Türchen 1

Herzlich Willkommen zu meiner ersten Erzählung auf dem Weg in Richtung Heiligabend. Ich hoffe, ihr könnt sie genießen. 

Mila <3


Für Marie hatte Weihnachten immer etwas Magisches, denn mit einem Mal verwandelte sich die komplette Stadt in eines der Bilder ihres Lieblingsbuches. 

Besonders ihr zu Hause glich einem Winterwunderland, wenn ihre Mutter den selbst gebastelten Weihnachtschmuck aufhängte und ihre Großmutter kistenweise Plätzchen anschleppte, die unmöglich alle in der Weihnachtszeit gegessen werden konnten und doch jedes Jahr aufs Neue leer wurden. Marie mochte die mit der Schokoglasur am liebsten und wenn ihre Oma beim Backen nicht hinsah, dann naschte sie schon den rohen Teig. So viel, bis sie einen Teigbauch hatte. Heimlich schmunzelte sie am Ende, wenn alle sich wunderten, weshalb so wenig Plätzchen aus dem vielen Teig entstanden.

Sie liebte aber auch die gemeinsamen Nachmittage vor dem Kamin, nur mit Weihnachtstee und Oma, die aus einem alten Märchenbuch vorlas. Irgendwann, so sagte Oma immer, sollte Marie auch mal Geschichten schreiben, so wie die Brüder, die das große, alte Buch geschrieben hatten, aus dem sie selbst vorlas. Es roch schon nach Märchen, sobald Oma es aufklappte. Marie war sich nie sicher, aber sie glaubte, sie hießen Grimm. Vielleicht würde sie Oma wirklich den Gefallen tun und irgendwann selbst eine Geschichte schreiben, aber wenn, dann über Weihnachten und Plätzchen, über Schnee und Tee und Kerzen und Musik und gute Gerüche. 

Was Marie jedoch am meisten faszinierte, war die festlich geschmückte Kirche, neben der sie wohnte und in der ihr Vater arbeitete. Zu Beginn der Weihnachtszeit fing er an, die Kirche unter dem wachsamen Blick des Pfarrers zu schmücken, überall hingen Tannengirlanden mit Schleifen und Glaskugeln. Genau wie in Maries Büchern. Manchmal durfte sie helfen, durfte ein paar Kisten mit Weihnachtsschmuck ausräumen oder Bilder malen, die aufgehängt wurden. Aber immer, wenn sie ihrem Vater bei der Arbeit zusah, wusste Marie schon: Da kommt etwas ganz Großes. 

Der Höhepunkt war die Ankunft des riesigen Weihnachtsbaumes, der neben dem Altar platziert wurde. Es dauerte beinahe einen ganzen Tag, bis die Tanne endlich an Ort und Stelle stand und noch einen weiteren, um die Dutzend Strohsterne, die von den älteren Damen beim Kirchenkaffeekranz gebastelt wurden, daran zu befestigen. Oft kamen sie in die Kirche um zu helfen. Marie bemerkte jedes Mal, wie sehr die Frauen sich freuten, als sie ihren gebastelten Stern am Christbaum sahen. Ihre Augen glitzerten dann immer, so wie Omas Augen glitzerten, wenn sie aus dem alten Zauberbuch vorlas. Ob die Damen auch von den Geschichten wussten? Von den Brüdern, die sie geschrieben hatten? 

Es gab eine alte Dame, die Marie besonders gerne mochte, sie hatte ihre langen, grauen Haare immer zu einem hohen Dutt gebunden. Sie roch nach Lavendel, hatte, so dachte Marie, für jedes Lebensjahr eine Falte im Gesicht. Und sie hatte immer Plätzchen oder Kekse dabei, von denen Marie naschen durfte, während sie zusah, wie all die Sterne aufgehängt wurden. Aber es war ein Geheimnis, dass sie so viel naschen durfte, das Geheimnis von ihr und der alten Dame. Sie bastelte immer den schönsten Stern. 

