Türchen 10

Guten Morgen!

Erlebt mit mir heute eine Geschichte, die mir ganz besonders am Herzen liegt. Ich bin gespannt, ob sie euch genauso berührt, wie mich.

Ich starre auf die leeren Sitze mir gegenüber. Ihre Polster sind verschmutzt, abgewetzt. Sie sehen nicht sehr einladend aus. Aber vielleicht ist das kein Wunder bei den vielen Menschen, die den Bus täglich nutzen.
Ja, ich starre.
Ich glaube, mein Kopf ist leer. Leer und gleichzeitig voll von Ängsten. Voll von Fragen, deren Antworten ich vielleicht bereits längst kenne und doch nicht hören will. Voll von...ihnen.
Mein Blick schweift aus dem großen Fenster neben mir ins endlose Grau dieses Dezembermorgens. Es ist überall, es erdrückt mich beinahe. Nichts als Grau. Wie ein undurchsichtiger Schleier, der sich langsam über mein Gesicht legt und mir zunehmend die Luft zum Atmen nimmt. Schnell sehe ich zurück auf die abgewetzten Bussitze.

Ich denke, mein Freund betrügt mich seit einiger Zeit.

Ich weiß es. Eigentlich.

Der Bus steht noch immer. Er scheint auf irgendwas zu warten, bevor er losfährt. Warten. Ob sich das im Leben lohnt?
Als die Bussitze vor meinen starrenden Augen bereits zu verschwimmen beginnen, schließe ich sie kurz. Sie sind müde, haben viel zu viel gesehen. Bilder schießen durch meinen Kopf. Fotos. Er, mein Freund, mit der Hand am Po dieses Mädchens, zu ihr gebeugt, als wolle er sie küssen, als hätte er sie gerade geküsst. Sie, in ihrem kurzen Kleid, mit tiefem Dekolleté und verführerischem Lächeln, sie hält mein Herz in der Hand und spuckt darauf. Und er? Er lässt es geschehen, hat nur Augen für sie.

Weihnachtsfeier hatten sie es genannt.

Scheiße.


Es sticht irgendwo in meinem Bauch. Es tut weh.

Verlegen wische ich mir eine Träne von der Wange, als sich ein älterer Herr auf dem Platz neben mir niederlässt. Einen Moment lang frage ich mich, weshalb er sich ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hat, immerhin ist um diese Uhrzeit sonst fast niemand im Bus.
Erneut drehe ich das Gesicht zum Fenster und blicke gedankenverloren in das weißgraue Nichts außerhalb des Busses. Ich möchte nicht, dass jemand sieht, wie ich weine. Dass ich weine.

Es ist das Gefühl von Verrat, das mich überkommt. Er hat mich verraten. Er hat mich belogen. Betrogen. Wer mir diese Fotos zugespielt hat? Ich weiß es nicht. Aber jedes davon spricht eine eindeutige Sprache. Nein. Es spricht nicht nur, es schreit. Genauso, wie irgendetwas in mir schreit, laut, durchdringend, markerschütternd, aber ich bleibe stumm. Es ist lediglich ein leises, ersticktes Schluchzen, das mir entfährt, während ich noch immer in die graue Leere starre. Ich fühle mich genauso leer.

Scheiße.

Ruckelnd setzt der Bus sich endlich in Bewegung. Reiß dich zusammen jetzt. Ich versuche, nicht zu blinzeln, damit meine feuchten Augen endlich trocknen. Der dichte Nebel außerhalb des Fensters bietet die perfekte Projektionsfläche für meine Erinnerungen und vor allem für meine Ängste. Ich würde ausziehen müssen, so bald es geht. Ich wäre alleine. Noch vor Weihnachten. Also in den nächsten zwei Tagen.


Weihnachten.

