3| Krankhafte Sorge
Der Wollschal war tatsächlich weg. Wo Marja auch suchte, ob sie in oder unter dem Schuhregal nachschaute, ob sie den Weg zur Bibliothek zurückging oder in der Bibliothek suchte. Er war weg. Zwar hing Marja nicht sonderlich an dem Kleidungsstück, doch sie ärgerte sich trotzdem darüber. Sie verlor doch sonst nichts. Nie war etwas so spurlos weg.
„Das ist nicht schlimm, Marja", tröstete Elona ihre Tochter, was eigentlich gar nicht nötig war und Marja auch so nicht wirklich weiterhalf. Dennoch war es beruhigend, dass ihre Mutter ihr über das Haar strich.
Sie nickte nur, als wäre sie Suchen nach diesem Schal nur eine nebensächliche Zeitverschwendung. „Ach was, das Ding war sowieso total kratzig. Aber sag das Oma nicht!", mahnte sie ihre Mutter, die sich lachend damit zufrieden gab und davon ausging, dass Marja ebenfalls nicht mehr darüber nachdachte.
Am nächsten Tag - es war deutlich milder als am Vortag - machte sie sich auf den Weg zur Bibliothek, um Kirka zu treffen.
Jetzt bin ich aber mal gespannt!, dachte Marja sich, als das quadratische Gebäude in ihr Sichtfeld kam. Sie rief sich Kirkas Worte ins Gedächtnis, dass sie da sein würde, wann immer Marja kam. Wie sollte das gehen, hatte sie sich gefragt, wollte sie etwa den ganzen Tag in der Bibliothek hocken?
Den Blick hatte Marja auf die alte, aber immer gründlich geputzte Glastür gerichtet, in der Hoffnung, Kirkas blasse Gestalt dahinter zu erkennen. Doch es war nur Frau Schröder, die immer mal daran vorbeilief, mit Büchern unter den Armen, welche dann verstaut in den Regalen standen und darauf warteten, gelesen zu werden - was wohl nicht passieren würde, da Marja sich zu den vielleicht drei Einzigen zählte, die ab und zu in der Bibliothek vorbeischauten.
„Marja!" Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Stimme nicht von innen kam, sondern neben dem Eingang erklang. Doch so war es. Mit einem strahlenden Lächeln hatte sich Kirka auf die weiß bestrichene Bank neben der Bibliothek gesetzt, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, ihren Schreibblock neben ihr liegend.
Zwar sträubte Marja sich innerlich dagegen, sich neben das Mädchen in die Kälte zu setzen anstatt in die warme Bibliothek, obwohl heute schon fast ein Hauch von Frühling in der Luft war, doch sie gab sich einen Ruck, lächelte und nahm auf der lackierten Bank, vor deren Kälte sie glücklicherweise durch ein dünnes Kissen geschützt wurde, Platz.
Kirka klappte das Buch zu, das sie bis eben noch in der Hand hielt, und griff stattdessen nach ihrem Block.
„Nett, dass du so früh vorbeischaust", sagte sie. „Ich hatte dich ja etwas später erwartet, aber der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht?"
Was soll man dazu noch sagen?, dachte sich Marja und lächelte. Eine Frage lag ihr zwar auf der Zunge, doch sie schluckte sie zusammen mit einem Zug kalter Luft hinunter, die sie einmal kräftig husten ließ.
„Geht's?", fragte Kirka besorgt, doch Marja nickte nur und wischte sich verärgert die Tränen, die mit dem Husten kamen , von den Augen. Beruhigt lehnte Kirka sich wieder zurück und zückte ihren Schreibblock.
„Dir gefiel die Geschichte über das Mädchen mit dem Wollschal", erklärte sie und hielt Marja demonstrativ ihren Block hin, „deshalb habe ich sie aufgeschrieben. Siehst du? Ich kann sie dir ja vielleicht noch einmal abschreiben, wenn du möchtest."
