Alexander und der Zauber einer besonderen Zeit

Ich liebe den Winter. Und ich liebe die Tage vor Weihnachten. Wenn der Schnee in sanften Flocken aus den Wolken fällt, kleine gefrorene Sterne um mich herum tanzen und den Zauber einer weißen Welt verbreiten. Winterwunderland. So nannten meine Schwester und ich als Kinder immer diese Zeit. Unsere Eltern sorgten jedes Jahr dafür, dass wir unsere ganz eigenen Wunder erlebten. Ob es das stundenlange Laufen auf dem zugefrorenen See war, die Nasen rot und die Wangen glühend heiß von der Jagd über das Eis. Oder dem Lauschen des Chores, engelsgleiche Stimmen und eine friedliche, warme Atmosphäre verströmend. Ein Meer aus Lichtern und Farben, der gigantischste Weihnachtsbaum den unsere Gemeinde je gesehen hat. Jedes Jahr ging mein Vater in den Wald und suchte Stunden nach dem perfekten Baum. Der Förster, ein alter Bekannter unserer Familie lief stumm hinter meinem Vater und wartete geduldig auf die erlösenden Worte.

Jedes Jahr schleppte er ein grünes Monster mit üppigen Zweigen und wohlduftenden Nadeln in das Haus meiner Kindheit. Mom servierte Kakao für uns Kinder und Punsch für die Erwachsenen. Die Nadel des alten Plattenspielers drehte unermüdlich ihre Runden. Das schwarze Vinyl glänzte im sanften Licht der kilometerlangen Lichterkette welche den gigantischen Baum zum Strahlen brachte. Knistern und Knacken begleitete die Stimmen des Chores und noch heute kenne ich jedes Wort der Texte auf der Lieblingsplatte meiner Mutter. Das ganze Haus duftete nach Plätzchen und dem würzigen Aroma von selbstgebackenen Lebkuchen. Eine Tradition hielt Einzug in unser Heim, das gemeinsame schmücken des Baumes, Weihnachtslieder und Gebäck. Rote und goldene Kugeln, klein und mittelgroß, ein großer Stern auf der Spitze und glitzerndes Funkeln wie Abermillionen Sterne erfüllte unser Heim mit einer weihnachtlichen Atmosphäre. Ein orange-rotes Feuer loderte heiß im Kamin, frisch geschlagene Holzscheite knackten und das rauchige Aroma vermischte sich mit dem harzigen Duft der Tanne. Meine Schwester strahlte über beide Ohren als die kleine Glocke den Beginn der Bescherung einläutete.

Ich erinnere mich gerne an diese Zeit. Wir waren Kinder mit unschuldigen Herzen und reiner Seele, liebevollen Eltern und einer sorgenfreien Zeit. Heute, fast zwölf Jahre nach dem Tod unserer Eltern, pflegen meine Schwester und ich noch immer diese Tradition. Es ist nicht Vater, der einen gigantischen Weihnachtsbaum durch die Eingangstür zwängt. Mein Schwager Raphael hat diesen Platz eingenommen und das Backen der Plätzchen sowie Lebkuchen nach dem alten Trueblood Familienrezept liegt in meiner Verantwortung. Ich backe für mein Leben gerne und jedes Jahr probiere ich ein neues Rezept und vermische es mit dem Traditionellen. Der Plattenspieler hat bereits einige Jahre auf dem Buckel, die Nadel musste bereits erneuert werden. Das Geräusch der Nadel die durch die feinen Rillen der Platte gezogen wird, weckt nostalgische Gefühle und gehört zur alljährlichen Tradition. Um nichts auf der Welt möchte ich darauf verzichten.

Das diesjährige Thema der Stadt New York trieb mir heiße Tränen in die Augen. Wie jeden Morgen saß ich an dem kleinen Tisch in meiner Küche, die kalte Milch durchweichte knusprige Haferflocken und die Säure von roten und blauen Beeren färbte die weiße Flüssigkeit leicht rosa.  WinterWunderLand. Erinnerungen fluteten meinen Kopf und vernebelten die Sinne. Der Kaffee war schon lange kalt als ich die Zeitung in meinen Händen sinken ließ und das nervtötende Vibrieren meines Telefons beachtete. Die fröhliche Stimme meiner besten Freundin Clary zerriss die Stille eines trüben Dezembermorgen.
"Alec, Schätzchen. Wie geht es dir?", flötete sie ins Telefon und ich nahm das schwarze Gerät etwas von meinem Ohr. Ich habe sie lieb. Wirklich sehr. Jedoch ist der Klang von Clarys fiepsiger Stimme nicht immer so früh am Morgen zu ertragen.
"Mir geht es gut. Du brauchst nicht so zu schreien. Guten Morgen erstmal", sagte ich.
"Denkst du an Charlies Auftritt? Du kommst doch oder?", fragte sie leicht panisch und prompt hörte ich das aufgeregte Kreischen meines Patenkindes im Hintergrund.
"Onkel Alec. Onkel Alec. Mamaaaaa... gib mir das Telefon...", kreischte der kleine Wirbelwind und ich beschloß entgültig das Gespräch auf den Lautsprecher zu stellen.