Gerade könnte ich kotzen, wenn ich daran denke. Besinnlichkeit, Ruhe, Harmonie, das alles ruft einen Würgereiz in mir hervor. Ich möchte keine stille Nacht, ich befürchte, sie ist so still, dass ich die Schreie in meinem Kopf höre. Und heilig? Das, was mir heilig war, hat er zerstört. Mit ihr. Sie haben es beide zerstört, als sie-

„Dürfte ich fragen, ob es Ihnen gut geht?", höre ich mit einem Mal eine leise Stimme neben mir. Zu meiner Überraschung bin ich kein bisschen erschrocken, obwohl sie absolut unvermittelt die Stille durchbrochen hat. Ich schlucke und schiele in die Richtung des alten Mannes, der höflich weiter geradeaus schaut, sich nur kaum merklich in meine Richtung gebeugt hat. Aus den Augenwinkeln erkenne ich seinen grauen Vollbart und seine ruhigen Gesichtszüge, er sieht ein bisschen aus, wie ich mir Santa früher vorgestellt habe. Manchmal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als wieder ein Kind zu sein.

Ich nicke nur, wage es nicht, den Kopf vollständig in seine Richtung zu drehen. Ich möchte auf keinen Fall, dass jemand meine Verzweiflung bemerkt. Er regt sich nicht, als ich verschämt wieder aus dem Fenster blicke. Er muss mein Schluchzen vernommen haben, meine Tränen gesehen haben.


„Junge Dame?"

„Es ist alles gut, vielen Dank", lüge ich und sehe weiterhin aus dem Fenster. Er soll bloß mein Gesicht nicht sehen, es würde meine Lüge entlarven. Ich vernehme, dass er sich langsam aus der zu mir geneigten Haltung wieder aufrichtet. Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Er hat es sicherlich gut gemeint.

„Lassen Sie es mich ruhig wissen, wenn Sie den Rat eines alten und erfahrenen Mannes benötigen. Die Fahrt hat schließlich gerade erst begonnen", höre ich seine ruhige Stimme. Nanu? Sehe ich so zerstört aus? Als ich in seine Richtung schiele, sehe ich ein ruhiges Lächeln auf seinen Lippen, den Blick hält er noch immer geradeaus. Es ist höflich, dass er mir nicht so offensichtlich auf die verquollenen Augen starrt. Schließlich sehe ich auf meine Hände, die auf meinen Beinen liegen und schlucke. Einen Moment lang konzentrierte ich mich auf das gleichmäßige Ruckeln des Busses auf dem Asphalt. Was hatte ich schon zu verlieren?

„Haben Sie... schon einmal etwas so Schlimmes gesehen, dass es Ihr gesamtes Leben verändert hat?" Die Fotos. Sie haben alles verändert. Ich wage es nicht, ihn anzusehen. Möglicherweise steht es mir nicht zu, ihm derart intime Fragen zu stellen.
Dann höre ich, wie er leise seufzt.

„Ja. Es gab viele dunkle Momente in meinem Leben. Aber dafür empfand ich das Hell danach umso strahlender. Es ist wichtig, das im Kopf zu behalten, wenn man denkt, dass es nicht weiter geht. Auf Dunkelheit folgt immer Licht. Man kann daran wachsen. Die Dunkelheit kann einen stark machen. Sie lehrt einen, die bunten Dinge im Leben schätzen zu lernen." Wieder sein Santa Lächeln. Ich denke eine Weile über seine Worte nach, während ich aus dem Fenster ins Grau sehe.

„Und was ist mit Grau?" Ich frage einfach. Ohne nachzudenken. Grau ist nicht dunkel und nicht wirklich hell. Und schon gar nicht bunt.


„Vielleicht ist Grau der Weg", höre ich ihn.
„Der Weg von Dunkel zu Hell. Von Ballast und Negativität hin zum Positiven und zu Freiheit."

Der Weg aus einer verkorksten Beziehung in die Selbstständigkeit, denke ich. Warum habe ich eigentlich Angst davor? Das Dunkle liegt doch bereits hinter mir. Es kann nur heller werden. Er hat Recht. Eigentlich ist es beinahe offensichtlich.

