Kapitel 12 - Len
Ich will ihn. Ich will das er mich küsst, als wären dies hier die letzten Sekunden unseres Lebens. Ich will das er mich streichelt, sanft und zärtlich. Ich will das er meine Haut berührt, an jeder Stelle meines Körpers und ekstatische Wellen durch meinen bebenden Leib schickt. Ich will das er mich liebt als gäbe es kein Morgen und wir zwei die letzten verbliebenen Menschen auf diesem Planeten. Ich will das er mit mir schläft, als hätten wir nie etwas anderes getan. Ich will, dass Jeffrey der Mann in meinem Leben ist, welcher Glück und Leidenschaft, Liebe und Ekstase vereint. Ich will Jeffrey.
'Wenn du mich willst.' Vier kleine Worte und doch bedeuten sie so viel mehr. Ist es verrückt, dass wir unweit des Restaurants in liebevoller Umarmung liegen? Ist es verrückt, dass meine Lippen sich nach seinen sehnen? Ist es verrückt, dass meine Hormone einen Marathon laufen und das aufgeregte Prickeln der Vorfreude sich gerade schwallartig entlädt? Nein. Denn es ist alles gut so wie es ist und normal, dass zwei erwachsene Männer mitten auf dem Gehweg umgeben von tanzenden Schneeflocken und hastigen ruhelosen Gestalten in inniger Vertrautheit stehen. Mein Herz rast und ich lecke mir über die trockenen und bereits kalten Lippen. Alles um uns herum ist verschwommen, die Flocken tanzen unermüdlich ihren Reigen, hüllen uns ein in einen weißen kalten Mantel.
"Len", haucht Jeffrey. Sein Arm verlässt meine Schulter und schlingt sich stattdessen um meine Taille. Er drückt mich sanft aber bestimmend an seinen Körper. Deutlich zeigt er mir was er will. Eine Hand in meinem Nacken sorgt dafür, dass es kein Entrinnen aus dieser Situation gibt. Gierig, wie ausgehungert, stürze ich mich auf seine verführerischen Lippen und kann kaum glauben, dass ich wieder einmal den ersten Schritt gewagt habe. Denn ich will nichts anderes, als die süße Sünde seiner Lippen kosten. Im Einklang bewegen wir uns so als hätten wir nie etwas anderes getan. Vertraut und geborgen fühlt es sich an. Jeffrey zögert nicht, genießt diesen Kuss ebenso wie ich. Sein Daumen streichelt über meinen Nacken, streift die kurzgeschorenen Haare und eine Gänsehaut unbekannten Ausmaßes überfliegt meine Haut.
Ein leises Stöhnen dringt aus meiner Kehle, seine gespaltenen Lippen empfangen den Laut. Schmetterlinge breiten ihre samtweichen Flügel aus, wohlige Wärme durchströmt meinen Leib. Süß und zart gleiten unsere Lippen übereinander, sprechen eine gemeinsame Sprache. Es fühlt sich richtig und gut an, nicht verdorben und ein Grund für Zweifel.
"Len, kommst du noch mit zu mir?", fragt Jeffrey leise und die Welle seiner Worte vibriert an meinen Lippen. Zu gerne würde ich ihn weiter küssen und mich einfach diesem Moment hingeben. Doch seine Worte bringen mich zurück auf die schneebedeckte Straße und meine Antwort klingt unnatürlich laut in meinen Ohren.
"Ich dachte schon du fragst gar nicht mehr. Du schuldest mir ein Dessert." Ich liebe sein strahlendes Lächeln und die funkelnden Augen. Sie verjagen jegliche Kälte und tiefstes trostloses Grau wandelt sich in einen prächtigen lodernden Regenbogen. So auch jetzt und ich wünschte, es könnte für immer so sein.
"Dann lass uns endlich gehen," sagt er, löst seinen Griff um meine Taille und verschränkt sogleich unsere Finger miteinander. Warme Haut umgibt mich und ich fühle mich unendlich wohl an seiner Seite.
Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her und ich folge ihm blind. Ich bin froh, dass Jeffrey nicht wissen möchte wie ich lebe. Mein Zimmer gleicht mehr einer Abstellkammer und das Viertel ist nicht unbedingt eines, in dem man seine Kinder an schönen Sommertagen auf der Straße spielen lassen kann. Leichte Zweifel regen sich ob Jeffrey über all die Schattenseiten, meine Herkunft, die Armut meiner Familie, hinwegsehen kann.
"Ich bin froh, dass du nicht die Flucht ergriffen hast", durchbricht er die Stille und meine Gedanken, welche viel zu laut durch meinen Kopf rasten.
"Warum?", frage ich verwundert.
"Wegen Brian. Ich hätte viel früher etwas sagen sollen."
"Mach dir keine Gedanken. Du konntest doch nichts für sein Verhalten", entgegne ich und bin froh, dass er derjenige von uns beiden ist, der das Thema zur Sprache bringt.
"Doch Len. Seine Flirtversuche waren so offensichtlich und er hat sich dir gegenüber absolut nicht fair verhalten. Ich weiß auch nicht was heute mit ihm los war. Er ist sehr professionell. Eigentlich."
"Bist du öfter mit anderen Männern im Restaurant?", frage ich und mein Herz schlägt schnell in der Erwartung seiner Antwort.
"Nein. Ich bin meistens allein da. Mit Kevin war ich einmal da. Kurz bevor er zu seinem letzten Einsatz berufen wurde. Er aß nicht gerne Fleisch. Tammy dagegen liebt Fleisch und könnte Unmengen davon verdrücken. Wenn es unsere Zeit zulässt, dann gehen wir auch schonmal in den Temple. Aber meistens machen wir etwas gemeinsam mit Kate."
"Dann hast du deine Antwort. Tammy ist als Frau keine Bedrohung für ihn. Ich dagegen schon eher", sage ich.
"Ja schon. Trotzdem ist es unprofessionell und er wird die Konsequenzen tragen müssen. Ich kann da nichts für ihn tun. Und das möchte ich auch nicht. Mir ist es wichtig, das du dich wohlfühlst. Alles andere ist egal", antwortet er.
"Was für Konsequenzen?", frage ich neugierig.
"Scott und Ethan Williams. Du hast mit ihnen geredet", ertönt sogleich die Antwort und ein leises Kichern verlässt seinen Mund. Ich habe keine Ahnung wovon er redet.
"Die beiden Männer am Tisch neben uns?" Ich nicke. Ja, einer von ihnen hieß Scott.
"Sie sind seit Jahren verheiratet und gute Freunde von Dorian. Beide sind stille Teilhaber. Ich wollte nichts sagen. Die Angestellten wissen es nicht. Es ist auch nicht wichtig. Aber sie werden Dorian von Brians Verhalten berichten. Dessen bin ich mir sicher." So ist das also.
Und wieder Stille. Wir haben alles gesagt. Es ist nicht wichtig wer was hätte sagen müssen oder ob es klug war ausgerechnet in dieses Restaurant zu gehen. Der restliche Abend und die kommende Nacht liegen vor uns. Dunkelheit überzieht den wolkenverhangenen Himmel, der Schnee fällt noch immer in kleinen Sternen auf uns hinab. Jeffrey hält meine Hand, sein Daumen streichelt immer mal wieder über die Haut und ich genieße jede liebevolle Geste in vollen Zügen.