Während ihr Vater damit beschäftigt war, den Kirchenschmuck zu perfektionieren, wanderte Marie meist durch die verschlungenen Gänge der Kirche. Sie war beeindruckt von den bunten Fenstern und den leuchtenden Kerzen überall. Es war immer warm in der Kirche, deshalb kamen auch oft Leute von draußen und sahen einfach zu. Marie freute sich, wenn Besuch kam, sie war stolz, wenn jemand ihre gemalten Bilder an der Wand sah. Manchmal zählte sie die Gäste und schrieb abends in ihr Tagebuch, wie viele Menschen ihre Bilder heute angeschaut hatten. Vielleicht wäre das später ein Teil von ihrer Weihnachtsgeschichte, die sie für Oma schreiben würde.

Ganz besonders war der Tag, an dem die Weihnachtskrippe aufgestellt wurde. Sie war größer als die von Maries Eltern und hatte auch mehr Figuren, und daher liebte Marie es, damit zu spielen. Meist sortierte sie die Figuren neu, bis ihr Vater sie ermahnte und alles wieder an seinen Platz stellte. Er verstand ihre Geschichten nicht, die sie damit erzählen wollte, er sagte immer, es gäbe schon eine Geschichte, die die Figuren darstellen sollen. Marie wunderte sich über ihren Vater, wieso sollten die Figuren nur eine einzige Geschichte darstellen, wenn die Brüder aus dem Märchenbuch so viele erzählten? So ging es beinahe jeden Tag. Marie liebte es, sich ihre ganz eigenen Geschichten zu erfinden.

Am Nachmittag vor Heiligabend vergaß ihr Vater jedoch, die Figuren wieder an ihren richtigen Platz zu stellen. Vielleicht hatte ihm Maries Geschichte dahinter diesmal so gut gefallen, dachte sie, als sie auf der Kirchbank saß und auf die Krippe sah. Vielleicht war ihr Vater stolz, dass Marie nicht nur viele Bilder gemalt hatte, sondern auch eine Geschichte erzählen konnte. Sie musste unbedingt darauf achten, ob Omas Augen auch diesmal glänzen würden. Und die der alten Dame mit den Keksen, die nach Lavendel roch. An Heiligabend hatte sie immer eine glitzernde Brosche an der Bluse. Ja. Dieses Jahr würden sie alle Maries Geschichte sehen, zum ersten Mal.
Als der Gottesdienst begann und der Pfarrer anfing zu predigen, hörte Marie ein Raunen der Kirchgänger, viele bemerkten die Veränderung an der Krippe, ihre Geschichte: Neben dem Jesuskind saß eines der Schafe der Hirten, das aufpasste, Maria hatte ihren Kopf aus dem Fenster des Stalles gesteckt, um all die Gäste zu empfangen, die sicherlich kommen würden, die Heiligen Drei Könige waren wie eine menschliche Pyramide übereinandergestapelt, sie führten zur Freude des Tages ein Kunststück vor und eines ihrer Kamele thronte mitten auf dem Dach der Krippe. 

Sie sah, wie die Menschen in der Kirche lächelten, manche lachten sogar. Ja, sie freuten sich über ihre Geschichte. Es machte Marie stolz zu wissen, wie sehr die Leute ihre Ideen mochten, aber sie würde es für sich behalten, dass sie sich diese Geschichte ausgedacht hatte, es sollte ein Geheimnis sein, so wie das Naschen der Plätzchen. Bestimmt würde jetzt auch ihr Vater verstehen, dass es den Leuten gefiel, was Marie sich ausdachte, und würde nicht immer alles wieder zurückstellen. Kurz drehte sie sich auf der Kirchbank um und sah die alte Frau, die hinter ihr saß, mit den vielen Lebensfalten, der schillernden Brosche und dem Lavendelduft, der sich in Maries Nase schlich. Ihre Augen funkelten, als sie Marie ins Gesicht sah, bestimmt wusste sie, wer hinter der Krippengeschichte steckte. Sie lächelte, so wie Oma und Papa, so wie fast alle, die jetzt in der Kirche waren und Marie strahlte am meisten, denn sie hatte es ihnen allen gezeigt: Es gab niemals bloß eine Weihnachtsgeschichte.

An all die Kinder, deren grenzenlos blühende Fantasie manch Erwachsener nicht begreifen kann: Ihr seid meine Helden!

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