„Grau ist außerdem die Farbe der Vergänglichkeit. Irgendwann im Alter, da wird jeder grau", fügt er mit einem Schmunzeln hinzu und bringt mich zum Lächeln damit. Vergänglichkeit. Wie treffend.
Dann merke ich, wie er sich wieder ein wenig in meine Richtung lehnt.

„Und bitte halten Sie mich nicht für arrogant, wenn ich hinzufüge, dass Grau für mich auch in Verbindung mit Weisheit steht. Drum möchte ich Sie bitten: Lassen Sie niemals Ihr Strahlen und Ihre Farben von Dunkelheit und Grau belegen." Er lächelt und streicht sich kurz über den grauen Vollbart. Ich kann nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Er kann unmöglich wissen, in welcher Situation ich mich befinde und doch trifft jedes seiner Worte genau darauf zu. Er ist derjenige, der alles Grau gerade aus meinem Kopf treibt. Vielleicht sehe ich klarer als je zuvor.
Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, ob es Zufall war, dass er ausgerechnet heute den Platz genau neben mir gewählt hat, an einem frühen Samstagmorgen in einem leeren Bus.


„Was ist Ihre Lieblingsfarbe?", frage ich und höre ihn seufzen. Einen Moment lang ist es still, während er noch immer aus der großen Windschutzscheibe des Busses vor uns auf die leeren Straßen sieht.

„Ein intensives Blau, wie das der tiefen und unergründlichen Ozeane." Die Vorstellung bringt mich zum Lächeln. Einen Moment lang empfinde ich es sogar als traurig, dass ich an der nächsten Haltestelle bereits aussteigen muss. Ich hätte niemals gedacht, dass es mir so viel bringt, mich auf das Gespräch mit ihm einzulassen.

„Vielen Dank für Ihre wunderbaren Worte. Ich muss leider gleich aussteigen", höre ich meine Stimme, während ich bereits meine Tasche vom Boden nehme. Als ich mich dann erstmalig wirklich zu ihm drehe, bin ich verblüfft: Seine Ähnlichkeit zu Santa ist tatsächlich beeindruckend. Wenn ich jünger wäre, könnte dieser Moment der magischste meines bisherigen Lebens sein. Wenn meine Vernunft nicht die Notbremse meiner Fantasie wäre, würde ich schwören, gerade mit ihm gesprochen zu haben.

„Nichts zu danken, liebes Mädchen. Und vergessen Sie nicht: Man sieht sich immer zwei mal im Leben." Er lächelt, bevor er nach etwas greift und aufsteht, um mich aus der Sitzreihe zu lassen. Aber ich muss einen Moment sitzen bleiben, bis ich begreife, was gerade geschieht. Es ist ein Blindenstock, der ihm zur Hilfe dient.
Erst als der Bus bereits hält, gelingt es mir, langsam aufzustehen und aus der Tür zu treten. Völlig verblüfft bleibe ich an der frischen Luft stehen, während der Bus wieder davon fährt. Die kalten Temperaturen lösen meine Überraschung ganz allmählich, mir wird klar, was soeben geschehen ist: Es war ein Blinder, der mich gerade die Farben des Lebens gelehrt hat. Ein Mensch, umgeben von viel Dunkelheit, der mich das Helle hat sehen lassen. Jemand, der mich nicht sehen konnte und mich dennoch viel klarer gesehen hat als alle jemals zuvor. Blau war seine Lieblingsfarbe. Und selbst, wenn er das intensive Blau der tiefen und unergründlichen Ozeane noch nie gesehen hat, war ich mir sicher, dass sein Leben bunter war als das der meisten Menschen. Er hatte meins bunt gemacht. Auf dieser Fahrt.

Als ich in den Himmel sehe, bemerke ich einen Riss in der grauen Wolkendecke, einige Sonnenstrahlen fallen hindurch. Wie soll es auch anders sein.

Und besonders auf eine seiner Aussagen lege ich all meine Hoffnung: Man sieht sich immer zwei mal im Leben.


An alle, die auch etwas Bunt verschenken möchten:

https://youtu.be/GQLcXapmUIY

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