Wieso nimmst du nicht die Blätter aus dem Block?, wollte Marja fragen, ließ es jedoch sein. Irgendetwas in ihr sagte ihr, sie solle Kirkas Entscheidungen nicht infrage stellen, wahrscheinlich da sie durch die Fähigkeit des Schreibens so viel Respekt vor dem Mädchen hatte.
Kirka nahm den Block erneut an sich und blätterte einige Seiten weiter. „Natürlich ...", begann sie, während sie sich konzentriert auf ihrer Lippe biss, und sich ihr Gesicht bemerkbar aufhellte, als sie fand, was sie suchte, „habe ich auch eine neue Geschichte geschrieben. Willst du sie hören? Ja? Dann sag mir am Ende, wie du's findest."
Gespannt lauschte Marja den Sätzen, mit welchen Kirka ihre Geschichte begann: „Keinen Menschen gibt es auf der Welt, der sie nicht so kennt, wie sie nun ist. Mit grünen Wäldern und kahlen Wüsten. Mit Zusammenhalt und Krieg. Mit Höhen und Tiefen. Mit Land und Meer und Luft. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit, und auch wenn das jeder weiß, so begreift es doch keiner."
Marja lächelte, als sie bemerkte, dass ihre Lider sich über ihren Augen geschlossen hatten. Wie tiefgründig Kirkas Geschichten doch waren. Welche Geheimnisse sie bargen. Geheimnisse, die zum Nachdenken anregten. Ja, sie konnte es. Sie fühlte es. Es mochte sein, dass Kinder durchaus Geschichten schreiben konnten, so wie Erwachsene. Kirka jedenfalls gehörte ganz gewiss dazu.
„Und am Ende -" Aus irgendeinem Grund machten Marja Kirkas Worte traurig. Am Ende. So als wäre danach alles vorbei. „- sahen sie es ein. Sie sahen ein, dass sie nicht an ihrem Schicksal unbeteiligt waren, sie webten es, wie ein feines seidenes Tuch, welches im Wind wehen kann, das man verschmutzen doch auch wieder waschen kann, doch sollte man es zerreißen, so weiß man, wird es nie wieder so makellos sein wie vorher, auch wenn man es zu nähen versucht."
Marja nickte, ehrfürchtig. Die Geschichte hatte von einer Gruppe Wanderer gehandelt, die zurück in ihr Heimatland wollten, aus dem ihre Familien Jahre zuvor vertrieben worden waren. Und diese Sehnsucht war spürbar gewesen. Marja hatte sie gefühlt, als wäre sie durch eine unsichtbare Tür in die Geschichte hineingestolpert und in der Haut einer der Protagonisten gelandet. Vielleicht in jener der stillen Santhea. Oder der eitlen Milene. Oder des unschuldigen Morgan.
Marja war nicht einmal aufgefallen, dass Frau Schröder die ganze Zeit am gekippten Fenster hinter ihnen gestanden und gelauscht hatte. Als das Mädchen sich zu ihr umwandte, hatte sie Tränen in den Augen, die sie schnell wegwischte, als Marjas Blick sie traf. Kirka jedoch war von ihrem eigenen Werk offenbar weniger beeindruckt. Sie strich hier und da ein paar Wörter durch und schrieb neue dazu, strich Sätze weg und korrigierte Rechtschreibfehler. „So sollte es gehen", murmelte sie vor sich hin, als sie schlussendlich zufrieden ihren Block zuklappte.
„Das war eine schöne Geschichte", lobte Marja, um auch irgendetwas zu sagen. „Die kannst du mir vielleicht auch abschreiben?"
„Na klar." Kirka zwinkerte ihr zu.
„Du hast wahrlich Talent, Liebes", hörte Marja Frau Schröders gedämpfte Stimme hinter dem Fenster. Irritiert bemerkte nun auch Kirka, dass nicht nur Marja ihrer Geschichte gelauscht hatte, dann lächelte sie doch, wenn auch ein bisschen gequält, so als hätte sie lieber aufgestöhnt. Ob das an Frau Schröder persönlich lag, konnte Marja in dem Moment nicht ausmachen, doch sie hatte sowieso das Gefühl, dass Kirka die Bibliothekarin nicht sonderlich mochte.
