2| Kirkas Geschichten
Seltsam, dachte sich Marja, als sie selbst in dieser fremden Welt, bestehend aus mit Buchstaben bedruckten Seiten, keine Ruhe fand. Lesen erfüllt sonst seinen Zweck.
Ja, sonst. Doch sonst war auch keine Kirka da, die schon seit Stunden im Sessel neben den Klassiker-Regalen hockte und sich irgendetwas auf einem kleinen Block Papier von der Seele schrieb. Immer wieder ertappte sich Marja dabei, wie sie zu dem Mädchen hinüberschielte und mit ihrem Blick die geschwungenen Handbewegungen Kirkas verfolgte.
Sie hatte bestimmt eine schöne Handschrift, so wie es aussah. Zu gern hätte Marja auch eine, doch ihr Lehrer hatte immer wieder Mühe, die krakeligen, kleinen Buchstaben, die sie aufs Papier schrieb, zu entziffern.
Hör jetzt auf damit! Lies weiter! - verärgert über sich selbst versuchte Marja sich auf die Wörter zu konzentrieren, die da vor ihr in dem Buch herumschwirrten und darauf warteten, endlich von jemandem gelesen zu werden. Irgendwann von irgendjemandem verfasst, dessen Name ihr nichts sagte und den sie doch zutiefst bewunderte. Marja dachte immer, dass es so schwer nicht sein konnte, eine Geschichte aufzuschreiben, doch als sie einmal versuchte, selbst eine Erzählung zu verfassen, merkte sie, dass das täuschte. Du brauchst eine Idee. Du brauchst Motivation. Du musst irgendwie die Wörter so zusammenfügen, dass sie sich schön lesen ließen. Einige Geschichten hatte Marja schon mit dieser Einstellung begonnen, fand sie jedoch trotzdem nie so, wie sie sein sollten. Was machte sie nur falsch? Das würde ihr wohl ein ewiges Rätsel bleiben.
Auf einmal bemerkte sie, dass Kirka ihren Schreibblock beiseite gelegt hatte und nun kerzengerade mit geschlossenen Augen dasaß, als würde sie meditieren. Neugierig geworden, schlug Marja ihr angefangenes Buch wieder zu, merkte sich den Titel, falls sie es sich ausleihen wollte, und begann damit, unauffällig die Regale zu durchstöbern, während sie Kirka nicht aus den Augen ließ.
Doch das blasse, blonde Mädchen bewegte sich keinen Millimeter, als wäre sie von der einen zur anderen Sekunde festgefroren, wie der kleine Bach, der quer über die Insel von der einen zur gegenüberliegenden Küste floss und an Frühlingsabenden zusammen mit dem Kirschblütengeruch für eine romantische Atmosphäre sorgte. Wenn die Temperaturen jedoch unter den Nullpunkt sanken, fror er über Nacht so ein, dass man darauf Schlittschuh fahren könnte, wäre er nicht so schmal und uneben.
„Vor nicht allzu langer Zeit", hörte Marja Kirka auf einmal Murmeln und schrak zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, das Mädchen noch einmal sprechen zu hören.
„Da lebte ein Mädchen, mit schwarzbraunem Haar, welches ihr glatt bis zu den Schultern reichte, und giftgrünen Augen. Soweit nichts Besonderes, so schien es", erzählte sie weiter. Fast automatisch tastete Marja nach ihrem dunklen, glatten Haar. Tatsache. Es reichte ihr bis zu den Schultern.
„Das Einzige", fuhr Kirka mit noch immer geschlossenen Augen fort, „das auffiel, das war ihr purpurroter Wollschal. Man traf sie nie ohne ihn an. Immer, zu jeder Jahreszeit, ob eisigkalt und kochend heiß, immer trug sie diesen roten Schal um den Hals."
Verwirrt umklammerte Marja den kratzigen Stoff ihres Schals, während ihr vor Verblüffung der Mund offen stehen geblieben war. „Ähem ...", räusperte sie sich verlegen. „Redest du mit mir?" Scheinbar aus den Gedanken gerissen schlug Kirka die Augen auf und schaute sich um, als hätte sie ihre Umgebung noch nie gesehen. Dann jedoch blieb ihr Blick an Marja haften.
„Oh!", stieß Kirka aus, lächelte, ohne Marja dabei anzusehen. „Hast du was gesagt? Verzeihung, ich war grad in Gedanken versunken."
