Kapitel 6 - Len

Ich hasse den Winter. Es ist zu kalt, zu nass, zu weiß. Eisiger Wind der stürmisch durch meine Haare fährt, das geordnete Chaos versucht aus seiner Linie zu stürzen. Die Ohren schmerzen von hauchfeinen Nadelspitzen, die hundertfach in stetigen Rhythmus durch die empfindliche Haut dringen. Meine Schuhe halten den Massen an Schnee nur bedingt Stand, schon längst ist das braune Leder durchweicht und Nässe wandelt sich in eisige Kälte. Habe ich schon erwähnt, dass ich den Winter hasse? Seit gefühlten Stunden stehe ich vor einem extrem schicken und teuer aussehenden Steakrestaurant und reibe mir die von der frostigen Kälte schmerzenden Hände. Meine Fingerspitzen beginnen bereits zu kribbeln und nervös hüpfe ich von einem Fuß auf den anderen. Auch um die Kälte in meinen Gliedern zu vertreiben und meinem ruhelosen Herzen etwas Ablenkung zu verschaffen.

Doch etwas erwärmt meinen zitternden Leib, Hitzewallungen begleiten meinen Alltag seit einer schicksalshaften Begegnung im Central Park. Ein Gedanke an den Grund, warum ich mir hier mit klappernden Zähnen und einer Nase so rot wie die von Santa Claus Rentier, die Beine in den Bauch stehe und mir meinen süßen Hintern abfriere. Jeffrey. Allein sein Name klingt so wunderschön und verträumt betrachte ich den Fall der Schneeflocken, wie sie auch die letzten Millimeter Flecken Erde unter sich begraben. Der Anblick ist so friedlich, trotz des geschäftigen Treiben um mich herum. Frauen beladen mit Tüten voll Lebensmittel und Geschenken für die bevorstehenden Feiertage, Männer mit dunklen Mänteln und mattem Ausdruck in den müden Augen. Sie alle wuseln um mich herum, eilen der Zeit hinterher, die niemals stillsteht. Nicht so wie meine Welt es vor zwei Tagen tat.

Nach dem Kuss und einem Kennenlernen der etwas anderen Art, stellte mir Jeffrey seine Schwester und meinen persönlichen Weihnachtsengel vor. Ich verzichte dieses Jahr auf alle Geschenke, denn dieses Date mit dem Mann aus meinen Träumen ist so viel mehr, als ich jemals zu Hoffen gewagt habe. Nicht das es in meiner Familie viele Geschenke geben würde, aber die Metapher trifft es ganz gut. Meine Eltern hatten nie viel Geld, sie gaben ihr Bestes um eine Zukunft für ihr einziges Kind zu erschaffen. Eine Zukunft weit entfernt von der Enge Jakartas und dem täglichen Kampf ums überleben. Am Wichtigsten war immer, dass wir zusammen sein konnten. Das war nicht immer so.

Ich erinnere mich an Jahre der Einsamkeit. Mein Vater, der europäische Touristen durch Tempelanlagen schleuste und meine Mutter, die nach einer langen Woche und unendlich vielen gesäuberten Hotelzimmern noch immer lächelte. Meine Kindheit in Indonesien war nicht einfach. Ich war oft und früh auf mich gestellt, ging zur Schule und verbrachte meine freie Zeit mit Lernen. Denn ich habe es meinen Eltern nachgemacht und nie aufgegeben. Egal wie scheiße alles war und egal wie sehr ich mich hasste, so hielt ich mich an ihren Plan und der Verwirklichung meines Traumes. Ein Studium in Amerika und ein Leben in Freiheit. Das ich ausgerechnet hier in New York auf meinen Traummann stoße, ist noch immer schwer zu begreifen.

Wie oft habe ich mir seit dem ersten Blick auf das Foto von Jeffrey vorgestellt ihm nahe zu sein? Wie oft seinen Geruch in meinen Gedanken zugeordnet, welcher männlich herb mit einer frischen Note genau dem entsprach, was ich mir vorstellte. Er schmeckte unglaublich gut nach Äpfeln und Gewürzen. Seine weichen Lippen waren kalt, schmiegten sich perfekt an die meinen und ich verlor mich in dem Moment als meine Zunge die seine berührte. Ein Feuerwerk aus Farben explodierte hinter meinen geschlossenen Lidern und mit jeder Sekunde glitt ich tiefer in den Abgrund meiner Lust. So hatte ich es mir immer vorgestellt. Mein erster Kuss mit einem Mann sollte all die angestauten Emotionen und Gefühle freisetzen, welche ich solange unterdrücken musste.

Viele Jahre trug ich neben meiner Sehnsucht auch Angst in meinem Herzen. Viele Jahre versuchte ich mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde einen Mann zu küssen. Ich hatte Angst, dass kein Feuerwerk in meinem Inneren explodieren würde und stattdessen bittere Ernüchterung mich von innen heraus auffraß. Das genaue Gegenteil ist eingetreten und mein erster Kuss war perfekt so wie er war. Aufgeregtes Kribbeln am ganzen Körper, Herzrasen so schnell wie die New Yorker Ubahn, explodierendes Feuerwerk und jede Menge bunter Farben. Um uns herum erstrahlte die Welt in jungfräulichem weiß und das saftige grün der Tannen wurde überdeckt von funkelnden Lichtern aus Abermillionen Sternen.