Von ihrem verschwundenen Schal vergaß Marja zu erzählen.
Auch am nächsten Tag kam Marja zur Bibliothek und Kirka saß wie zuvor auf der weißlackierten Bank und las. Sie klappte ihr Buch jedoch zu, als sie Marja entdeckte. Dieses Mal erzählte Kirka von einer Wassernixe, die irgendwo in der Nordsee lebte und von vielen zu Unrecht gefürchtet wurde. Sie war nicht wie ihre Schwestern, die immer wieder mit ihrem betörenden Gesang die Fischer ins Unheil stürzten. Sie war keine von ihnen. Diese Nixe wusste nicht, was ihre Bestimmung war, und es war ihr auch nicht wirklich wichtig, es zu erfahren - bis sie eines Tages ein Fischerboot vor einer ihrer Schwestern rettete und daraufhin verstoßen wurde. Ein Junge, der sich als blinder Passagier auf dem Boot versteckt hielt, entdeckte die Nixe. Die beiden trafen sich einige Jahre später wieder, als der Junge zwanzig Jahre alt war und mit seinem Boot gekentert auf einer Insel fest saß.
Zu bildlich konnte Marja sich diese herzergreifende Geschichte vorstellen, und wie immer waren Worte großgeschrieben: Freundschaft, Zusammenhalt, Abenteuer. Und wieder verspürte Marja diese unvorstellbare Sehnsucht, dieses Ziehen in ihrem Herzen, und sie hörte die Stimme, die ihr immer wieder zuflüsterte: „Komm mit! Wir gehen auf Reisen! Wir entdecken die Welt und leben die Abenteuer, wie Kirka und viele andere Autoren sie aufs Papier schreiben!"
Marja konnte die Küste sehen. Von überall auf der Insel konnte man sie erkennen. Kam man mit dem Schiff auf der einen Seite an, so konnte man, wenn man eine geeignete Gasse zwischen den Häusern entdeckte, direkt über die Fläche hinweg auf der anderen Seite den Strand sehen. Das war glücklicherweise jedoch nur die Breite der Insel. Wenn man die Länge entlang schaute, würde man die Küste nicht sofort sehen, jedoch konnte man die Insel locker in ein bis zwei Stunden komplett überqueren. Früher war das für Marja eine elendig lange Wanderung gewesen. Heute erschien sie ihr lächerlich kurz. Diese Insel war einfach unglaublich klein.
Von Sehnsucht und Fernweh sprachen auch die Geschichten der nächsten Tage. Zwei, oder waren schon drei vergangen? Marja vergaß sowohl die Zeit als auch alles um sich herum, wenn sie Kirkas Geschichten lauschte. Ab und zu konnte auch Frau Schröder sich von den Sätzen nicht lösen, wenn sie zufällig durch das stets gekippte Fenster über der Bank ein paar von ihnen aufschnappte, doch meistens bemerkte Marja sie erst, wenn Kirka ihre Erzählung beendet hatte.
Manchmal las Kirka zwei Stunden am Stück vor, und nachdem Marja sich von ihrer neugewonnenen Freundin verabschiedete, holte sie einmal mehr das sorgsam zusammengefaltete Papier heraus, auf welchem Kirka ihr ihre Lieblingsgeschichten abgeschrieben hatte.
Marja war sich sicher, nicht nur ihre Geschichten hatte sie inzwischen ins Herz geschlossen, auch Kirka selbst. Wahrscheinlich vor allem sie. Auch, wenn sie sie kaum kannte, so hüpfte ihr Herz jeden Tag aufs Neue, wenn sie zur Bibliothek aufbrach, um sie zu sehen. Kirka. Das honigblonde Mädchen, blass wie frischgefallener Schnee, mit Augen trüb wie die Wintersonne, die manches Mal mit milden Strahlen durch den dünnen, wie mit Seidenfäden gesponnenen Wolkenvorhang hindurchschien.