Das laute dröhnen schwerer Motoren und das schrille akustische Signal eines herannahenden Feuerwehrwagens lässt Jeffrey ruckartig inne halten. Wir stehen an einer Kreuzung, bereit die Straße zu überqueren und Jeffrey hält mich am Arm zurück, schiebt seinen Körper leicht schützend vor meinen. Sein Blick verfolgt das rote Ungetüm und seine Augen weiten sich plötzlich als ein Krankenwagen in rasantem Tempo dem Feuerwehrwagen folgt. Dieses Geräusch gehört einfach zu New York wie die Freiheitsstatue oder das Empire State Building. Ständig und überall hat man das Gefühl, ein Polizei-, Feuer-oder Krankenwagen saust mit horendem Tempo an einem vorbei. Das nachhaltige Dröhnen in den Ohren ist schmerzlich und jagt mir immer einen eiskalten Schauer über den Rücken. Keine vier Wochen ist es her, dass ein Verkehrsunfall den Teil der Stadt lahm legte, in dem ich gerade meine Runden drehte und versuchte die bestellten Pizzen noch heiß und frisch an den Mann zu bekommen. Massenkarambolage und ich mit meinem Roller zwar nicht mittendrin aber dennoch nah genug am Geschehen. Die Signaltöne der Krankenwagen durchbrachen die Hektik und Dunkelheit der Stadt. So auch jetzt und das orange-rote blinkende Licht hebt die Furchen auf Jeffreys gekräuselter Stirn hervor. Dunkle Täler voller Fragen und der Druck auf meine Hand verstärkt sich. Eingehend betrachte ich seine Mimik und speichere jede noch so kleine Regung. Die sturmgetränkten Augen liegen matt in den Höhlen und mich beschleicht das ungute Gefühl, dass Jeffrey gerade ein Deja-vu durchlebt. Ich kenne das Gefühl und es ist alles andere als schön. Bilder die man lieber vergessen wollte und das beklemmende Drücken in der Brust.
"Jeffrey?", frage ich sanft. Ich will ihn nicht erschrecken. Seine Gedanken sind noch nicht wieder bei mir.
"Jeffrey, ist alles okay?"
"Was? Ja. Natürlich. Entschuldige bitte."
"Jetzt frage ich dich. Wo warst du mit deinen Gedanken?" Ich spreche leise, nur für uns zu hören. Das Rauschen der Autos und das stetige Hupen der Taxen hört auch zu dieser späten Zeit des Tages nicht auf. Obwohl es bereits deutlich leiser als in den vergangenen Stunden ist, so ist auch dieses Geräusch ein ständiger Begleiter in dieser so schönen Stadt.
"Bei einem Verkehrsunfall. Ich habe auf dem Rücksitz eines Kleinwagens gekniet und ein Baby entbunden. Aber lass uns nicht jetzt darüber reden. Die Erinnerung hat mich gerade eingeholt weil ich die Frau kenne. Lass uns gehen Len."
Fasziniert blicke ich in sein Gesicht. Er wendet seinen Blick nach links und wieder zurück auf die rechte Seite, zieht mich über die Straße und ich folge leicht stolpernd.
"Erzählst du mir davon?", frage ich und hänge wie gebannt an seinen Lippen.
"Ich war auf dem Weg ins Krankenhaus..."
"In welchem arbeitest du?", unterbreche ich ihn und Jeffrey zeigt mir sein strahlendes Lächeln. Ich liebe es.
"Du lässt mich ja nicht mal ausreden. Ich arbeite im NY Medical Center. In der Notaufnahme. Seit drei Jahren mittlerweile. Es ist stressig. Aber ich liebe meinen Beruf. Ich wusste früh das ich Arzt werden möchte. Während meiner Zeit im Krankenhaus waren alle freundlich und hilfsbereit. Die Pfleger und Schwestern verständnisvoll und jeder einzelne um mein Leben bemüht. Das wollte ich zurückgeben und strengte mich doppelt so stark an um die entsprechenden Leistungen zu erbringen", sagt er und schwelgt in der Erinnerung an die jetzige und eine vergangene Zeit.
"Ich war schon mal in dem Krankenhaus", sage ich mit gerunzelter Stirn und versuche mich zu erinnern.
"Ja. Ich bin mir ziemlich sicher. Das ist knapp zwei Jahre her und ich war gerade erst in New York angekommen."