Bevor ich mich im Rausch der Emotionen verlieren konnte, zog ein kleiner Rest Verstand mich zurück in die Wirklichkeit und erschrocken blickte ich in Jeffreys schönes Gesicht. Sein Blick war verklärt und eindeutig erregt. Ich sah den Schleier und es war mir mehr als unangenehm ihn so dermaßen überfallen zu haben. Hektisch stammelte ich eine Entschuldigung und bemerkte zu spät, dass ich in meine Muttersprache verfiel. Jeffreys aufrichtiges Lächeln ließ meine Knie noch weicher werden als unser Kuss es sowieso schon tat. Schnell war klar, dass wir beide das gleiche wollten. Ein Date und etwas Zeit zu zweit.

Warum ist er dann jetzt nicht hier? Ich verstehe es nicht. Hat er es sich anders überlegt? Hat er es vergessen? Mich vergessen? Den ganzen Tag tigerte ich durch mein kleines Zimmer, verbrachte Stunden im Bad um jedes noch so winzige störende Haar von meinem Körper zu vertreiben. Dreimal zog ich mich um, betrachtete meine getroffene Wahl skeptisch im Spiegel und schüttelte seufzend den Kopf. Schwarze Stoffhose, hellgraue Jeans oder doch schwarz? Farbenfrohes Hemd, lässiges Shirt oder Dinnerjacket? Krawatte, Querbinder oder sportlich leger? Ich hatte keine Ahnung. Also entschied ich mich kurz vor Verlassen der Wohnung für eine dunkelblaue Hose und einen leichten hellblau-graumelierten Pulli. Mit jedem Schritt näher an mein Ziel wuchs die Nervosität und mein Herz hatte beschlossen einen neuen Rekord im Dauerlauf zu erreichen.

Als ich vor dem Restaurant ankam, schwitzte ich trotz der Kälte um mich herum und hoffte, dass meine Frisur nach wie vor saß und der Eyeliner keinen Schaden erlitten hatte. Mein Gesicht fühlte sich erhitzt und gerötet an. Das ganze Gegenteil zu meinem jetzigen Zustand. Es ist so wahnsinnig kalt und schon länger verfluche ich mich und meine Nervosität. Den ganzen Tag ging mein Blick alle fünf Minuten zur Uhr und zeitgleich checkte ich meine Nachrichten. Immer in der Hoffnung, dass Jeffrey sein Wort hielt und mich zur vereinbarten Zeit vor dem Restaurant traf. Eine fadenscheinige Ausrede warum er sich doch nicht mit mir treffen konnte, hätte ich schwer verkraftet. Mittlerweile denke ich, dass genau dieses Szenario eintreten wird. Ich warte bereits über dreißig Minuten, keine Nachricht, kein Anruf, kein gar nichts. Und es sind auch keine dreißig Minuten, es ist fast eine Stunde.

Ernüchternde Gewissheit und die mitleidigen Blicke von Gästen die das Restaurant betreten oder verlassen. Es fühlt sich alles andere als gut an, war ich mir doch so sicher, dass Jeffrey es ebenso wollte. Immerhin hat er mich eingeladen. Wahrscheinlich hat ihn aber auch meine harsche Gegenwehr dazu verleitet, mich doch nicht treffen zu wollen. Ganz Gentlemanlike fragte er mich nach der Adresse meiner Wohnung und ich verlor jegliche Art rationalen Denkens. Ich stammelte etwas von unnötig und Umweg, keine Umstände und ich würde den Weg ins Restaurant schon alleine finden. Nein, ein abholen oder warten vor der Tür kam nicht in Frage. Nicht für alles Geld der Welt hätte ich zugelassen, dass Jeffrey sieht in welchen Verhältnissen ich lebe. Doch jetzt erscheint es mir ein Fehler gewesen zu sein. Ich hätte wenigstens im Warmen gesessen und meinem Selbstmitleid dabei zugesehen, wie es ins unendliche wächst.

Eine eisige Windböe streift über meine Haut im Nacken und lässt eine Armee Kälteschauer ihren Marsch antreten. Fröstelnd und mit klappernden Zähnen ist die sich ausbreitende Gänsehaut mein Stichwort. Hiermit erkläre ich den Abend und das Date offiziell für gescheitert. Es war eine meiner dümmsten Ideen mich hierauf einzulassen. Wie konnte ich auch nur glauben, dass ein Mann mit dem Aussehen von Jeffrey sich ausgerechnet für einen armen indonesischen Jungen interessiert?
"Itu ide yang bodoh. Len Agung. Benar benar hebat", sage ich enttäuscht und laufe die Straße entlang in Richtung Norden und zur nächstgelegenen U-Bahn Station.