Irgendwann murmelte Kirka einmal: „Hm ... ja, jeder macht mal Fehler." Aus den Gedanken gerissen, schaute Marja auf, nachdem sie gerade am Ende einer weiteren, wunderbaren Geschichte versuchte, diese sacken zu lassen; sie quasi zu verdauen.
„Wie meinst du das?", wollte sie von ihrer Freundin wissen, wobei die Neugierde ihre Stimmlage unüberhörbar prägte. Dann begann Kirka auf einmal zu grinsen, richtig zu grinsen, sodass Marja ihre blütenweißen Zähne einmal in voller Pracht zu Gesicht bekam, und sie antwortete: „Na, du erinnerst dich doch wohl an die Geschichte mit dem Wollschal? Die, die vielleicht von dir handelt. Ja? Nun, wie habe ich mich gleich ausgedrückt. Immer trug sie diesen roten Schal um den Hals."
Als sie Marjas noch immer ratlosen Gesichtsausdruck wahrnahm, grinste sie noch breiter. „Nun, die Betonung lag wahrlich auf dem hübschen Wörtchen immer - echt erstaunlich, oder? Fünf Buchstaben und doch so ein ausdrucksstarkes Wort! - doch sieh nur, du hast den Schal nur ein einziges Mal getragen. Hätt ich das denn ahnen können?"
Marja schüttelte zaghaft den Kopf, verzog dabei jedoch keine Miene. Kirkas Mundwinkel sanken daraufhin wieder so weit nach unten, bis die Finsternis auf ihrem Gesicht der auf Marjas glich. „Jep, Komikerin bin ich wahrhaftig nicht. Trotzdem kein Grund, gleich so ein Gesicht zu machen. Kennst du vielleicht einen Witz, der uns zum Lachen bringt?", versuchte sie, Marja auf schönere Gedanken zu bringen.
Ihrer Freundin zuliebe rang sich Marja dann doch ein kurzes Lächeln ab, obwohl sie es zu einem besorgten Gesichtsausdruck verzog. Kirka jedoch konnte sie ihren Unmut vielleicht tatsächlich beichten. Also seufzte sie einmal tief. „Der Schal ist verschwunden, kaum eine Stunde nachdem deine Geschichte zu Ende war. Oh nein, mach dir keine Sorgen, er war mir nicht wichtig! Nur ... wie habe ich ihn verlieren können? Hätte ich das nicht merken müssen?"
Kirka zuckte ratlos mit den Schultern. Einen Augenblick, nachdem sie ein grübelndes „Tja" von sich gab, glaubte Marja, sie ernsthaft nachdenken zu sehen, wurde jedoch eines besseren belehrt, als Kirka hinzufügte: „Flink wie die Wiesel, diese Räuber sind, was?"
Sie schien sich wirklich darüber zu freuen, dass Marja daraufhin kicherte, wie das zwölfjährige Kind, das sie war. Es war immer wieder schön, mehr über Kirkas Persönlichkeit zu erfahren, fand Marja. Sie wusste beispielsweise schon, dass sie aus Finnland kam. Und offenbar war sie eine optimistische, lebenslustige, unbekümmerte Persönlichkeit.
Bis zu dem Moment, an dem selbst dem größten Spaßvogel das Lachen im Halse stecken bleiben wird.
„Und?" In Kristophers Blick lag sowohl Belustigung als auch ein winziger Hauch Spott, während Marja sich ihre Winterstiefel über die in flauschige Ringelsocken gehüllten Füße streifte. „Gehst du wieder dein ... Wintersonnenmädchen besuchen?"
„Wintersonnenmädchen?" Nun war es Marja selbst, deren Stimme amüsiert klang. „Weil ich ihre Augenfarbe mit der Wintersonne verglichen habe? Mensch Papi, du merkst dir auch jeden Käse!", warf sie ihrem Vater vor, sowie sich eine Winterjacke über. Sie gehörte eigentlich ihrer Mutter, doch Marjas eigene war einfach nicht mehr groß genug für das Mädchen, das im letzten Jahr sehr gewachsen war. Gute und vor allem warme Jacken, gab es nicht mehr zu kaufen.