„Offensichtlich", entgegnete Marja trocken. Kirkas gespielte Unschuld gefiel ihr nicht – na schön, wahrscheinlich doch,aber das gab sie nicht gern zu. Je frecher sie waren, desto schneller zogen die Leute Marjas Aufmerksamkeit auf sich. „Und jetzt sag, weshalb du über mich redest, obwohl dir niemand zuhört!" Kirka schien ein wenig überrumpelt, als sie zu der Sprecherin aufsah.
Seelenruhig erhob sie sich von dem Sessel, sodass sie ihr gegenüber stand. Sie war vielleicht einen halben Kopf kleiner als Marja, wirkte jedoch mit ihrem kantigen, ernsten Gesicht und den hohen Wangenknochen nicht so, als wäre sie sehr viel jünger.
„Es sieht so aus, als hättest du mir doch zugehört", sagte sie zu Marja und betrachtete sie mit schräggelegtem Kopf. Mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht fügte sie noch hinzu: „Und ich habe dich bis jetzt recht gut getroffen - aus dem Gedächtnis. Ich habe nicht einmal die Augen geöffnet. Nicht schlecht, oder?"
Ein wenig verärgert wollte Marja irgendetwas erwidern, doch sie kam nicht dazu. Aus irgendeinem Grund raubte diese ... diese Dreistigkeit ihres Gegenübers ihr die Sprache. Außerdem lag ihr eine Bitte auf der Zunge, die allein ihr Stolz im Zaum hielt. Dennoch konnte sie sie förmlich schmecken und es gelang einfach nicht, sie hinunter zu schlucken.
„Erzähl doch die Geschichte weiter!"
Kirka versteckte ihre Verblüffung hinter einem weiteren zufriedenen Lächeln. „Sie hat dir gefallen? Oh, wie wunderbar! Dabei waren das mit Sicherheit nicht mal zwei Zeilen! Das ist es, was ich immer erreichen wollte."
„Ja, schon gut!", fiel Marja ihr ungeduldig ins Wort. „Entweder du erzählst jetzt, oder ... ich drehe auf der Stelle um und gehe aus der Bibliothek. Dann hast du keinen Zuhörer mehr."
Kirka machte ein gespielt erschrockenes Gesicht. „Oh! Das ist eine harte Drohung, mein lieber Scholli! Da fange ich besser gleich wieder an!", sagte sie und setzte sich zurück in den blauen Sessel, welcher noch immer unmittelbar hinter ihr stand, da sie sich keinen weiteren Millimeter von ihm entfernte, als nötig war.
Mit einer freundlichen Geste deutete Kirka auf einen kleinen, hölzernen Stuhl mit einem plattgesessenen Kissen darauf und forderte Marja auf: „Setz dich doch!" Zögerlich nahm Marja auf dem Stuhl Platz, der unter ihrem Gewicht einmal laut knarzte, und blickte Kirka direkt aus ihren leuchtend grünen Augen an.
Im Gegensatz zu anderen Leuten jedoch, erwiderte Kirka diesen Blick völlig unbeeindruckt. Dann holte sie einmal tief Luft, schloss die Augen und erzählte. Von ihr, Marja. Wie ihr Wollschal eines Tages von fremden Männern gestohlen wurde, wie sie ihnen bis in ein altes Haus folgte, wie sie dort einen älteren Mann traf und er ihr von der Magie des Schals erzählte ... Marja lauschte gebannt Kirkas Worten, alle so wunderbar aneinander gereiht, als würde sie sie auf Papier vor sich stehen haben, eine Geschichte, die sie fesselte, wie in den Filmen und Büchern.
Irgendwann endete Kirkas Erzählung mit dem Satz, den Marja wohl auch viele Jahre danach nicht vergessen würde: „Und diese Geschichte scheint ein Ende gefunden zu haben, doch hinter den Worten, hinter dem, was du nun weißt, da sind noch so viele andere Geschichten, die zu erzählen ein Leben nicht reicht."
„Das hast du jetzt aber schön gesagt", stellte Marja mit einem Lächeln fest. Kirka zuckte nur die Schultern und erklärte: „Es stimmt doch. Schaust du Filme? Darin spielen so viele Menschen mit, Statisten und Schauspieler, und doch wird nur die Geschichte der Hauptcharaktere erzählt. Und wenn der Bettler eine Straße weiter noch eine hätte erzählen können? Oder der, der im Hintergrund gerade eine Speisekarte liest? Solche Gedanken mache ich mir dann immer."
„Und das ist auch eine sehr interessante Eigenschaft von dir, Herzchen", kommentierte Frau Schröder, während sie mit einem Stapel Bücher in der Hand an den beiden Mädchen vorbeilief. Marja erschrak ein wenig, denn sie hatte sie nicht kommen sehen. Kirka wandte sich betont langsam zu ihr um, und nickte dann. „Und wie ist es mit Ihnen?", wollte sie nun von der Bibliothekarin wissen.