Eine hitzige Diskussion über das korrekte Vorgehen während eines Telefonats entbrannte zwischen meinen zwei Lieblingsmenschen und ich lächelte kopfschüttelnd über das immer gleiche Schauspiel.
"Onkel Alec. Mama ist gemein. Sie lässt mich nicht mit dir reden", beschwerte sich der kleine Wirbelwind. Ich sah Clary vor mir, wie sie erschöpft und resigniert den Kopf in die Hände stützte.
"Süße, deine Mama hat dich lieb. Sei nicht so streng mit ihr. Heute Nachmittag hast du mich doch ganz für dich allein", beschwichtigte ich Charlie. Es dauerte nicht lange und die Wogen waren wieder geglättet. Wir tauschten den neuesten Tratsch der Elementary School und vereinbarten einen Treffpunkt für Charlies großen Auftritt. Schon eine Weile sang mein Patenkind im Kirchenchor unserer Gemeinde. Clary wuchs in einem streng katholischen Elternhaus auf und auch meine Schwester und ich gingen mit unseren Eltern regelmäßig in die Kirche.

Der Auftritt im Central Park war ein wichtiger Bestandteil des WinterWunderLandes. Als Patenonkel stand ich natürlich an ihrer Seite und begleitete meine Kleine bis zum Rand der Bühne. Stolze Eltern strahlten bis über beide Ohren. Fotoapparate und Handys wurde gezückt als die ersten Takte der Stillen Nacht erklangen. Engelsgleiche Stimmen überdeckten den Lärm einer nie schlafenden Stadt und das Herz in meiner Brust, welches bereits einen Teil seiner Selbst verloren hatte, wurde schwer wie Blei und zog sich schmerzhaft zusammen. Als ich Charlotte sah, wie sie mit roten Locken und dem Gesicht meines besten Freundes, in den Himmel blickte, hatte ich das Gefühl jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und als hätte sie meinen Schmerz gespürt, sah mich der kleine Engel aus seinen funkelnden grünen Augen an und ich verjagte die aufkommenden Tränen. Sie war so stark an diesem Tag, auch wenn uns allen bewusst war, dass sie dieses Lied nicht für uns, sondern für ihren geliebten Papa sang.

Mein bester Freund, Clarys Ehemann und Charlies Vater, starb vor zwei Jahren im Einsatz für sein Land. Wir trauerten gemeinsam und wuchsen als Familie noch enger zusammen. So oft es mein Job in der Notaufnahme des Idris Medical Center zulässt, unterstütze ich Clary und kümmere mich um Charlie. Ich kann ihren Vater nicht ersetzen und das möchte ich auch gar nicht. Aber ich kann ihr helfen mit dem Verlust zu leben und Jace in ihren Gedanken lebendig zu halten. Denn jeder von uns hat eigene Erinnerungen an diesen besonderen Menschen. Jace Herondale, Freund, Bruder, Ehemann, Vater. Beschützer. Charlie gab alles. Ihre Stimme klang so hell und rein und ich war der stolzeste Mann unter den Zuschauern. Ich lächelte ihr liebevoll entgegen und war nie glücklicher als in diesem Moment, dass meine Entscheidung für einen Umzug nach New York so leicht vonstatten ging. Auch das ist schon ein paar Jahre her und ich habe es nie bereut. Mein Blick schweift über die kleine Ansammlung von Menschen. Sie alle sind gekommen um dem Chor aus Kinderstimmen zu lauschen. Der Schnee fällt sanft aus den Wolken und verzuckert die Welt um uns herum. Es hat etwas Magisches. Klirrende Kälte, herzerwärmende engelsgleiche Stimmen und der Zauber der Weihnachtszeit, welche die Seele berührt und das Herz erwärmt.

Meine Schwester Izzy ist hier und steht dicht gedrängt an ihren Mann, welcher beschützend seine starken Arme um sie geschlungen hat. Ich beobachte die beiden eine Weile und lächele. Es ist ein schönes Bild und ich freue mich, dass sie es geschafft und zueinander gefunden haben. Die Zeit bis zu ihrem endgültigen Ja zueinander glich einem Katz-und Maus Spiel und nicht selten stand eine ratlose Izzy in meiner Wohnung. Das Aufblitzen wie bei einer grellen Lichtreflektion erregt meine Aufmerksamkeit. Neben meiner Schwester steht ein großer Mann. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, es ist hinter einer Kamera verborgen. Unweigerlich stelle ich mir die Frage wer er wohl ist. Doch ehe ich länger darüber nachdenken kann, liegt die Lösung direkt vor mir. Der unbekannte Mann lässt die Kamera sinken und mir bleibt fast das Herz über soviel Schönheit stehen.