„Käse!", wiederholte Kristopher, als wäre es ein wichtiges Stichwort für etwas, dass er sich unbedingt hatte merken wollen, es ihm dann doch entfallen war. „Warum vergleichst du ihre Augen nicht einfach mit Ziegenkäse? Der ist auch so blassgelb ..."
„Du bist ein Spinner!", unterbrach Marja ihren Vater ungestüm und öffnete die Tür. „Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest - ich gehe wieder mein ‚Wintersonnenmädchen' besuchen."
Und während des Weges kamen Marja absurde Gedanken darüber, wie viele Käsesorten noch mit Kirkas Augenfarbe vergleichbar waren. Ziegenkäse war vielleicht doch etwas zu hell. Oder vielleicht auch nicht, sie wusste es nicht so genau. Wann achtete sie schon besonders auf Kirkas Augenfarbe, wo sie doch zur gleichen Zeit dabei war, sich in alle möglichen Geschichten zu versetzen?
Kirka saß wie gewohnt auf der Bank, obwohl es heute wieder bitterkalt war. Der Frühling hatte sich so schnell verabschiedet, wie er gekommen war. Diesmal schlug das blonde Mädchen ihr Buch nicht sofort zu, als sie Marja kommen hörte - falls sie sie denn überhaupt bemerkte. Marja konnte auch nicht die übliche Konzentration in ihrem Gesicht erkennen, wenn sie sich in eine Geschichte vertieft. Es war vor allem Sorge, die sie sah. Krankhafte Sorge um etwas, von dem Marja noch nichts ahnte. Und sie kannte den Ausdruck von Kummer und Angst auf dem Gesicht eines Menschen, für ihr kurzes Leben hatte sie ihn schon viel zu oft sehen müssen.
„Kirka?" In ihrer Begrüßung schwang ein fragender Unterton. Das Mädchen blickte irritiert von ihrem Buch auf und lächelte Marja an - mit einem so unechten und traurigen Lächeln, dass es Marja die Luft abschnürte.
Schnell und hastig klappte Kirka ihr Buch zu und legte es beiseite, verbarg die Hände hinter ihrem Rücken. Doch das Zittern hatte Marja trotzdem bemerkt. „Du kommst früh. Früher als sonst", stellte Kirka mit dünner Stimme fest. Marja schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. Es ist dieselbe Zeit wie immer."
„Oh!" Wenigstens ihre Überraschung schien echt zu sein. Kirka klopfte mit der Handfläche neben sich auf die Bank, wobei das dumpfe Geräusch des Aufschlags vom Stoff ihrer gelben Handschuhe noch gedämpft wurde. Zögernd setzte sich Marja neben sie, musterte sie genau, als könne sie nur durch genaues Betrachten erfahren, was Kirka so schwer auf der Seele lastete.
Diese zückte nicht einmal ihren Schreibblock. Sie starrte vor sich auf den kiesbedeckten Weg und auf die vom gefrorenen Tau bläulich verfärbten Grasstängel, die sich wie zu einem Lied im zarten, frostigen Wind wiegten. Sag mir doch, was los ist!, bat Marja sie innerlich, doch sie wusste, dass Kirka von selbst nicht sprechen würde. Nicht hier und jetzt. Nicht mit ihr.
„Du hast etwas Schweres auf dem Herzen.", stellte Marja darum mit leiser Stimme fest, mit welcher sie versuchte, Mitgefühl auszudrücken.
Erst erwartete Marja, Kirka würde sich nicht rühren, dann schüttelte sie aber den Kopf, schwach und kraftlos. So blass war Kirka nun, dass sie wie ein Geist wirkte. Ein hilfloses, trauriges Kind. Die Hoffnungslosigkeit, die sie ausstrahlte, war so bedrückend, dass Marja selbst Tränen in den Augenwinkeln fühlen konnte, doch es gelang ihr, sie wegzublinzeln.
Durch das angekippte Fenster konnte Marja leider nicht erkennen, wo sich Frau Schröder gerade befand. Ihr einfühlsames Wesen hätte Marja im Augenblick auch gern, doch leider besaß sie es nicht und konnte deshalb Kirka nicht trösten.