Diese stockte mitten in ihrer Bewegung und nahm das Buch, welches sie gerade in eines der Regale stellen wollte, langsam wieder zu sich. Dabei sah sie Kirka nachdenklich in die Augen. „Ja, mein Kind, wie ist es mit mir? Nun, ich kann nicht sagen, dass ich mir keine Gedanken über einmalig erwähnte Figuren in Büchern mache, das jedoch vielleicht nur so lange, bis sie kein Gesprächsthema mehr sind. Natürlich ist es bewundernswert, welche Gedanken du dir über belanglos wirkende Menschen machst, aber" – Sie klopfte Kirka aufmunternd auf die Schulter – „man darf sich auch auf die eine Geschichte konzentrieren, die dir erzählt wird. Genieße sie. Dann kannst du dich fühlen, als wärst du selbst dabei."
Danach fuhr die Frau fort, die Bücher in die Regale zu stellen, eins nach dem anderen, so vorsichtig, als wären es Glasfiguren. Frau Schröder behandelte Bücher immer so, als würden sie bei jeder falschen Bewegung zerbrechen und wer eines von ihnen in einem schlechten Zustand zurück in die Bibliothek brachte – würde das so schnell wahrscheinlich nicht wieder tun.
Als die Bibliothekarin hinter dem nächsten Regal verschwand und außer Sichtweite war, umklammerte Kirka erzürnt den Bleistift, mit dem sie anfangs auf ihren Schreibblock gekritzelt hatte. „Du darfst dich auf die Geschichte konzentrieren, die dir erzählt wird", ahmte sie Frau Schröder mit verstellter Stimme nach, sodass Marja ein Kichern nicht unterdrücken konnte, auch wenn sie Kirkas Unmut nicht nachvollzog.
„Was stimmt denn daran nicht?", fragte sie nach, als es ihr wieder gelang, ein ernstes Gesicht zu machen. Kirka schnaubte verärgert. „Was nicht stimmt?", wiederholte sie, „Diese Fantasielosigkeit – das stimmt nicht! Interessiert es sie denn gar nicht, was mit all den anderen ist? Macht es ihr denn gar keinen Spaß, sich zu überlegen, wie ihre Vergangenheit sein könnte? Gott, die Welt versteht nichts mehr von Vorstellungskraft."
Sie schimpfte wie ein alter Mann! Erneut verspürte Marja den absurden Drang, zu lachen, doch sie hielt sich zurück und legte Kirka beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Nicht jeder ist ein Autor", sagte sie zu der jungen Geschichtenerzählerin, die sie daraufhin kurz mit so etwas wie Abschätzigkeit musterte, sodass Marja erschrocken zurückzuckte, als würde ein Stromschlag von ihr ausgehen. Dann jedoch nickte sie schulterzuckend.
„Na wenigstens", versuchte sie sich selbst aufzumuntern und lächelte versonnen, „bin ich dann eine der wenigen elfjährigen Autorinnen unter uns Menschen, was? Oder die Einzige auf der namenlosen Insel."
Marja grinste amüsiert. „Die namenlose Insel? Der offizielle Name ist Märcken, aber den benutzt niemand, dafür ist die Insel wahrscheinlich einfach zu klein. Wusstest du, dass sie auf manchen Landkarten noch nicht mal eingezeichnet ist?" Kirka nickte. Sie wusste viel für ihr Alter. Marja vergaß fast, dass sie mit einem Mädchen sprach, das jünger als sie war, statt mit einer Frau die vom Leben gezeichnet vor ihr stand, und die Welt erklärte – die Welt der Geschichten, statt der Realität.
„Und, Mädels? Wie weit seid ihr schon?", wollte Frau Schröder mit einem freundlichen Lächeln auf den fülligen Lippen wissen.
Schlagartig fiel Marja das Buch wieder ein, welches sie begonnen hatte zu lesen, es jedoch wieder zurück in den Schrank gestellt hatte. 'An der Gezeiten Ende', so hatte es geheißen. Ein schöner, ausdrucksstarker Titel, der Fragen zum Inhalt aufwirft. Auch der Klappentext hatte Marja gut gefallen.
Rasch suchte sie es heraus, lieh es aus und wandte sich dann wieder Kirka zu, die neben ihr vorn an dem Schreibtisch, der als „Bücher-Ausgabe" diente, stand und darauf wartete, dass Marja fertig war.
