Türchen 6

Guten Morgen! :)

Einen frohen Nikolaustag wünsche ich euch. Ich hoffe natürlich, ihr wart alle schön artig und die Stiefel sind gefüllt? ;) Hinter Türchen 6 verbirgt sich eine Kurzgeschichte, die ich in ähnlicher Form tatsächlich erlebt habe. 

Bis morgen <3
Deine Mila


Ich wippe unruhig auf und ab. Die alte Dame mir gegenüber lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie lächelt mich ruhig an, es ist ein aufrichtiges Lächeln. Ein wenig erinnert sie mich an Mrs. Weasley aus den Harry Potter Filmen. Ich lächle ein höfliches, aber reserviertes Lächeln zurück. In aller Seelenruhe schmückt sie meinen kleinen Blumenstrauß mit Grünzeug, prüft dabei jede ihrer Bewegungen mit einem Blick über den Rand ihrer Brille.

Auf, ab. Auf, ab.

Es ist Heiligabend. Oder eher... Heiligvormittag. Ich hatte es gewagt, mich noch einmal ins Getümmel zu stürzen. Ja, absolut gestört. Wie jedes Jahr war auch diesmal der Tag Auslöser für sämtliche Panikattacken. Ein Blick aus dem Fenster des kleinen Blumenladens genügt, um das volle Ausmaß des Chaos' einschätzen zu können: Verzweifelte Ehemänner, die planlos von Geschäft zu Geschäft stürzen, schreiende Kinder und entnervte Mitarbeiter des Weihnachtsmarktes, die in all dem Trubel versuchen, ihre Buden abzubauen. Kaum vorstellbar, dass all diese Leute in nur wenigen Stunden friedlich um einen Weihnachtsbaum versammelt Weihnachtslieder singen oder gemeinsam an einem Tisch sitzen würden. Ich will einfach nur schnell heim.

Auf, ab. Auf, ab.

Ich hatte mich extra bemüht, dieses Jahr alle Geschenke vor dem 20. Dezember beisammen zu haben, um die folgende Massenpanik zu umgehen und es war mir gelungen. Für den heutigen Tag hatte ich mir fest vorgenommen, nichts zu tun, außer mit einer Tasse Tee Kevin allein zu Haus und Drei Nüsse für Aschenbrödel zu schauen. Naja. Kevin war noch lange nicht allein zu Haus gewesen, da war ich bereits auf dem Weg in die Stadt. Wie auch der Rest der Großstadt, in der ich lebe, dachte ich, so früh sei sicherlich noch niemand unterwegs.
Pah.

Und nun stehe ich hier, unruhig, vor Mrs. Weasley, während draußen die Schlacht ausgebrochen ist und warte auf den Blumenstrauß für meine Mutter. Sie liebt Blumen doch so sehr.

„Das macht dann 6,80", höre ich Rons Mutter und nehme meinen Blick endlich von dem Katastrophenfilm, der sich draußen abspielt. Wow. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Der Stress hatte sich immerhin gelohnt.
„Vielen Dank!" Ich lächele sie an und gebe ihr sieben Euro, kein sonderlich großzügiges Trinkgeld, aber ich habe nur 10€ dabei und möchte eigentlich noch meinen Lieblingstee kaufen, für mein gemütliches Date mit dem Laptop. Sobald ich den kleinen Laden verlassen habe, werfe ich einen vorsichtigen Blick in Richtung des Aldis in der Querstraße. Lecks am Arsch. Scheiß auf den Tee. Was war nur in die Leute gefahren?

-Achtung, es folgen zwei Feiertage, bitte stürmen Sie die Läden und rasten Sie endgültig aus-


Ich seufze kurz, schüttele den Kopf und mache mich dann auf den Heimweg. Zum Glück habe ich keinen weiten Laufweg, nur etwa 10 Minuten eine Einkaufsstraße entlang. Ein paar Meter vor mir läuft ein junger Geschäftsmann, er telefoniert, trägt eine Aktentasche in der Hand. Offensichtlich hat er noch einige wichtige Dinge zu klären, bevor er zum gemütlichen Teil des Tages übergeht. Gelegentlich höre ich ihn fluchen und schimpfen, irgendetwas von unfähigen Mitarbeitern und Unterlagen, die es nicht rechtzeitig nach Bangkok geschafft hatten. Großer Gott, was waren das schon für Probleme, in der Innenstadt wimmelte es von Ehemännern, die befürchten mussten, die Weihnachtsgans übergezogen zu bekommen, wenn sie nicht bald irgendein passendes Geschenk fänden. Ich verlangsame meine Schritte ein wenig, um nicht zu viel seines aufgewühlten Gesprächs mitzuhören.