Langsam, als koste es sie eine Menge Überwindungskraft, setzte Kirka sich wieder gerade hin, tat einen zittrigen Atemzug und tastete neben sich nach ihrem Block. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte Marja darauf, doch noch eine Geschichte von ihr zu hören, wenn auch vielleicht eine traurige, tränenreiche Geschichte, doch natürlich war das nicht der Fall.
Stattdessen reichte Kirka Marja ihren Schreibblock. Erst dachte sie, sie solle wie sonst nur einen Blick zur Bestätigung darauf werfen. Als Kirka ihn jedoch nicht wieder an sich nahm, schloss sie zögernd ihre Finger um das knittrige, mit tausenden von Wörtern beschriebene Papier.
„Behalt ihn", sagte Kirka noch, nachdem sie ihren Arm wieder an sich gezogen und ihn mit dem anderen umschlungen hatte, um das unkontrollierte Zittern aufzuhalten. „Ich habe versucht, einige Geschichten anzufangen, doch, nun ja ... mir fehlten die Ideen. Ich habe nur die Anfänge geschafft. Vielleicht kannst du sie ja beenden."
Ehrfürchtig betrachtete Marja den kaum A5-großen Block in ihrer Hand, als wäre er ein Heiligtum. Und das war er für sie auch. Eines der größten, das den Menschen je zuteil geworden war, auch wenn das niemand wusste.
Dann schwieg Kirka. So lange, bis Marja das Schweigen beendete: „Also ... ähm ... ich muss dann mal los, der Nachmittagsunterricht fängt gleich an und es ist eh viel zu kalt heute. Ich bin die letzten Tage schon zu spät gewesen, also -" Doch Kirka winkte nur lächelnd ab, auch wenn es nur wieder dieses falsche Lächeln war. „Ist schon in Ordnung."
Marja erhob sich und rieb sich daraufhin die von der harten Bank schmerzenden Gesäßknochen, während Kirka ohne ein weiteres Wort vor sich auf den Boden starrte, die Augen so viel trüber als sie sowieso schon waren, so ausdruckslos wie die einer Toten.
„Also ... sehen wir uns morgen wieder?", wagte Marja vorsichtig zu fragen. Bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit der fröhlichen, geschichtenerzählenden Kirka vergaß Marja die beißende Kälte beinahe, die sowohl ihre Finger als auch ihre Zehen schmerzen ließ.
Kirka sah sie nicht an, als sie antwortete, und doch schienen ihre Worte diesmal etwas mehr Lebensfreude auszustrahlen, als bis eben noch: „Wann immer. Ich werde dir die schönste aller Geschichten geschrieben haben, das kannst du mir glauben."
„Das tue ich", versicherte Marja ihr lächelnd und machte sich auf den Weg, während ihre Beine immer wieder Halt suchten auf dem vereisten Boden, die Kapuze hatte sie über die vor Kälte schmerzenden Ohren gezogen.
Ein Bettler. Eine Frau in Weiß und ihr Geisterpferd. Ein Blumenmädchen. Ein Elfenlehrling. Kirka.
Marja ließ sich die Geschichten immer wieder durch den Kopf gehen, die Wörter,die Kirka aufgeschrieben hatte. Die Erzählungen, die nicht beendet wurden. Sie nahm eines der hauchdünnen Papiere zwischen Daumen und Zeigefinger und klappte es über der Halterung wie einen Kalender nach hinten um, um die nächste Seite bewundern zu können.
... rabenschwarzes Haar, struppig und widerspenstig wie das Nest seines Namensvetters, sonnengebräunte, von salzigem Wind geraute Haut, die an einigen Stellen der Unbarmherzigkeit so mancher heißer Sommertage zum Opfer gefallen war, und Kleidung , verschlissen wie nach einem erfolglosen Kampf mit einer ebengleich streunenden Katze ...
