaufen Geschenke, essen Waffeln, trinken eine heiße Schokolade und besuchen Santa Claus. Wie jedes Kind erzählt auch meine Kleine dem freundlichen älteren Herr ihren größten Wunsch. Dann sehe ich die Traurigkeit in ihren Augen und das aufmunternde Lächeln eines überforderten Erwachsenen. Und in solchen Momenten wünsche ich mir einen starken Partner an meiner Seite der stumm meine Hand hält und mir mit einem sanften Kuss zeigt, dass alles wieder gut wird.
Seufzend und mit Wärme im Herzen sehe ich dabei zu, wie aus Tonnen voll gefrorenen Wassers und kleinen flinken Händen ein prachtvoller Schneemann entsteht. Viele Eltern sind erschienen und feuern ihre Kinder an. Nur Izzy und ich sind still, beobachten jeden Handgriff akribisch und drücken alle Daumen die wir haben. Kohlestücke finden ihren Weg in die weiße Kugel und eine wunderschöne Karottennase vervollständigt das Bild. Letzte Feinarbeiten werden vorgenommen und meine Schwester beginnt plötzlich wie wild an mir zu zerren. Verwirrt blicke ich zu ihr hinunter und verdrehe stöhnend die Augen. Dieses aufgeregte Funkeln in den braunen Augen meiner Schwester kenne ich zur Genüge. Es ist noch keine zwei Stunden her, dass sie mich so ansah. Nämlich als ich begann von Andrew zu erzählen.
"Was ist los Izzy?", frage ich genervt und hoffe so ihrem Drang nach Verkupplung zu entkommen.
"Wie spontan bist du?", fragt sie und mein ratloser Blick sagt hoffentlich mehr als tausend Worte.
"Wie Alec?"
"Ich habe keine Ahnung was du von mir willst?", antworte ich und nun ist es meine kleine Schwester die stöhnend die Augen verdreht.
"Ich habe dich beobachtet. Immer wenn dieser Typ hier auftaucht bist du gedanklich in einer anderen Welt", sagt sie. Ich habe keine Ahnung wovon sie redet. Typ? Welcher Typ? Es gibt nur einen Mann der meine Gedanken beherrscht und der Zufall wäre schon sehr groß. So etwas passiert im realen Leben nicht. Das gibt es nur in Hollywood-Filmen oder Kitschromanen von Hobbyautoren.
"Du kannst mir nichts vormachen. Ich habe genau gesehen wie du ihn angeschaut hast. Am Abend als Charlotte im Chor gesungen hat. Und als wir Eislaufen waren auch. Du konntest den Blick nicht von ihm nehmen und hast regelrecht gestarrt. Mein Rufen hast du entweder nicht gehört oder ignoriert. Ich tippe auf Ersteres. Erst als Charlotte in deine Arme sprang bist du aus deiner katatonischen Starre erwacht. Zweimal", beantwortet Izzy meine Frage und jetzt verstehe ich worauf sie hinaus will. Wir haben nicht darüber geredet. Jedoch hat Doctor Love sofort gecheckt wie der Hase und vorallem in welche Richtung er läuft.
"Ich weiß nicht wovon du redest", sage ich ausweichend und sehe mich unauffällig um. Mein Blick gleitet suchend über die Menge aus Eltern und Zuschauern und bleibt bei dem Gesicht aus meinen Träumen hängen. Da steht er. Mit seiner Kamera in der Hand und einem bezaubernden Lächeln auf dem Gesicht.
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