Sein dunkles Haar ragt leicht in die Stirn, das Haupt verdeckt durch eine grau melierte Wollmütze. Ein schwarzer Mantel schützt seinen Körper vor der frostigen Kälte. Braune Augen blicken sich funkelnd um, speichern jedes noch so kleine Detail. Ein seliges Lächeln umspielt seinen schönen Mund und ich kann nur auf die vollen rosafarbenen Lippen starren. Er ist wirklich schön. Auch Izzy betrachtet den Mann neben sich und sieht dann belustigt zu mir. Natürlich entgehen ihr meine Blicke nicht. Meine kleine Schwester hat eindeutig den falschen Beruf gewählt. Statt Kurse in Geburtsvorbereitung, sollte sie Seminare unter dem Titel: Woran erkenne ich einen Flirt und wie mache ich meinen potentiellen Ehepartner auf mich aufmerksam, geben. Izzy ist unsere Doctor Love und auch wenn ihr eigenes Glück ein paar Unwege nahm, lag sie bei ihren Freunden zu 95% richtig. Ich konnte mich bisher immer erfolgreich vor einem Blind Date, welches meine Schwester organisiert hatte, drücken.

Ich bin fünfunddreißig und meine letzte Beziehung endete mit vielen Tränen und einem Stapel kaputten Tellern. Mein eifersüchtiger Ex erwischte mich in einem äußerst ungünstigen Moment. Schon länger war ich unzufrieden, viele Gespräche und sogar der Versuch einer Paartherapie scheiterten jedoch kläglich. Will misstraute Allem und Jedem und besonders mir. Ein paar Drinks, ein Flirt und die Toilette im Club waren das endgültige Ende unserer achtjährigen Beziehung. Ich bin nicht stolz darauf. Es war ein Abbiegen in die falsche Richtung und ich bereute nicht auf dem rechten Weg geblieben zu sein. Seit drei Jahren bin ich Single und genauso lange lebe ich jetzt schon in New York. Es ist immer erstaunlich, wie eine Entscheidung unser ganzes bisheriges Leben verändern kann. Ohne die Abzweigung säße ich wahrscheinlich noch immer in Alicante und würde im örtlichen Krankenhaus Knochenbrüche richten und Schnittwunden versorgen. Will läge mir jeden Abend mit dem Wunsch nach einer Adoption in den Ohren und wir würden wie immer fürchterlich streiten. Seit meinem Unzug nach New York fühle ich mich frei und kann zum ersten Mal seit Jahren richtig atmen. Ich liebe die Stadt und das meine Lieblingsmenschen an meiner Seite sind, macht es umso vieles besser.

Meine Tage sind lang und die Schichten anstrengend, da bleibt kaum Zeit für die Familie. Die wenige freie Zeit die ich habe, verbringe ich mit Charlotte oder meinen Freunden. Da bleibt das Liebesleben auf der Strecke. Bis auf ein paar Flirts und Blowjobs auf der Toilette im Pandemonium, dem Schwulen-Hotspot in New York, lief in den letzten drei Jahren nicht viel. Ich bin so dermaßen untervögelt, möchte mich aber nicht dem Erstbesten hingeben. Meine Sturm- und Drang Phase ist schon lange vorbei und auch die Wochenenden, in denen ich heimlich und anonym in diversen Clubs unterwegs war um mir das zu holen was ich brauchte. Dieser Mann mit den dunklen Haaren, den feinen asiatischen Gesichtszügen und der Kamera erweckt ein längst vergessenes Gefühl in mir. In meinem Magen kribbelt es und wohlige Wärme durchströmt mich. Mein Herz schlägt ein paar Takte schneller bei dem Gedanken daran zu ihm hinüber zu gehen und einfach anzusprechen. Ich weiß nicht ob er auf Männer steht, aber ein unverbindliches Gespräch würde mich meiner Antwort näher bringen.

Und wenn ich nicht immer kluge Entscheidungen und den richtigen Weg treffe, so bin ich doch im Grunde meines Herzens auch nur auf der Suche nach einem liebevollen starken Partner, welcher mich mit einem seligen Lächeln und einer festen Umarmung begrüßt. Der Küsse vergibt die mich atemlos und vollkommen von Sinnen zurück lassen. Der es schafft mein Herz und meine Seele mit einem einzigen Wort zum Strahlen zu bringen. Aber nicht immer im Leben bekommt man das was man will und ich schon gar nicht. Denn ehe ich mich durch die Masse stolzer Eltern und frierender Passanten kämpfen kann, ist der schöne unbekannte Mann bereits gegangen. Die Predigt des Pfarrers ist vorüber und Charlotte hüpft freudestrahlend neben mir auf und ab. Eine Tür hat sich geschlossen, aber eine neue öffnet sich bereits wieder.
"Hast du mich gehört? War ich laut genug? Hat Papa mich gehört?", fragt meine kleine Maus neben mir und sieht mich fragend an. Ich nicke und hebe sie hoch auf meine Hüfte, wo sie ihren dünnen Beinchen sogleich um meinen Körper schlingt. Ihr Kopf liegt an meiner Schulter und ich gebe ihr einen sanften Kuss auf das feuerrote Haar.
"Wir haben dich gehört. Dein Papa ist sehr stolz auf dich. Und ich auch." antworte ich und verlasse mit den Gedanken an meinen besten Freund den Central Park.

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