"Was ist passiert?", fragt Jeffrey und ich höre leichte Besorgnis aus seiner Stimme heraus. Es ist mir etwas peinlich und auch überhaupt nicht witzig. Ich habe Glück gehabt. Jedoch ist der Besuch in einer überfüllten Notaufnahme nicht unbedingt etwas, was man gerne und jeden zweiten Tag erleben möchte.
"Ich bin die Treppe hinunter gefallen. Total peinlich", sage ich leise. Vielleicht verschluckt der Lärm der Stadt ja meine Worte. Aber dem ist natürlich nicht so. Jeffrey drückt fest meine Hand und gibt mir Zeit für die Entscheidung, ob ich darüber reden möchte. Oder auch nicht.
"Was hattest du für Verletzungen?", fragt er besorgt und nimmt mir doch die Entscheidung ab.
"Prellungen und ein verstauchtes Fußgelenk."
"Geht es dir gut? Hast du noch irgendwelche Schmerzen?", fragt er ganz der Mediziner der er ist.
"Nein. Alles gut. Es ist ja auch schon eine Weile her. Ich habe zwar ewig gewartet, weil halb New York an diesem Tag beschlossen hatte sich Gliedmaßen zu brechen oder Finger abzuschneiden. Aber der behandelnde Arzt war sehr nett. Nur die Schwester etwas grummelig. Bei der Hektik die an diesem Tag herrschte aber auch nicht verwunderlich. Ist Montags immer soviel los?"
"Ähm... ja. Nein. Eigentlich ist es egal. Es ist immer viel los. Montag sagst du?"
"Ja. Das weiß ich noch genau. Wieso?", frage ich interessiert.
"Ich arbeite immer Montags. Seit drei Jahren. Jeden Montag habe ich meine 24h Schicht. Das ist erstaunlich. Manche Zufälle sind einfach unglaublich."
"Ich glaube nicht an Zufälle. Aber an das Schicksal", entgegne ich und kurz unterbrechen wir unseren Spaziergang durch die New Yorker Dezembernacht. Die Kälte und den Schnee nehme ich nicht mehr war. Ich sehe in Jeffreys Augen und das aufgeregte Kribbeln setzt schlagartig wieder ein. Wie lange habe ich mich hiernach gesehnt? Wie oft habe ich mich gefragt ob es jemals einen Mann geben wird, der mich so ansieht wie Jeffrey es gerade tut? Viel zu oft und mit jedem Tag der verging wuchs meine Sehnsucht und das Verlangen endlich körperliche Nähe zu empfangen.
"Erst Jakarta, dann das Krankenhaus und der Central Park. Soviele Möglichkeiten", haucht Jeffrey und versiegelt unsere Lippen zu einem innigen Kuss. Mir ist heiß und leicht schwindelig von der Tragweite seiner Worte und den lieblichen Lippen auf meinen. Der Geschmack des Weines ist verflogen. Ich schmecke Kälte, Schnee und Jeffrey pur. Sinnliches Verlangen treibt meinen Körper nah an seinen, unsere Lippen verschmelzen miteinander. Wir bilden eine Symbiose zweier unterschiedlicher Menschen mit einem Ziel. Jeffrey löst den Kuss und mein Blick spricht tausend Bände. Grinsend haucht er einen Kuss auf meine Nasenspitze.
"Erzählst du mir noch von der Geburt?"
"Möchtest du das wirklich hören?", fragt er.
"Aber klar. Ich liebe Kinder. Aber als schwuler Mann ist das Kapitel für mich geschlossen", antworte ich schulterzuckend. Es stimmt, ich wollte immer eigene Kinder haben. Jedoch schob ich diesen Wunsch in die hinterste Ecke und sperrte ihn ein.