Mit hochgeschlagenem Kragen um wenigstens den Hauch eines Schutzes vor dem eisigen Atem des Winters zu haben und mit von der Kälte geröteten, schmerzenden Händen tief in den Taschen meines Mantels vergraben, laufe ich gesenkten Hauptes durch die Straßen von New York. Mein Weg endet schlagartig und ich pralle mal wieder gegen einen großen harten Körper. Starke Hände dämpfen meinen Aufprall, verhindern wie bei unserem ersten Kuss, dass mein Hintern Bekanntschaft mit dem kalten gefrorenen Boden macht.
"Wohin des Weges?", ertönt die sanfte Stimme von Jeffrey und ich blicke erleichtert in sein schönes Gesicht. Seine Wangen sind gerötet und die Augen glänzen, helle Lichtpunkte tanzen in seinen blauen Iriden. Die Beleuchtung um uns herum zeichnet einen warmen sanften Schimmer auf sein nachtschwarzes Haupt. Der Mund formt ein entschuldigendes Lächeln. Nur einen Moment schließe ich meine Augen und atme seinen Geruch ein. Er riecht unglaublich gut, eine Mischung seines After Shaves und der Reinheit frisch gefallenen Schnees. Seine Haare sind das reinste Chaos, aber das ist mir egal. Es verleiht ihm eine leidenschaftliche Ausstrahlung.

"Es tut mir so unglaublich leid Len. Ich verspäte mich selten und wenn doch, dann melde ich mich immer. Aber ausgerechnet heute ist der Akku meines Handys leer und ich kenne deine Nummer noch nicht auswendig."
"Mit der billigen Ausrede kommst du?", frage ich beleidigt und schüttele enttäuscht den Kopf. Das alles hier habe ich mir so anders vorgestellt.
"Das ist keine Ausrede. Ich habe gearbeitet und eine lange Schicht hinter mir. Es passiert öfter das mein Han..."
"Ich habe eine Stunde auf dich gewartet. Mir ist kalt und ich möchte jetzt nach Hause", unterbreche ich ihn und werde mit jedem Wort das ich sage leiser. Mir ist noch immer eiskalt und ich bin enttäuscht. So wahnsinnig enttäuscht und auch traurig. Ich schlucke trocken, der Kloß in meinem Hals droht mir die Luft abzuschnüren. Ist es Enttäuschung oder Angst? Fakt ist, das hier, ist meine erste Verabredung mit einem Mann, mit dem ich nicht befreundet bin. Es ist ein Date. Mein erstes. Ob Mann oder Frau. Mein erstes Date mit einem anderen menschlichen Wesen, welcher mich bereits schon jetzt so verrückt macht.

"Was? Warum?", fragt Jeffrey und ich kann deutlich die Verwirrung in seiner Stimme hören.
"Es tut mir leid... ich wollte... ich bin verwirrt. Du hast zugestimmt, dass wir uns vor dem Restaurant treffen und ich habe gewartet und gefroren. Ich dachte, du hast es dir vielleicht anders überlegt. Die Ausrede mit dem leeren Handyakku kenne ich aus Filmen. Die ist ganz schlecht."
"Es ist keine Ausrede", erwidert Jeffrey. Mit festem Griff hält er mich gefangen, so als würde ich jeden Moment verschwinden. Ein kleiner Teil in mir schreit: 'Wehe du ziehst jetzt den Schwanz ein Len Raman. Das hier ist alles was du je wolltest.' Ein noch größerer Teil allerdings flüstert: 'Lauf.' Und als könnte er die Stimmen in meinem Kopf und ihren Wettstreit hören, verlassen Jeffreys Hände meine Oberarme, gleiten über den dunklen rauen Stoff meines Mantels. Seine Hände verschwinden in den Taschen meines Mantels. Wärme legt sich auf Kälte und Jeffrey verzieht mitleidig sein Gesicht.

"Bitte bleib", flüstert er. "Und lass mich erklären.
"Okay", antworte ich ebenso geflüstert.
"Du hast eiskalte Hände. Das ist nicht gut. Warum bist du nicht ins Restaurant gegangen? Mein Schwager hält einen Tisch für uns frei. Du hättest nicht in der Kälte stehen müssen", sagt er und ich kann nichts weiter als ihn ungläubig anzustarren. Woher hätte ich das wissen sollen?
"Woher hätte ich das wissen sollen?", frage ich.
"Len, es tut mir schrecklich leid. So habe ich mir diesen Abend nicht vorgestellt", antwortet er seufzend. Nein, ich mir auch nicht. In meiner Vorstellung war es so ganz anders und enttäuscht lasse ich meinen Kopf sinken, damit die verräterischen Tränen in meinen Augen ihm nicht das ganze Ausmaß meines Schmerzes zeigen.

☃️🎄🎁

Was Len sagt:
Itu ide yang bodoh. Len Agung. Benar benar hebat.
Das war eine bescheuerte Idee. Ganz toll Len. Echt super.

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