Marja las die Beschreibung des Bettlers mehrmals durch, und immer wieder hatte sie dasselbe Bild vor Augen, so, wie sie sich diesen Mann vorstellte. Bei dem Teil mit der streunenden Katze schmunzelte sie jedes Mal, da sie sich nur zu gut vorstellen konnte, wie sich ein Bettler mit einem herumliegenden Stock gegen das fauchende Tier verteidigte, während sie beide versuchten, an einen in der Mitte liegenden Fisch heranzukommen. „Schäm dich, Marja!", hätte ihre Großmutter jetzt gesagt. „Sowas ist wirklich nicht lustig!" Und dann wäre eine einstündige Predigt über die armen Menschen gefolgt, die mutterseelenallein und ohne Geld auf den Straßen lebten.
... sodass man nur einen weißen Schleier durch den Wald ziehen sah und sagte: „Sie wurde vom Tod persönlich gesandt. In Acht nehmen muss ich mich vor ihr, sonst kommt sie zu mir und bringt mich zu ihrem Herrn." Und so nahm sich jeder Mensch, jeder Händler, der vom Markt durch den Wald nach Haus zog, jeder Kutscher, der seine Insassen sicher zu dem gewünschten Ziel bringen wollte, jeder nahm sich vor ihr in Acht. Vor der Frau mit dem weißen, in der Dunkelheit matt leuchtenden Kleid mit dem Brautschleier, welcher selbst in einer windstillen Nacht nach hinten wehte. Ihre Haut war so blass wie das geisterhafte Kleid, und reiner als das Wasser einer Bergquelle, nur das kohlschwarze Haar war nicht von Reinheit sondern der Farbe ihrer Seele. Das Pferd an ihrer Seite leuchtete in einem ebensolchen Weiß, vom Kopf bis zu den Hufen, nicht eine dunkle Stelle war zu sehen, wie bei den weißen Pferden des Königs oder gar eines Bauern, nur die glatte Mähne und der müde nach unten hängende Schweif waren so schwarz, wie das Haar seiner Herrin ...
Marja blätterte weiter.
... mit grün schimmernder Haut, die Lippen veilchenviolett wie die Farbe ihrer Iris. Ihre Augen waren so facettenreich wie die eines Insekts, welches sich begierig auf eine Blüte setzte ,um sie ihres Nektars zu berauben, und jede einzelne Facette besaß im Licht ihren eigenen Schimmer. Ihr Kleid war gewebt aus den Fasern der Blätter und mit allen Blumen bestickt, die sich dazu bereiterklärten. Das Haar war dunkelgrün und fühlte sich an wie die Stängel eines Gänseblümchens, ein Kranz aus Blumen zierte diese Pracht zusätzlich ...
Ihre Augen suchten den nächsten Teil.
... die Ohren spitz wie es bei Waldelfen üblich war, mit Händen weich wie Seide, trotz der schweren Arbeit immer barfuß laufend, ohne sich die Füße an den Dornen aufzuschneiden, denn die Elfen waren der Natur Freunde. Seine Kleidung war praktisch, ein Hemd aus feinem Stoff, eine dunkle Weste darüber, und eine Hose die nicht zerriss, egal welche Belastung ihr zuteil wurde. Die Schuhe des Lehrlings bestanden aus Holz, das seine Füße selbst vor schweren Schmiedeeisen schützte ...
So beschrieb Kirka die Personen ihrer angefangenen Geschichten. Doch die letzte Geschichte war eher ein Gedicht, oder die Strophe eines Liedes. Eines traurigen Liedes über ein blondes Mädchen, das der Dunkelheit in ihrer Seele entfliehen will. War das nicht Kirka selbst? Hatte sie sich wirklich selbst dort beschrieben, und war das der Grund, warum sie jetzt gegangen war?
In den nächsten Tagen las sich Marja immer wieder all die Geschichten durch - auf der Bank vor der Bibliothek sitzend - und sie ertappte sich oft dabei, dass sie sich unbewusst zu ihrer Linken umwandte, um Kirka Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstand oder mehr darüber erfahren wollte. Und ein für's andere Mal wurde sie enttäuscht, obwohl sie es wusste: Kirka war weg.
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