„Kommst du morgen wieder her?", wollte Marja von ihr wissen. Kirka zog die Augenbrauen zusammen und spitzte die Lippen, als müsse sie angestrengt überlegen. Dann begann das Mädchen zu grinsen und beugte sich vor, um mit gesenkter Stimme zu sprechen, als dürfe sie niemand hören: „Komm einfach. Egal zu welcher Zeit, ich werde da sein."
Marja nickte ohne weiter darüber nachzudenken. Schließlich verabschiedete sie sich von Frau Schröder und dem nun nicht mehr ganz so fremden Mädchen und machte sich auf den klirrend kalten Weg über die halbe Insel zu sich nach Haus.
Luke sprang schwanzwedelnd um seine Herrin herum, nachdem er sie mit freudigem Gebell begrüßt hatte. „Na, mein Guter?" Marja zauste ihm den Kopf, woraufhin Luke nur noch aufgeregter umher hüpfte. Manchmal kam ihr der alte Herr fast vor, als wäre er noch ein junger Hund.
Luke war da gewesen, seit Marja sich entsinnen konnte. Vor etwa elf Jahren kam er als Welpe zu ihnen, da seine Mutter ihn verstoßen hatte, deshalb zog Kristopher, Marjas Vater, ihn auch mit der Flasche auf. So war Luke zu einem kräftiger Rüden herangewachsen, der es durchaus mit anderen Retriever-Männchen aufnehmen konnte, und es auch schon einige Male getan hatte.
Marja ließ sich auf einem der Stühle, die vor dem Esstisch standen, nieder und ließ sich Kirkas Geschichte durch den Kopf gehen. Mit elf Jahren! Kann man in diesem Alter schon ganze Romane schreiben? Manche Erwachsene konnten das nicht. (In Marjas Vorstellung waren Erwachsene früher so etwas wie Alleskönner, jedoch dauerte es nicht allzu lange, bis ihr klarwurde, das niemand wirklich alles konnte.)
Nun musste sie an Freddie denken. Wenn, dann wirst du Autorin. Wie kam er nur auf so etwas? Hatte er noch nie ein echtes Buch gelesen, im Gegensatz zu Marjas Aufsätzen oder Geburtstagskarten? Wieso sollte sie Autorin werden? Das war eine Frage, die sie Freddie schon so oft stellen wollte, doch ohne eine passende Gelegenheit war sie nie dazu gekommen.
Marja hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und ihre Mutter, vermummt als käme sie von einer Wandertour durch die Antarktis, ins Haus spazierte. Man hätte sie leicht für einen Einbrecher halten könnten, so, wie sie ihren violetten Schal über Mund und Nase gezogen hatte und die Mütze ihr bis zu den Augenbrauen reichte, doch Marja wusste es besser.
„Brrr!", machte Elona und rieb sich die Arme, während ihr Zittern kaum zu übersehen war. „Ganz ehrlich, man sollte meinen, die Welt wäre mit flüssigem Stickstoff vernebelt worden – oder man hätte sie in den Kühlschrank gestellt", fügte sie noch hinzu, als sie Marjas amüsierten Gesichtsausdruck wahrnahm. Klar wusste sie, was flüssiger Stickstoff war, doch das war ihrer Mutter nicht so klar.
„Ja, genau!", bestätigte Elona ihren Vergleich noch einmal. „Einfach so auf einem Silberteller mit Haube in den Kühlschrank hineingeschoben, als wäre die Welt nichts weiter als Fisch, den man noch nicht essen möchte, der aber auch nicht schlecht werden soll. Bäh! Wer sich das auch immer ausgedacht hat, er sollte sich was schämen!"
Jetzt konnte Marja ihr Lachen doch nicht zurückhalten. Ihre Mutter spielte wieder ihr Wortspiel. Finde die seltsamsten Metaphern, die dann von Marja weiter verwendet und ausgebaut werden mussten. Marja liebte es, hatte heute aber trotzdem keine Lust darauf. „Nun beruhig' dich mal, Mami!", versuchte Marja Elona zu beschwichtigen. Diese drehte sich verblüfft zu dem Mädchen um, als würde ihr erst jetzt auffallen, dass es dort saß.
„Oh, Marja! Weißt du eigentlich, dass einem immer ganz warm ums Herz wird, wenn man dich lächeln sieht? Zuerst dachte ich, nur mir ginge es so, aber vor kurzem hat mich so eine Verkäuferin darauf angesprochen", erzählte sie, während sie sich die ebenfalls violetten Wollhandschuhe von den Fingern streifte und sie anschließend in die Ärmel ihrer dicken Jacke stopfte, sowie auch Schal und Mütze. Sie weigerte sich einfach strikt, sie in den Korb auf dem Schuhregal zu legen, aus Angst, dort könnte sie sie nicht wiederfinden.