In unweiter Entfernung, am Ende der Fußgängerzone, sehe ich einen Obdachlosen an einer Hauswand lehnen. Ich kenne ihn vom Sehen, er steht häufig an verschiedenen Orten der Stadt. Bekleidet ist er für diese Jahreszeit nur spärlich, seine Hose ist schmutzig und reicht nicht einmal bis zu seinen Knien, das Shirt darüber ist ausgeleiert. Schuhe trägt er keine, lediglich eine alte Zeitung trennt seine nackten Sohlen vom kalten Steinboden. In seinen Händen hält er, wie sonst auch, eine Obdachlosenzeitschrift. Ich habe schon häufiger über ihn nachgedacht, wenn ich ihn irgendwo stehen sah. Er grüßt jeden Passanten, der an ihm vorbeiläuft, wünscht einen angenehmen Tag oder fragt nach seinem Wohlbefinden. Dabei bleibt er immer bescheiden an der Wand stehen, noch nie wollte er seine Zeitschrift jemandem aufdrängen, auch sitzt er nicht am Boden und hat einen Behälter für Münzen vor sich stehen. Er lächelt, wenn er grüßt, wobei deutlich zu erkennen ist, dass er kaum mehr Zähne hat. Die meisten Menschen beachten ihn nicht, allerdings weiß ich nicht, ob sie ihn bewusst ignorieren, oder in ihrer eigenen Welt voller Hektik und Probleme einfach nicht wahrnehmen. Ich spüre, dass ich mich freue, ihn zu sehen. Sein Optimismus und seine positive Ausstrahlung rühren mich, wenn ich an seine Lebenslage denke.

Mein Blick fällt zurück auf den fluchenden Geschäftsmann, der einige Meter vor mir noch immer telefoniert. Ich beobachte, wie der Obdachlose ihn freundlich grüßt als er ihn passiert, so, wie er es immer tut. Und dann passiert etwas, das mich vor Entsetzen einen Moment stehenbleiben lässt. Er hat tatsächlich vor seine Füße gespuckt.
Nein.
Hat er-?
Er hat es getan.

Ohne seinen Gruß zu erwidern. Ohne auch nur eine Sekunde mit dem Fluchen am Telefon aufzuhören. Ohne überhaupt einen Blick auf den Mann an der Hauswand zu werfen, der seine Obdachlosenzeitschrift in der Hand hält. Und jeden freundlich grüßt. Der frieren muss in seiner leichten Kleidung und trotzdem so viel Wärme ausstrahlt. Ein Obdachloser, der am Weihnachtsmorgen in der Kälte steht und jedem ein aufrichtiges Lächeln zukommen lässt. Ein Mensch, der in diesen Momenten so viel mehr gibt als er vom Leben bekommt.

Er hat einfach vor ihn gespuckt. Vor seine nackten Füße auf der zerfledderten Zeitung. Ich muss schlucken, als mich ein seltsames Gefühl der Scham überkommt. Ja, ich schäme mich. Dafür, dass ein junger Mensch eine solche Respektlosigkeit aufbringt, in meinem Land, in meiner Stadt, vor meinen Augen. Dafür, dass ich es mit ansehe und ihn nicht zur Rede stelle, stumm verfolgt mein Blick, wie er immer noch telefonierend davon eilt. Ich bin zu perplex. Ich schäme mich und gleichzeitig bin ich unfassbar wütend. Auf die Botschaft, die durch seine Handlung vermittelt wird. Auf die Tatsache, dass ich – dass niemand- eine solche Herabwürdigung eines Menschen wieder gutmachen kann. Ich schäme mich dafür, dass ich mich in meiner Bequemlichkeit darüber ärgere, an einem hektischen Weihnachtsmorgen wegen vergessener Blumen in die Stadt zu müssen, obwohl ich weiß, dass ich einer lieben Person damit eine Freude machen kann. Ich schäme mich für mein ungeduldiges Auf- und Abwippen im Blumenladen, für mein gestresstes Selbst, das sich ärgert über Bahnstreiks, lange Schlangen im Supermarkt oder die Lieferzeiten von Amazon, ich schäme mich für meine Unzufriedenheit und Rastlosigkeit, für meine Undankbarkeit, die an manchen Tagen das eigentliche Leben überschattet. Ich schäme mich dafür, dass auch ich einen Teil des Geschäftsmannes in mir trage.

Mein Blick wandert in das Gesicht des Obdachlosen, es braucht nur noch wenige Schritte, bis ich mit einem Mal vor ihm stehe.

„Guten Tag, Fräulein, ich hoffe Ihnen geht es gut", höre ich seine Stimme und sehe sein zahnloses Lächeln. Ich kann ihm nicht anmerken, dass ihn die Aktion des Geschäftsmannes in irgendeiner Form verletzt hat und ich weiß nicht, ob mich das erleichtert oder schockiert. Ich lächele ebenfalls und sehe in sein Gesicht. Keiner von uns muss zu dem anderen auf- oder abschauen, er steht vor mir, auf Augenhöhe. So, wie es sein soll. Diesmal kaufe ich eine seiner Zeitungen, er möchte nur 70 Cent dafür. Und ich ziehe eine Blume aus dem Strauß, die schönste, wie ich finde. Er soll wissen, dass ich mich schon so lange über seine netten Worte und sein aufrichtiges Lächeln freue. Die Freude darüber in seinen Augen rührt mich tief. Und obwohl dieser Mensch mir gegenüber ein Fremder ist, habe ich das Gefühl, dass die Geste uns beiden etwas bedeutet. Er bedankt sich mehrmals bei mir. Wofür? Er ist im Besitz von so viel mehr als viele andere es sind. Materielles spielt hierbei keine Rolle.

Als ich meine Wohnung erreiche, fühle ich mich, als hätte die Bescherung für dieses Weihnachtsfest bereits stattgefunden. Für mich gab es das tollste Geschenk: Ich habe gespürt, wie wenig es braucht, um eine andere Person einen Moment lang bedingungslos glücklich zu machen. Es gibt es doch: Das Fest der Liebe.

An den lieben Herrn, der jedem von uns bereitwillig ein ehrliches Lächeln schenkt und nur so wenig davon zurück bekommt: Ich wünsche Ihnen eine ganz besonders schöne Weihnacht.

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