"Der Unfall geschah vor etwa drei Wochen. Einen Tag bevor ich dich das erste Mal im Central Park sah. Ich war auf dem Weg zur Arbeit als ich auf das Stauende zufuhr. Ich konnte gerade so ausweichen und einen Zusammenprall verhindern. Als ich aus dem Wagen stieg erkannte ich sofort das volle Ausmaß und informierte den Rettungsdienst. Ich dagegen informierte telefonisch meine Kollegen im Krankenhaus und sah nach den Verletzten. Zwölf Autos. Ich durchsuchte zwölf Wagen und spulte mein erlerntes Wissen für den Katastrophenfall ab. Es war schlimm Len. Tote Menschen, auf der Fahrbahn oder eingeklemmt in ihren Fahrzeugen und Menschen mit leichten bis mittelschweren Verletzungen. Die Einsatzkräfte waren schnell vor Ort. Es war Glück, dass die Rettungwache nur ein paar Blocks entfernt war. Dennoch ist es nie leicht und auch für einen erfahrenen Notfallarzt alles andere als Routine. Jeder Tag birgt neue Herausforderungen und unlösbare Aufgaben. An manchen Tagen gewinnt man und an manchen verliert man. Und so schlimm das Ganze auch war, so sehr vertrieb der erste Schrei des kleinen Jungen die Düsternis."
Schweigend lausche ich seinen Worten und in meinen Augen schimmern erste Tränen. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Momente vergehen und manche bleiben für immer im Gedächtnis. Es regnete und der Himmel war grau und wolkenverhangen. Ich bin mir mehr als sicher, dass wir beide den gleichen Unfall erlebten. Nur stand ich am Rande des Geschehen und habe für das Leben der Menschen gebetet. Auch ich hörte den Schrei des Babys und konnte in dem Moment nichts anderes tun als meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Auf Leben folgt Tod, folgt neues Leben. Daran glaube ich ganz fest.
"Der Fahrer des ersten Wagens hatte einen Herzinfarkt. Er war auf der Stelle tot. Im Wagen dahinter, oder eigentlich stand der Wagen quer mit der Motorhaube unter der Stoßstange eines anderen Fahrzeugs, rief eine junge Frau um Hilfe. Mir blieb fast das Herz stehen als ich sie erkannte. Theresa, eine gute Freundin von Tammy und im neunten Monat schwanger. Sie war auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihr Mann James war tot, dass sah ich sofort. Sie flehte mich an ihr zur helfen und krallte sich so stark in meinem Oberarm fest, dass ich schmerzlich das Gesicht verzog. Sie hatte Wehen und aufgrund ihrer Atmung und den Schreien wusste ich, dass es zu spät für einen Transport war. Ich rief meine Schwester an. Sie informierte die Rettungsleitstelle und diese schickte noch einen speziellen Wagen mit einer Säuglingsnotfallausrüstung. Tara versuchte Theresa über das Telefon zu beruhigen damit ich sie untersuchen konnte. Aber das war schwieriger als man glaubt. Sie hatte große Angst und wusste bereits das ihr Mann tot war. Sie weinte die ganze Zeit und konnte sich nicht mehr auf die Wehen und das pressen konzentrieren. Die Sanitäter reichten mir ein Notfallset. So hatte ich wenigstens sterile Handschuhe und Klemmen, Schere und Tücher. Wir schafften es gemeinsam, Tara, Theresa und ich. Sie hat gekämpft wie eine Löwin und unter so nicht alltäglichen Umständen einen kräftigen und gesunden Jungen zur Welt gebracht. James Jeffrey Carstairs. Mit dunklen Locken und babyblauen Augen."
Wow. Ich bin traurig. Ich bin stolz. Ich bin überwältigt. Ich bin sprachlos. Ich bin verliebt. Wieviel kann ein Mensch ertragen und was verfolgt einen bis in die tiefsten Träume? Schmerz und Leid vermischten sich an diesem Tag mit Freude und Glück. Tod mit Leben. Der Kleine wird seinen Vater nie kennenlernen. Eine schicksalshafte Begegnung und göttliche Fügung. Ja, so kann man es beschreiben. Es war Schicksal, dass Jeffrey in diesem Moment auf dem Weg zur Arbeit war. Eine göttliche Fügung, dass Mutter und Kind dieses Unglück überlebten. Gebannt verfolge ich Jeffreys Erzählung. Der Schnee unter unseren Füßen knirscht bei jedem Schritt den wir gehen, der kalte eisige Wind prescht schmerzlich gegen meine Haut. Die feinen Schneeflocken fühlen sich wie messerscharfe Nadelspitzen auf meiner von der Kälte geröteten Haut an. Auch Jeffrey hat von der Kälte rosige Wangen und unzählige Schneeflocken ruhen in seinen nachtschwarzen Haaren.