Marja erhob sich von ihrem Stuhl und lief auf ihre Mutter zu. „Du hast früh Feierabend", stellte sie fest, während sie sich mit ihrer linken Hand auf das schwarze Schuhregal stützte. „Es ist erst um eins."
„Und Samstag", fügte Elona noch hinzu, obwohl Marja ihr genau ansah, dass etwas nicht seinen gewohnten Gang lief. Als ihre Mutter das ebenfalls einsah, seufzte sie: „Der Journalismus ist ein hartes Geschäft. Kaum hast du eine Woche keine Schlagzeile eingebracht, bist du für den Chef unwichtig geworden. Lass dich auf so etwas nicht ein, Liebes, tu das ja nicht."
Als sie Marjas besorgten Blick sah, fügte Elona jedoch noch schnell hinzu: „Aber mach dir keine Sorgen. Es ist nur eben manchmal schwierig, in diesem Kaff hier eine interessante Nachrichtenstory zu finden." Sie verzog das Gesicht. „Am besten renne ich nach draußen und schreie den Nachbarn zu, sie sollen gefälligst etwas Interessantes machen. Das ist doch auch eine Nachricht wert, oder?"
Marja musste lachen, auch wenn sich die Steine auf ihrem Herzen gerade erst anfingen zu einem großen Haufen aufzutürmen, anstatt herunterzufallen. Doch die Vorstellung, Elona wie eine Irre schreiend durch die Straßen rennen zu sehen, während alle Nachbarn sich ängstlich in ihren Häusern verbarrikadierten, war zu lustig, um die Sorge überhandnehmen zu lassen. Auch wenn sie trotzdem da war, und das kein schönes Gefühl war.
„Warst du wieder in der Bibliothek?", fragte Elona beiläufig, während sie sich die Winterschuhe abstreifte und anschließend erleichtert durch die weiße Tür das Wohnzimmer betrat, in welchem der knisternde Kamin zusammen mit den beiden Heizungen angenehme Wärme spendete.
Marja nickte. Ihr fiel wieder ein, dass sie ihrer Mutter von Kirka erzählen wollte. „Hättest du gedacht, dass man mit elf Jahren schon Bücher schreiben kann?", fragte sie Elona und setzte sich neben sie auf das lederne Sofa.
Ihre Mutter reichte ihr die weiße Decke aus Schafwolle, in die sich Marja dankbar einhüllte, ehe sie antwortete: „Klar, wieso nicht? Als ich noch ein Kind war, ein Jahr älter als du vielleicht, da war ich leidenschaftliches Mitglied bei der Schülerzeitung. Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, die kleinen Artikel zu verfassen, und irgendwann habe ich beschlossen, das zu meinem Beruf zu machen. Dir könnte es wahrscheinlich auch gefallen, doch in eurer Schule gibt es leider keine Schülerzeitung. Bei drei Schülern lohnt sich das wahrscheinlich auch nicht."
Marja grinste. „Ja, damals, als ihr noch in Pfadfinderkleidung um die Häuser gezogen seid, was?", zog sie ihre Mutter auf.
Diese schüttelte nur den Kopf. „Hör schon auf. Das ist doch noch gar nicht so lange her. Und weshalb sollen wir um die Häuser gezogen sein? Wie kommst du nur immer auf sowas, Herrgott nochmal?"
Doch Marjas Gesicht wurde wieder ernst. Ihr war klar geworden, dass ihre Mutter nicht verstehen würde, worum es ihr ging. Aber irgendwie hatte sie auch recht. Wieso nicht? Wieso sollte man als Kind noch keine Bücher schreiben können? Außerdem waren es lediglich kleine Geschichten, die Kirka aufschrieb.
Nach einer Weile des Schweigens fragte Elona: „Wo ist übrigens der Schal, den Oma dir gestrickt hat, Marja?"
Ihre Tochter wies hinter sich, wo sich, getrennt von einer Wand, der Flur befand, und in diesem auch das Schuhregal. „Hab ich in den Korb gelegt. Wieso?" Elona hob zweifelnd die Augenbraue und antwortete: „Weil er dort nicht war."
Nun war es Marja, die ihre Augenbraue hob. „Tatsächlich nicht?", wollte sie noch einmal sichergehen, denn sie war sich wirklich sicher, den Schal in den Korb gelegt zu haben.
Elona schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top