"Der Wagen war so eng. Ich hatte kaum Platz und das sperrliche Licht der Innenbeleuchtung reichte nicht aus um genügend zu sehen. Das war nicht mein erstes Baby was ich auf die Welt gebracht habe. Aber noch nie auf dem Rücksitz eines Autos. Die Tatsache das James eingeklemmt auf dem Fahrersitz saß und nicht mehr atmete machte es nicht leichter. Ich werde das nie vergessen. Die Rettungskräfte hatten alle Hände voll zu tun und der kleine James entschied sich, in einer Rekordgeschwindigkeit das Licht der Welt zu erblicken. Ich schwöre dir Len, selten war ich so nervös und musste mir immer wieder selbst Mut zusprechen."
"Aber ihr habt es geschafft. Du hast es geschafft. Und die Mutter wird dir auf ewig dankbar sein", sage ich und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals hinunter.
"Ja. Aber James konnte sein Kind nicht mehr sehen. Und das macht mich traurig. Es geht Theresa gut und sie hat viel Unterstützung. Tammy und auch meine Schwester. Die Nachbarin Mrs Hallow, eine reizende ältere Dame welche es sich zur Aufgabe gemacht hat den Kleinen in den buntesten Farben des Regenbogens einzukleiden und die Nadeln ihrer Nähmaschine regelrecht zum glühen bringt. James musste ein paar Tage im Krankenhaus bleiben weil er eine Gelbsucht entwickelte. Aber jetzt ist alles wieder gut. James Eltern lieben ihren Enkel und nehmen Theresa soviel Arbeit wie möglich ab. Die Beerdigung, die Verarbeitung des Unfalls, der Tod ihres Mannes und die ungewöhnliche Blitzgeburt ihres Sohnes. Das alles muss ihre Psyche nun verarbeiten. Und ich bewundere sie so sehr für ihre Kraft und Lebenswillen. Nicht nur für James. Auch für sie selbst."
Mein Herz schlägt schnell und ich schnappe leicht hektisch nach Luft. Jeffreys Worte berühren mich sehr, ich kann die Tränen nicht länger aufhalten und starre wie gebannt auf seine Lippen. Jedes seiner Worte sauge ich auf, speichere und konserviere sie für die Ewigkeit. Die Emotionen in seiner Mimik wechseln zwischen Freude, Glück und Stolz zu Trauer, Schmerz und Leid. Ich atme geräuschvoll aus, drücke fest seine Hand welche warm und beschützend in meiner liegt. Feucht und kalt läuft die erste Träne über meine Wange und sogleich folgt eine zweite und auch die dritte lässt nicht lange auf sich warten.
"Jeffrey, du bist..."
"Achtung Len", sagt er panisch und zieht leicht an meiner Hand. Zu spät. Nicht genug Kraft und meine durch Tränen verschwommene Sicht nehmen nur wage den metallischen Pfahl direkt vor mir wahr. Schmerzlich ist der dumpfe Aufprall und mir wird augenblicklich schwarz vor Augen. Ich höre mich fluchen und Jeffrey erschrocken und besorgt meinen Namen rufen. Beine weich wie Butter tragen mein Gewicht nicht mehr und ich schwanke, sacke einfach in mich zusammen. Starke Arme fangen mich auf, ich blicke in sturmgetränkte blaue Augen und schmiege meinen Kopf an die beschützende Brust vor mir. Nur kurz die Augen schließen und den Schwindel vertreiben.
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